Die Demonstrationen senden auch ein Signal an Europa
Nicht nur in Deutschland werden die Botschaften, die von der Straße ausgehen, vernommen. Davon können die Kräfte profitieren, die sich für die EU starkmachen.
Hunderttausende Menschen auf den Straßen, um sich für die Demokratie einzusetzen und den Plänen rechtsextremer Kreise entgegenzutreten: Nun, in der vierten Woche dieser Proteste, reibt man sich verwundert die Augen, was da gerade passiert. Auch in anderen Ländern eröffnet das einen ganz neuen Blick auf die Deutschen.
Anfang des Jahres versuchten rechtsextreme Kräfte, die Bauernproteste zu unterwandern, so wie sie längst erfolgreich die AfD unterwandert haben. Nun, ein paar Wochen später, steht das ganze Land wie wachgerüttelt da und zeigt Flagge: Dieses Mal nicht gegen die Ampelpolitik, sondern gegen die zutage getretenen Verstrickungen der AfD ins rechtsradikale Milieu und deren Pläne, Menschen mit Migrationshintergrund des Landes zu verweisen. Zahlreiche Botschaften gehen von den großen Demonstrationen aus. Natürlich zielen sie erst einmal ins Land selbst. Die Mär, die AfD gebe der schweigenden Mitte der Gesellschaft eine Stimme, ist entlarvt. Denn die schweigende Mitte findet sich heute recht lautstark auf den Straßen und Plätzen – um gegen die AfD und Rechtsextreme zu demonstrieren.
Die Mitte äußert sich, sie macht sich für die Demokratie stark und verurteilt das ungeheuerliche Konzept der Remigration. Die vielen Menschen mit Migrationshintergrund im Land, deutschlandweit sind es fast 30 Prozent, können auf den Großdemonstrationen die Botschaft von Zugehörigkeit und Zusammenhalt vernehmen.
Die Großdemonstrationen entfalten ihre Wirkung aber auch jenseits der Landesgrenze. Man sollte dies nicht unterschätzen. Die Medien in den EU-Ländern berichten darüber – mit positiven Folgen. Ein großer Teil der Bevölkerung in Deutschland, dem wirtschaftsstärksten und bevölkerungsreichsten Land der EU, stellt sich demonstrativ hinter die Ideen der Europäischen Union, zeigt den vielen Menschen, die aus anderen EULändern nach Deutschland eingewandert sind, dass sie willkommen sind. Deutschland ist auf diese Arbeitskräfte angewiesen – selbst jetzt, in der Rezession, ist der Fachkräftemangel nicht verschwunden. Schaut man in die nähere Zukunft, wenn weitere geburtenstarke Jahrgänge ins Rentnerleben wechseln werden, verschärft sich dieser ja noch.
Zu wünschen wäre, dass diese Großdemonstrationen in Deutschland bei der anstehenden Europawahl Anfang Juni überall in Europa jenen Parteien Auftrieb geben, die sich für die europäische Idee aussprechen. Denn die paradoxe
Situation bei den Europawahlen ist oft, dass vor allem europakritische Parteien profitieren, wenn die Menschen die Wahl nutzen, Brüssel einen Denkzettel zu verpassen.
Auch jenseits der EU wird über die Proteste in Deutschland berichtet. Das Signal erreicht sogar die USA im Präsidentschaftswahlkampf. Dort schickt sich Donald Trump an, ins Weiße Haus zurückzukehren, also einer, der seine Gefolgsleute nach einer verlorenen Wahl zum Sturm aufs Kapitol verleitete und inzwischen offen mit der Diktatur für einen Tag kokettiert. Das Alarmsignal, das vor dem Verlust der Demokratie warnt, läutet in den USA bereits deutlich lauter als in Deutschland. Kundgebungen wie in Deutschland, getragen von großen gesellschaftlichen Bündnissen, partei-, religions- und herkunftsübergreifend, sind dort längst nicht mehr vorstellbar. In den USA hat man bereits verloren, worauf Deutschland derzeit sehr stolz sein kann. Auch das zeigt den Wert dieser Demonstrationen.
In den USA sind solche Demos kaum noch denkbar.