Die Pflege steuert auf eine Katastrophe zu
Es gibt viele Probleme und es passiert zu wenig, diese zu lösen. Ein Themenabend auf Landkreisebene zeigt das. Hier sind die Details eines sehr ernüchternden Gesamtbilds der Situation.
Donau-Ries Der Pflegenotstand ist längst im Alltag und in der Realität der Menschen angekommen. Und mehr noch als das: Es zeichnet sich eine Katastrophe ab. So das Szenario, das beim Themenabend Pflege zur Sprache kommt, bei dem Fachleute aus ihrer jeweiligen Warte sprechen. Es ist eine „Ist-Aufnahme“, die Gottfried Hänsel vom Ambulanten Pflegeverein Wemding wiedergibt. Eine „Ist-Aufnahme zum Megathema Pflege“, wie auch Bernhard Seidenath hervorhebt. Er ist seit vielen Jahren Vorsitzender des Landtagsausschusses für Gesundheit, Pflege und Prävention. Und: Es ist „eine absolute Zukunftsaufgabe“.
Welche Dimension diese Aufgabe hat, wird beim Themenabend in Wemding mehr als deutlich. Sichtbar und spürbar für den Einzelnen wird das Problem häufig aber erst dann, wenn man persönlich betroffen ist und Unterstützung sucht. Seidenath berichtet beispielsweise von einem Fall, bei dem sage und schreibe 70 Pflegeeinrichtungen angesprochen werden mussten, bis endlich eine dazu bereit war, einen Pflegebedürftigen aufzunehmen. Das Problem ist heute aber nicht die Auslastung: Freie Betten gibt es. Es fehlt das Personal.
Die Katastrophe, die sich aus Sicht der Referenten abzeichnet, hat verschiedene Ursachen: Wir werden immer älter und im Alter steigt die Pflegebedürftigkeit. Wenn es genügend jüngere Menschen gäbe, die die Pflege übernehmen würden, wäre das noch auszugleichen. Doch diese Jungen gibt es nicht.
Zum einen verändert sich also die Altersstruktur in der Gesellschaft drastisch, die Zahl der jungen Menschen sinkt, die der alten steigt. Zum anderen sind die Pflegeberufe noch immer nicht sehr attraktiv. Vermutlich ist die rhetorische Frage von Seidenath recht zutreffend. „Wenn Ihr Kind sagt, es möchte einen Pflegeberuf ergreifen – reagieren Sie dann nicht auch erst mal mit ‚Hast Du Dir das wirklich gut überlegt?‘“
Wenn die Pflege also auf eine Katastrophe zusteuert, wo liegen die Lösungspotenziale? Der Landkreis Donau-Ries unterstützt beispielsweise mit Beratung und Fördermitteln. Neutrale und kostenlose Beratung rund um das Thema
Pflege erhält man bei den Pflegestützpunkten in Donauwörth und Nördlingen. Gefördert wird der Aufbau von Nachbarschaftshilfen, für die es mit den „Helfenden Händen
Mittleres Ries“ein ausgezeichnetes Vorbild gibt. Es gibt Projekte wie die „Gesundheitsregion plus“, eine Mitveranstalterin des Themenabends. Sie fördert die regionale Vernetzung, wie Geschäftsstellenleiterin Julia Lux am Beispiel des Verbundes für die neue Pflegeausbildung aufzeigt.
Die Maßnahmen des Landkreises setzen auf „ambulant vor stationär“. Pflegebedürftige Menschen sollen so lange wie möglich zu Hause bleiben können. Das wollen sie auch. Was braucht es dazu? Barrierefreien Wohnraum – in Eigenheimen noch immer eher die Ausnahme. Unterstützung durch digitale Hilfsmittel und Robotik – es gibt viele interessante Ansätze und Projekte, etwa von der TU München in Garmisch-Partenkirchen. Doch den meisten technischen Hilfsmitteln fehlen heute noch Praxistauglichkeit, Akzeptanz und zahlungsbereite Nutzerinnen und Nutzer. Hilfe durch ambulante Pflege – doch auch hier fehlt das Personal.
Wie kann dem Personalmangel in der Pflege begegnet werden? Anerkennung und Wertschätzung des Berufes ist eine Möglichkeit. Während Corona haben wir geklatscht für die professionell Pflegenden – und danach? Ist die Bezahlung ausreichend?
Schon beim Themenabend werden dazu verschiedene Meinungen sichtbar. Vertrauen wir darauf, dass alle professionell Pflegenden ihr Bestes geben? Eher wohl nicht, denn die überbordende Dokumentation der Pflegeleistungen wird auch damit begründet, dass man sich absichern muss für den Fall, dass jemand wegen eines Pflegefehlers klagt. Reduktion der Dokumentation gegen Vertrauen der Angehörigen? Auch hier gibt es unterschiedliche Meinungen.
Ansätze, die Personalnot zu mindern, werden an diesem Abend viele aufgezeigt. Wann und wie sie wirksam werden, bleibt offen. Der „Boys Day“im Landkreis soll Schüler an das Berufsfeld Pflege heranführen. Die Pflege wurde akademisiert, um sie aufzuwerten. 220 Studienplätze gibt es in Bayern, laut Seidenath sind davon aber nur 120 besetzt. Er berichtete auch von dem Ansatz, durch eine Verstärkung der Gesundheitsförderung in den Pflegediensten und Heimen die hohen Krankheitszahlen bei den Mitarbeiterinnen zu reduzieren. Ist das in der Praxis machbar? Die Anerkennung von Abschlüssen wurde beschleunigt, um mehr ausländische Fachkräfte zu gewinnen. Wie sieht es dann aber mit der Verständigung zwischen Pflegerin und Patientin aus, wenn es eine Sprachbarriere gibt?
Eher ausgeblendet war die besondere Rolle der Frauen. Ob im häuslichen oder im professionellen Bereich: Sie erbringen die Hauptleistung bei der Pflege. Und sie sind es, die den Mangel an Personal am deutlichsten spüren: Denn im hohen Alter sind deutlich mehr Frauen pflegebedürftig als Männer.
Was bleibt nun nach diesem informativen Themenabend? Die Erkenntnis, dass es viele Stellschrauben gibt, aber zu wenig Nachdruck, etwas zu verändern. Und dass jede und jeder einzelne vielleicht Selbstvorsorge an die erste Stelle setzen sollte.
Die Pflege wurde akademisiert, um sie aufzuwerten.