Der Sozialstaat stößt an seine Grenzen
Kaum Wachstum, steigende Kosten – und wenig Reformwillen: Für Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sind die Ampeljahre bisher verlorene Jahre.
Unter Klimaforschern ist der Kipppunkt ein gängiger Begriff. Er beschreibt den Moment, von dem an eine Entwicklung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Einen Kipppunkt der deutlich weniger beachteten Art hat nun eine Studie im Auftrag der Familienunternehmer identifiziert: Wenn sich nichts ändert, wird der Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, schon im Jahr 2030 nicht mehr reformierbar sein und das gesamte Sozialsystem ins Wanken geraten.
Leider verschließen die Ampelparteien vor der Wirklichkeit der wachsenden demografischen Verwerfungen und der weiter steigenden Abgaben noch immer die Augen. Ja, mehr noch: Mit dem um satte zwölf Prozent aufgestockten Bürgergeld und der geplanten Grundsicherung für Kinder bürden sie Steuer- und Beitragszahlern noch neue Lasten auf. Dabei addieren sich die verschiedenen Sozialleistungen schon jetzt auf 1,2 Billionen Euro im Jahr – das sind umgerechnet 30 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung.
In guten Zeiten kann sich eine potente Ökonomie wie die deutsche das vielleicht noch leisten. Ein Land jedoch, das rapide an Wettbewerbsfähigkeit verliert und Wachstumsraten von einem Prozent schon als Erfolg feiert, kommt dem sozialen Kipppunkt immer näher. Defizite achselzuckend mit Beitragserhöhungen auszugleichen, wie es die Ampel bei der Rente, den Krankenkassen und in der Pflege plant, löst keine strukturellen Probleme, sondern schafft nur neue – von der schwindenden Akzeptanz für einen immer teureren, aber immer weniger leistenden Sozialstaat ganz zu schweigen.
Wenn die Beiträge für die Sozialkassen wie teilweise schon prognostiziert bis zum Jahr 2050 von gegenwärtig 40 auf 50 Prozent des Bruttoeinkommens steigen sollten, sind die Folgen ja absehbar: noch mehr Schwarzarbeit, eine zunehmende Auswanderung junger, gut ausgebildeter Menschen und am Ende noch höhere Abgaben.
Den Veränderungsfuror, den die Ampel im Klimaschutz oder beim gesellschaftspolitischen Umbau des Landes zeigt, lässt sie in der Sozialpolitik vermissen. Ihre Aktienrente? Nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die versprochene Reform der unrentablen Riester-Rente? Lässt noch auf sich warten. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die Milliarden an Kosten sparen könnte? Kommt nur mühsam voran. Die Löcher in den Kranken- und Pflegekassen? Stopft Gesundheitsminister Karl Lauterbach nur notdürftig.
Das kann man Realpolitik nennen oder Flucht aus der Verantwortung – für die Sozialpolitik jedenfalls sind die Ampeljahre verlorene Jahre. Dabei gäbe es Stellschrauben genug, an denen sie drehen könnte. Beispiele gefällig? Mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen würde die Kosten dämpfen. Und wenn die Lebenserwartung steigt, muss mit ihr natürlich auch das Rentenalter steigen. Die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren gehört abgeschafft. Die Pflegeversicherung stünde robuster da, würde sie stärker über den Kapitalmarkt finanziert – und was ist eigentlich mit den privilegierten Beamten? Kann der Staat denn nicht wenigstens deren nächste Generation wie Arbeiter und Angestellte auch behandeln? Österreich hat einen ähnlichen Kurswechsel schon vor Jahren erzwungen und sein Rentensystem damit stabilisiert.
Ja, Deutschland ist noch immer ein reiches Land mit einem leistungsfähigen Sozialstaat. Die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit aber sind inzwischen erreicht. Nur wahrhaben will es niemand.
30 Prozent der Wirtschaftsleistung fließen ins Soziale.