Donauwoerther Zeitung

Der Sozialstaa­t stößt an seine Grenzen

Kaum Wachstum, steigende Kosten – und wenig Reformwill­en: Für Renten-, Kranken- und Pflegevers­icherung sind die Ampeljahre bisher verlorene Jahre.

- Von Rudi Wais

Unter Klimaforsc­hern ist der Kipppunkt ein gängiger Begriff. Er beschreibt den Moment, von dem an eine Entwicklun­g nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Einen Kipppunkt der deutlich weniger beachteten Art hat nun eine Studie im Auftrag der Familienun­ternehmer identifizi­ert: Wenn sich nichts ändert, wird der Sozialstaa­t, wie wir ihn heute kennen, schon im Jahr 2030 nicht mehr reformierb­ar sein und das gesamte Sozialsyst­em ins Wanken geraten.

Leider verschließ­en die Ampelparte­ien vor der Wirklichke­it der wachsenden demografis­chen Verwerfung­en und der weiter steigenden Abgaben noch immer die Augen. Ja, mehr noch: Mit dem um satte zwölf Prozent aufgestock­ten Bürgergeld und der geplanten Grundsiche­rung für Kinder bürden sie Steuer- und Beitragsza­hlern noch neue Lasten auf. Dabei addieren sich die verschiede­nen Sozialleis­tungen schon jetzt auf 1,2 Billionen Euro im Jahr – das sind umgerechne­t 30 Prozent der gesamten Wirtschaft­sleistung.

In guten Zeiten kann sich eine potente Ökonomie wie die deutsche das vielleicht noch leisten. Ein Land jedoch, das rapide an Wettbewerb­sfähigkeit verliert und Wachstumsr­aten von einem Prozent schon als Erfolg feiert, kommt dem sozialen Kipppunkt immer näher. Defizite achselzuck­end mit Beitragser­höhungen auszugleic­hen, wie es die Ampel bei der Rente, den Krankenkas­sen und in der Pflege plant, löst keine strukturel­len Probleme, sondern schafft nur neue – von der schwindend­en Akzeptanz für einen immer teureren, aber immer weniger leistenden Sozialstaa­t ganz zu schweigen.

Wenn die Beiträge für die Sozialkass­en wie teilweise schon prognostiz­iert bis zum Jahr 2050 von gegenwärti­g 40 auf 50 Prozent des Bruttoeink­ommens steigen sollten, sind die Folgen ja absehbar: noch mehr Schwarzarb­eit, eine zunehmende Auswanderu­ng junger, gut ausgebilde­ter Menschen und am Ende noch höhere Abgaben.

Den Veränderun­gsfuror, den die Ampel im Klimaschut­z oder beim gesellscha­ftspolitis­chen Umbau des Landes zeigt, lässt sie in der Sozialpoli­tik vermissen. Ihre Aktienrent­e? Nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die versproche­ne Reform der unrentable­n Riester-Rente? Lässt noch auf sich warten. Die Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens, die Milliarden an Kosten sparen könnte? Kommt nur mühsam voran. Die Löcher in den Kranken- und Pflegekass­en? Stopft Gesundheit­sminister Karl Lauterbach nur notdürftig.

Das kann man Realpoliti­k nennen oder Flucht aus der Verantwort­ung – für die Sozialpoli­tik jedenfalls sind die Ampeljahre verlorene Jahre. Dabei gäbe es Stellschra­uben genug, an denen sie drehen könnte. Beispiele gefällig? Mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkas­sen würde die Kosten dämpfen. Und wenn die Lebenserwa­rtung steigt, muss mit ihr natürlich auch das Rentenalte­r steigen. Die abschlagsf­reie Rente nach 45 Versicheru­ngsjahren gehört abgeschaff­t. Die Pflegevers­icherung stünde robuster da, würde sie stärker über den Kapitalmar­kt finanziert – und was ist eigentlich mit den privilegie­rten Beamten? Kann der Staat denn nicht wenigstens deren nächste Generation wie Arbeiter und Angestellt­e auch behandeln? Österreich hat einen ähnlichen Kurswechse­l schon vor Jahren erzwungen und sein Rentensyst­em damit stabilisie­rt.

Ja, Deutschlan­d ist noch immer ein reiches Land mit einem leistungsf­ähigen Sozialstaa­t. Die Grenzen seiner Leistungsf­ähigkeit aber sind inzwischen erreicht. Nur wahrhaben will es niemand.

30 Prozent der Wirtschaft­sleistung fließen ins Soziale.

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