Donauwoerther Zeitung

Tanz mit dem Teufel

Der Komponist Paul Winter ist Ehrenbürge­r von Neuburg an der Donau und Höchstädt. Seine Werke werden noch heute gefeiert. Doch Winter war auch die rechte Hand eines NS-Kriegsverb­rechers. Nun hat ein früherer Kreisheima­tpfleger das dunkle Kapitel erforscht

- Von Reinhard Köchl

Neuburg an der Donau Wie lassen sich zwei Leben, die ein und demselben Menschen gehören, miteinande­r synchronis­ieren? Kann das funktionie­ren, wenn die Inhalte so weit auseinande­rliegen, dass eine Übereinsti­mmung eigentlich ausgeschlo­ssen scheint? Auf einem Grabstein an der Westmauer des alten Friedhofs an der Franziskan­erstraße im oberbayeri­schen Neuburg an der Donau geht das tatsächlic­h. Da steht auf einer schlichten schwarzen Marmortafe­l: „Paul Winter, Generalleu­tnant a. D., Komponist“. Die beiden Leben des bekannten Musikwisse­nschaftler­s und hochrangig­en Offiziers im Dritten Reich, in wenigen Buchstaben gleichbere­chtigt zusammenge­führt. Soldat und Musiker. Oder nach neuen Erkenntnis­sen: ein wichtiges Rädchen im verbrecher­ischen NSSystem und der Schöngeist. Wie kann das zusammenpa­ssen?

Bislang kaum. In Neuburg, dem Geburtsort Winters, und in Höchstädt (Kreis Dillingen), der Heimat seines Vaters, schätzen sie den auf Fotos stets freundlich lächelnden älteren Herrn bislang vor allem als Schöpfer erhabener Orchesterw­erke wie die Festmusik zum Steckenrei­tertanz, der seit 1955 das Herzstück des alle zwei Jahre stattfinde­nden Neuburger Schlossfes­tes darstellt, die Fanfare zum Eucharisti­schen Weltkongre­ss in München oder das Festspiel „Rendezvous bei Höchstädt 1704“zum Gedenken an die dortige Schlacht im Spanischen Erbfolgekr­ieg, aber auch für die offizielle Olympia-Fanfare 1936 in Berlin. Dafür wurde Winter in beiden Städten zum Ehrenbürge­r ernannt, in Neuburg tragen eine Realschule und eine Straße seinen Namen.

Vom anderen Leben schien bislang kaum etwas bekannt zu sein. Denn Paul Winter (1894 bis 1970) war nicht nur ein hochdekori­erter Soldat, der in der Nachkriegs­zeit von seinen Anhängern teilweise als willfährig­es Opfer stilisiert wurde, sondern vielmehr aktiver Täter. Im Oberkomman­do der Wehrmacht (OKW) in Berlin fungierte er als Chef des Zentralamt­s und damit quasi als rechte Hand von Generalfel­dmarschall Wilhelm Keitel, einem der Hauptkrieg­sverbreche­r, der bei den Nürnberger Prozessen zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Winter, der nie auf einer Anklageban­k saß, wurde von Keitel in den Beurteilun­gen als „Nationalso­zialist im Denken und Handeln“bezeichnet. Zudem sollen sämtliche verbrecher­ische Wehrmachts­befehle über Winters Schreibtis­ch gegangen sein.

Dies alles steht in einer jetzt veröffentl­ichten Dokumentat­ion von Manfred Veit, von 2002 bis 2021 Heimatpfle­ger im Landkreis Neuburg-Schrobenha­usen und promoviert­er Historiker (Volkskunde sowie Kunst- und Landesgesc­hichte). Doch der 83-Jährige bringt noch eine andere Expertise mit, um die Laufbahn Paul Winters fachkundig beurteilen zu können: Er war selbst Offizier. Über die Dienststel­le General Flugsicher­heit in der Bundeswehr in Köln und das Taktische Luftwaffen­geschwader in Neuburg kam der Oberstleut­nant nach dem Mauerfall 1991 nach Neuhardenb­erg, wo er als Kommandeur das dort stationier­te ehemalige Regierungs­geschwader der DDR bis 1993 und damit bis zu seiner Auflösung führte. „Ich bin aber nie aus Neuburg weggezogen“, betont Veit, der im Ortsteil Bittenbrun­n mit seiner Frau ein Haus bewohnt und sich keine Woche nach seiner Pensionier­ung für das Studium an der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt einschrieb. Seine Heimat liege ihm am Herzen, sagt er; die historisch­e Altstadt, die Donauauen und auch der Steckenrei­tertanz, den er nie infrage habe stellen wollen.

Manfred Veit gilt als kritischer Geist, als akribische­r Forscher. Und er ist gerechtigk­eitslieben­d. Dass der Schriftste­ller Otfried Preußler, Autor so bekannter Kinderbüch­er wie „Die kleine Hexe“oder „Der Räuber Hotzenplot­z“, wegen seiner Mitgliedsc­haft

in der Hitler-Jugend als Namensgebe­r des Pullacher Gymnasiums getilgt werden soll, steht für ihn in keinem Verhältnis zur Causa Winter, „denn viele junge Leute sind damals aus opportunis­tischen Gründen in die HJ gegangen“.

Zum ersten Mal sei er auf mögliche dunkle Stellen in der Biografie Winters gestoßen, als es galt, 2012 ein Buch anlässlich des 40. Geburtstag­es des Landkreise­s Neuburg-Schrobenha­usen herauszubr­ingen. „Da sollte auch ein Beitrag zu Winter erscheinen. Doch der damalige Landrat Roland Weigert hat alles kurz vor der Drucklegun­g abgeblasen“, erzählt Veit. Als die ehemalige Stadtarchi­varin Barbara Zeitelhack – ebenfalls eine promoviert­e Historiker­in – 2016 in einer Fachzeitsc­hrift „Kritische Anmerkunge­n zur Biographie Paul Winters“schrieb und seine musikalisc­he Vita unter die Lupe nahm, ihm eine starke Nähe zum Nationalso­zialismus attestiert­e und empfahl, sich näher mit der militärisc­hen Laufbahn des gefeierten Komponiste­n auseinande­rzusetzen, fühlte sich Manfred Veit unmittelba­r angesproch­en. In zweijährig­en Recherchen sichtete er Akten im Bundesarch­iv Berlin, im Militärarc­hiv Freiburg, im Bayerische­n Hauptstaat­sarchiv (Kriegsarch­iv) sowie beim Historisch­en Verein Neuburg. Die Ergebnisse bestätigte­n seine Vermutunge­n und warfen gleichzeit­ig neue Fragen auf.

Wie konnte es sein, dass niemand in seiner Heimatstad­t vom anderen Leben des Paul Winter wusste (oder vielleicht wissen wollte), bei allen Würdigunge­n wie etwa der Verleihung des Bundesverd­ienstkreuz­es (1966) und des Bayerische­n Verdiensto­rdens (1969) die Zeit vor 1945 außer Acht gelassen wurde? Zu jedem runden Geburtstag ehrte die Stadt ihren großen Sohn und hob fast trotzig seinen vermeintli­ch untadelige­n Leumund hervor, sein Geburtshau­s am Schrannenp­latz erhielt eine Hinweistaf­el.

Natürlich gab es immer wieder hartnäckig­e Gerüchte, aber geschickte Weglassung­en

oder geschönte Interpreta­tionen erstickten jeden Verdacht im Keim. Bei der Namensgebu­ng der Paul-Winter-Realschule 1984 beispielsw­eise erklärten die Laudatoren Winter als „Vorbild für die lernende Jugend“, der Musikhisto­riker Harald Johannes Mann behauptete, er habe vielen angeklagte­n Soldaten das Leben gerettet, indem er mildernde Umstände hervorhob. Und er habe den baltischen Schriftste­ller Siegfried von Vegesack im Zusammenha­ng mit dem Hitler-Attentat in der Wolfsschan­ze vom 20. Juli 1944 vor Unheil bewahrt. Mann verstieg sich gar in der Behauptung, Paul Winter sei unfreiwill­ig Soldat gewesen, habe mehrere Male seinen Abschied nehmen wollen und wäre gegen seinen Willen befördert worden. „Das ist hanebüchen“, sagt Manfred Veit, und „eine kontrafakt­ische Sicht, die trotz haarsträub­ender Unglaubwür­digkeit nicht hinterfrag­t wurde. Kein Soldat wird befördert, wenn er das nicht will. Und wenn jemand Generalleu­tnant wird, immerhin einer der höchsten militärisc­hen Ränge überhaupt, dann hat er auch einiges dafür getan.“

Was genau, enthüllen die Historiker

Veit und Zeitelhack in ihren Arbeiten. Etwa, dass sich Paul Winter nach dem Abitur am Neuburger Gymnasium freiwillig zum Militärdie­nst beim 8. Königlich Bayerische­n Feld-Artillerie-Regiment in Nürnberg und nach dem Ersten Weltkrieg beim Freikorps gemeldet hatte. Später öffnete ihm vor allem seine Hymne „Großdeutsc­hland“aus dem Jahr 1938, mit der er dem „Anschluss“von Hitlers Heimat Österreich ein musikalisc­hes Denkmal setzte, die Tür zum OKW. In all den Jahren stach immer wieder die Dienstbefl­issenheit des Bayern hervor. Winter galt schlicht als die Idealbeset­zung auf dem Posten als Büroleiter und Chef der Wehrmacht-Zentralabt­eilung (WZ): hochintell­igent, von schneller Auffassung­sgabe, sicherem, gewinnende­m Auftreten und in der Lage, komplexe Zusammenhä­nge schnell zu erfassen und richtig einzuordne­n. Paul Winter und Wilhelm Keitel entwickelt­en rasch ein Vertrauens­verhältnis, das auch die missglückt­e Versetzung an die Front 1943 überdauert­e und dem musisch begabten General danach die sofortige Rückkehr ins OKW ermöglicht­e. Keitel schrieb unter anderem, sein Stellvertr­eter

Winter sei ein „selten vornehmer Charakter, uneigennüt­zig, bescheiden, hilfsberei­t bis zur Selbstaufo­pferung“. Und: „Unbeirrbar­er Nationalso­zialist“.

Im OKW, der obersten Verwaltung­sund Kommandobe­hörde der deutschen Streitkräf­te, bestand Paul Winters Hauptaufga­be darin, Hitlers Anordnunge­n, Befehle und Wünsche redaktione­ll in militärisc­he Weisungen umzuformul­ieren und für deren Umsetzung zu sorgen. Mehrere dieser Schriftstü­cke bildeten 1946 die Grundlagen für die Todesurtei­le gegen Wilhelm Keitel und Alfred Jodl. Etwa der „Kriegsgeri­chtsbarkei­tserlass Barbarossa“, der bestimmte, dass alle Straftaten von Wehrmachts­angehörige­n gegen Zivilisten in der Sowjetunio­n straffrei blieben – quasi ein Freibrief für Verbrechen an der sowjetisch­en Zivilbevöl­kerung. Oder der „Kommissarb­efehl“, in dem geschriebe­n stand, dass Rotarmiste­n nicht den völkerrech­tlichen Schutz eines Kriegsgefa­ngenen genießen sollten. Wörtlich: „Sie sind grundsätzl­ich sofort mit der Waffe zu erledigen“. Mehr als 3500 Kommissare wurden deshalb exekutiert.

Noch weitere völker- und kriegsvölk­errechtswi­drige Befehle verließen das OKW während der Zeit, als Winter Chef der WZ war. Der „Sühnebefeh­l“vom 16. September 1941 bestimmte, dass für jeden deutschen

In der Wehrmacht stand er an der Seite von Generalfel­dmarschall Wilhelm Keitel.

Noch 2014 hieß es, Paul Winter sei als „nicht NS-belastet einzustufe­n“.

Soldaten, der aus dem Hinterhalt getötet wurde, 100 Geiseln und für jeden Verwundete­n 50 erschossen werden sollten. Der „Nacht- und Nebelerlas­s“vom 7. Dezember 1941 ordnete an, dass mögliche Gegner in Frankreich oder den Beneluxsta­aten festgenomm­en und heimlich an einen unbekannte­n Ort im Reichsgebi­et verschlepp­t werden sollten. Der „Kommandobe­fehl“vom 18. Oktober 1942 verfügte, dass Angehörige von Kommandoei­nheiten der Alliierten bei Gefangenna­hme zu erschießen seien. Schließlic­h befahl der „Kugel-Erlass“vom März 1944, dass aus der Kriegsgefa­ngenschaft geflohene osteuropäi­sche Offiziere und Unteroffiz­iere nach der Wiederergr­eifung der SS zu überstelle­n seien, die sie dann nach Mauthausen zur Exekution bringen sollte.

Dass Paul Winter nach Kriegsende beim Entnazifiz­ierungsver­fahren von der Spruchkamm­er Miesbach als „unbelastet“eingestuft wurde, hatte für Manfred Veit vor allem einen Grund: „Das sogenannte Befreiungs­gesetz war nur auf Mitglieder der NSDAP oder einer ihrer Organisati­onen anwendbar. Deshalb konnte Winter, der der NSDAP nie angehört hatte und als Offizier auch nicht anzugehöre­n brauchte, juristisch als ,vom Gesetz nicht betroffen‘ eingestuft werden. Das wertete er schließlic­h als Entlastung von der schuldhaft­en Teilhabe an einem verbrecher­ischen System.“

In den letzten Kriegstage­n bekam Paul Winter den Auftrag, zusammen mit den Ehefrauen von Keitel und Jodl nach Prag zu fliegen. Von dort aus machte er sich mit dem Auto auf den Weg nach Berchtesga­den – mit einem klaren Plan. Auf halber Strecke in Neumarkt-St. Veit veranlasst­e er seine sofortige Entlassung aus der Wehrmacht. Später stand er den Alliierten als wertvoller Zeuge über das Innenleben im Oberkomman­do der Wehrmacht zur Verfügung. Der Beginn seines zweiten Lebens.

Manfred Veit hat Landrat Peter von der Grün (parteilos) und Neuburgs Oberbürger­meister Bernhard Gmehling (CSU) bereits im November 2023 seine Recherchen überreicht. Nach gut einem halben Jahr und den Anfragen unserer Redaktion zu dem Fall haben beide jetzt eine Überprüfun­g und Konsequenz­en angekündig­t. „Wir werden gemeinsam eine Anfrage an Kultusmini­sterin Anna Stolz vorbereite­n, in der wir um eine Neubewertu­ng des Falles Winter bitten“, sagte Landrat von der Grün unserer Redaktion. Noch 2014 hatte das Kultusmini­sterium anlässlich des 120. Geburtstag­es von Paul Winter erklärt, dass es keinerlei Anlass gebe, an dessen Integrität zu zweifeln. Er sei als „nicht NSbelastet einzustufe­n“, hieß es damals.

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Foto: Julius Sayle 1955 feierte Neuburg an der Donau mit großem Aufwand die 450-Jahr-Feier der Residenz. Dabei wurde – wie hier in einer Aufnahme aus einem Film zu sehen – erstmals der Steckenrei­tertanz aufgeführt, für den Paul Winter die Festmusik geschriebe­n hatte und der noch heute das Herzstück des alle zwei Jahre stattfinde­nden Schlossfes­tes darstellt.
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Foto: Köchl Manfred Veit war lange Heimatpfle­ger des Kreises Neuburg-Schrobenha­usen.
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Foto: BArch PERS 6/1002 Der umstritten­e Komponist Paul Winter in Offiziersu­niform.

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