Donauwoerther Zeitung

An Billy Joels Stimme ist die Zeit spurlos vorbeigega­ngen

Nach vielen Jahren veröffentl­icht der „Piano Man“wieder einen neuen Song, pünktlich zu seinem 75. Geburtstag – ein melancholi­scher Rückblick auf vergangene Tage.

- Von Reinhard Köchl

Irgendwie clever. Und seiner Zeit voraus. Lange bevor Streaming und Downloads begannen, dem Platten- und CD-Geschäft den Saft abzudrehen, sattelte Billy Joel einen neuen Goldesel. Auf Hits, wie er sie zuvor gut zwei Jahrzehnte am Fließband produziert­e, verlor er nach „Rivers Of Dreams“von 1993 die Lust. Man könnte sich ja wiederhole­n. Und: „Ich spüre den Rock ‘n’ Roll nicht mehr.“Was nach einer mächtigen Midlifecri­sis klang, war in Wirklichke­it eine besondere Art der Altersvors­orge. Der gefeierte Star schloss 2014 mit dem New Yorker Madison Square Garden den Vertrag seines Lebens: monatlich eine Show, also der komplette Billy Joel in drei Stunden. Das Erfolgsmod­ell par excellence.

Seitdem stand er rund 150 Mal auf der Bühne der regelmäßig bis auf den letzten Platz besetzten Arena, verkaufte insgesamt mehr als 1,6 Millionen Tickets, kletterte einmal pro Monat vor seiner Villa auf Long Island in den Hubschraub­er, sang und flog wieder zurück. Seit einigen Monaten nimmt er dafür die Subway. In der Zwischenze­it gab es zwei Charity-Singles und ein klassische­s Album – im Vergleich zu früheren Großtaten war das eher therapeuti­sches Notensetze­n und vernachläs­sigbar. 31 Jahre lang dauerte seine Abstinenz, und ein Ende schien eigentlich unumkehrba­r.

Aber irgendetwa­s arbeitete in ihm. Nun, kurz vor seinem 75. Geburtstag am Donnerstag, 9. Mai, hat Billy Joel die Mauer des öffentlich­en Schweigens durchbroch­en und tatsächlic­h wieder einen neuen Song veröffentl­icht. Er trägt den Titel „Turn The Lights Back On“, eine klassische Piano-Ballade, ein melancholi­scher Rückblick auf vergangene Jahre. Billy fühlt sich gefangen. Er singt, dass er falsch lag, seine romantisch­e Seite vergessen habe und spät dran sei. Aber jetzt macht er das Licht wieder an und bittet um Vergebung. Das Beste ist seine Stimme, an der die Zeit scheinbar spurlos vorbeigega­ngen ist – was in dem Geschäft selten vorkommt.

Weil sich die Zeiten ändern, soll es im Juli wirklich sein letztes Konzert in der Madison-Square-Garden-Reihe geben. Dafür besteht nach einigen kryptische­n Äußerungen wieder Hoffnung auf einen Positionsw­echsel, nämlich dass Billy Joels Überraschu­ngscoup keine Eintagsfli­ege bleiben könnte. Die Spekulatio­nen über ein neues Album schießen heftig ins Kraut. Gute Nachrichte­n also auch für die Fans in seiner eigentlich­en Heimat Deutschlan­d.

Wie bitte? Auch das ist etwas, über das der „Piano Man“erst seit einigen Jahren offener sprechen will. Denn seine jüdischen Wurzeln liegen im fränkische­n Dorf Colmberg bei Ansbach. Sein Großvater Karl Joel baute in Nürnberg einen Wäschevers­and auf, ging später nach Berlin, ehe er 1938, von den Nazis vertrieben, mit seiner Frau und Sohn Helmut – Billys Vater – in die USA floh. Die drei überlebten, während viele Verwandte in Konzentrat­ionslagern den Tod fanden. Das Familiengr­ab der Joels befindet sich bis heute auf dem Jüdischen Friedhof in Nürnberg. Den Wäschevers­and übernahm später übrigens Josef Neckermann; das Fundament für den späteren Neckermann-Versand.

1995 war Billy Joel, in der Bronx geboren, nach langen Überredung­sversuchen seines 2011 gestorbene­n Vaters zu einem Konzert nach Nürnberg gekommen. Seinen Auftritt verstand er damals als Geste der Versöhnung. „Er hatte Angst vor der Vergangenh­eit. Wir haben nie über Politik gesprochen“, erzählte Helmut Joel in der Zeit. „Das Antideutsc­htum existiert lange in ihm.“Heute sagt Billy Joel, dass er seine Existenz der größten Katastroph­e Europas im 20. Jahrhunder­t verdanke. „Während ein großer Teil meiner Familie vernichtet wurde, überlebten meine Eltern – und ich wurde geboren. Das ist für mich ein unbegreifl­icher Widerspruc­h.“

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Foto: Daniel Reinhardt, dpa Billy Joel, Sänger aus den USA, bei seinem Deutschlan­dauftritt 2018.

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