Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (31)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Das sei überhaupt kein Problem, wurde gesagt, da müsse man sich keine Sorgen machen, Stana sei eine begabte und fleißige Schülerin, wurde gesagt, sie sei keinesfalls, und man betone das ausdrücklich, keinesfalls gefährdet sitzenzubleiben.
Stana stand nie in der Ecke, Stana musste nie die Hände ausstrecken für Prügel mit dem Lineal. Aber weil es eine bestimmte Anzahl Schläge, eine festgesetzte Anzahl Ecken gab, mussten all die
Ecken und Schläge, die für Stana ausblieben, anderweitig vergeben werden, was nicht dazu führte, dass sie sich ihre Freunde aussuchen konnte. Wenn sie darüber nachdachte, gab es nur Florentine und den Pfarrer, die keine Angst vor ihrem Vater hatten – und Samuel.
„Sie gestehen alle“, hatte Konstanty einmal gesagt. „Jeder hat etwas zu gestehen. Jeder will schuldig sein.“Und wenn sie es am Beginn eines Verhörs nicht einsahen, hatte er, daraus machte er keinen Hehl, seine Methoden, um dafür zu sorgen, dass sie zuletzt mit dem Gefühl von Schuld entlassen wurden – ins Gefängnis oder in das, was, auch unter diesen Umständen, Freiheit genannt wurde.
Es gab eine Logik jenseits der Argumente. Es gab eine Logik der Nacht. Eine Logik der Verlassenheit. Eine Logik der Schläge. Gezielte Schläge gegen die Nieren konnten einiges bewirken.
„Den Pfarrer lässt du in Ruhe“, hatte Malva an jenem Sonntag nach der Jeremia-Predigt gesagt. „Wenn du den Pfarrer kassierst, bin ich weg. Sie ist die Einzige, die ich noch habe.“
Samuels Großmutter nannte Stana bei ihrem Spitznamen.
„Ich lasse das ,t‘ weg“, hatte Samuel eines Tages gesagt.
Stana gab es fortan nur noch für die anderen. Für ihn war sie Sana. Weil Sana Träumerin hieß und im Arabischen „der blaue Himmel“, was ihm noch besser gefiel.
Samuel ging mit Worten um, als würden sie sich durch übermäßiges Aussprechen abnützen. Neue Wörter behandelte er wie einen Fund, eine Entdeckung, die nur ihm gehörte. Manchmal schenkte er ihr ein Wort, etwa „Imponderabilien“, was Unwägbarkeiten waren, oder wies sie auf besonders schöne hin: „greoaie“, auf Rumänisch „unhandlich“, ein Adjektiv, das nichts Besonderes anzeigte, dafür aber fünf Vokale brauchte – oder „oaia“, das Schaf, das ganz ohne Konsonanten auskam.
Stana war unter diesem Namen eine andere geworden. Das, worauf er referierte, was er umfasste, wurde sacht abgefälscht; kaum mehr als eine Ungenauigkeit und doch aufregend unbekannt. Es berührte etwas, das noch ungenutzt war, und gab ihr das Gefühl, sich neu erfinden zu dürfen. Etwas Weiches, Großzügiges, aber auch eine neue Verletzlichkeit wurde offenbar, als würde etwas fehlen, als hätte er nicht nur einen einzigen, aufstrebenden Buchstaben für sich behalten.
„Sana“, sagte Samuels Großmutter zur Begrüßung, musterte sie mit der ihr eigenen Strenge, die etwas Vornehmes hatte, fragte, ob sie genug esse, und Stana fühlte sich augenblicklich noch schlaksiger als sonst. Alles an Karline war wie aus einer anderen Zeit. Ihre hochgesteckten Haare, ihre Handtasche, die sie in der Armbeuge trug. Die Art, wie sie sich zum Mittagsschlaf hinlegte, ausgestreckt auf dem Diwan, mit einem Tuch über den Augen. Sie hatte ihre genauen Vorstellungen. Wie man lag, wie man sprach, wie man aß, wie der Haushalt zu führen sei. Sie klopfte die Teppiche im Pfarrhaus, dass es nur so staubte, köpfte Hühner und beobachtete ungerührt, wie sie noch einige Zeit orientierungslos über den Hof liefen. Sie kochte Suppen, bei denen Fettaugen obenauf schwammen, glasklar abgeseiht, wie sie sonst niemand zu kochen imstande war – was sie nicht für sich behielt.
Sie sagte mit einem Seitenblick auf ihre Schwiegertochter: „Dass hier niemand eine einheimische Suppe zu kochen imstande ist.“
„Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch?“, fragte Florentine.
Dass es Samuel und Stana erlaubt war, auf der Straße zu essen (Brot, Käse, Tomaten aus dem Garten, sonnenwarm auf die Hand), war für Karline der Niedergang
von Moral und Manieren. Selbst als sie nur ein Zimmer hatten, Küche und Bad mit anderen Familien teilten, war sie imstande gewesen, sich zu organisieren.
Karline glaubte an die Wahrung der Form. Aber sie hielt sich mit ihrer Kritik zurück, um den Frieden nicht zu riskieren, der zwischen ihr und Florentine immer einer war, der verhandelt, bekräftigt werden musste. Es war schon vorgekommen, dass Florentine Samuel und sie angewiesen hatte, Sand über den zuvor geklopften Teppich zu streuen, als Karline abgereist war. Der Pfarrer hatte nicht gewagt, seiner Frau zu widersprechen oder den Kehrbesen zu holen, und bis zum nächsten Schnee hatte Sand im Wohnzimmer gelegen, ein helles Muster, das sich mit jedem Schritt in den Teppich einarbeitete. Am Abend von Karlines Ankunft waren sie zu einem Fest eingeladen. Die Pfarrfamilie, Stanas Familie, das halbe Dorf.
Ein Schwein war geschlachtet worden.