Die vielen Gesichter der Fotografie
Elf zeitgenössische fotografische Positionen im Dresdner Rathaus
Ein fotografisches Porträt ist immer das Porträt von mindestens zwei Menschen in ihrer Zeit: Die Reaktion des Fotografen auf die Person vor der Kamera und die Reaktion der Person auf diesen Prozess. So beschreibt der deutsche Fotograf Wolfgang Tillmans den dualen Charakter von Porträtfotografie, der sich derzeit auch eine Ausstellung in der Galerie 2. Stock im Dresdner Rathaus widmet. Gezeigt werden fotografische Arbeiten von elf zeitgenössischen Dresdner Künstlerinnen, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen fotografischer Menschendarstellung auseinandersetzen.
Die Ausstellung beschließt die Reihe „Gesichter in der Stadt“des Vereins Freie Akademie Kunst+bau. Nach Grafik und Malerei in den beiden vorangegangenen Expositionen sind nun ausschließlich Fotografien zu sehen, sowohl analoge als auch digitale Bilder. Obwohl mehrheitlich schwarz-weiß, vermitteln sie ein buntes Bild einer Stadt und unserer Gesellschaft insgesamt. Schließlich sind die beteiligten Künstler unterschiedlicher Generationen und Prägungen, die unterschiedliche Ausdrucks- und Stilmittel verwenden, um Menschen unterschiedlichen Alters, Berufs, Geschlechts und Hintergrunds zu zeigen.
Mythos der unbestechlichen Wiedergabe
Porträts werden bis heute als Mittel der Identitätsfeststellung mit Vertretungsanspruch genutzt. Gleichwohl ist ein Porträt stets verbunden mit bestimmten Interessen und Interpretationen, auf Seiten des Modells wie auch des Schöpfers. Dieses Spannungsverhältnis von Realität, Fiktion und Ab-bild entfaltet sich beim fotografischen Porträt in pointierter Form: Schließlich trägt eine Fotografie als Licht-abdruck den Mythos der unbestechlichen Wiedergabe der Welt und des Gegenübers immer mit sich, obwohl wir uns ihrer Gemachtheit und Manipulierbarkeit bewusst sein sollten.
Dies gilt erst recht im Zeitalter digitaler (Selfie-)bilder, in dem die neuen technischen und medialen Möglichkeiten die Vorstellung davon, was ein Porträt ist, tiefgreifend verändern. Daher ist „Gesichter in der Stadt“nicht nur als Einblick in das fotografische Schaffen der elf Beteiligten zu verstehen, sondern regt zum Nachdenken über das Medium Fotografie und den Porträtbegriff an.
Das Porträt ist bis heute eine der wesentlichsten künstlerischen Aufgaben. Ein konstantes Motiv aller Porträtdarstellung ist der Memorialaspekt, also der Wunsch nach dauerhafter Fixierung der Gegenwart einer Person. Dem Memorialgedanken können wir uns nicht entziehen bei Porträts inzwischen Verstorbener, wie Günter Starkes Halbfigurenbildnis des kürzlich verstorbenen A. R. Penck in der Ausstellung. Daneben zeigt Starke unter anderem das Doppelporträt eines Geschwisterpaars: zwei konträre Persönlichkeiten, die zugleich tief verbunden sind.
Christine Starke präsentiert Arbeiten aus der Serie „Generationen“, in der sie in Gruppenporträts den familiären Bindungen und damit der Verortung des Einzelnen nachgeht. Wir sehen einen jungen Vater mit Baby auf dem Arm, Eltern mit ihren heranwachsenden oder selbst schon erwachsenen Kindern. Anders als bei Familienbildern, die wir aus der älteren Malerei kennen, verzichtet die Fotografin auf die Repräsentation des sozialen Status und konzentriert sich allein auf die Menschen in ihren Beziehungen zueinander.
Damit ist das Thema der Lebensalter im Porträt aufgerufen, dem sich auch Gabriele Seitz widmet. Von ihr sind Altersporträts der Religionspädagogin Magdalena Kupfer (2002) und der Tanzpädagogin Charlotte Loßnitzer (2014) ausgestellt, aus denen zugleich Wissen und Gelassenheit sprechen. Daneben präsentiert Seitz zwei Bildnisse kleiner Mädchen mit leuchtenden Augen, deren Titel „Asyl I“und „-II“auf das bürokratische Verfahren verweisen, das sie durchlaufen und das dem individuellen Menschenschicksal kaum gerecht zu werden vermag.
Illusion: Wandel im Bild festhalten
Dass der verbreitete Wunsch, eine ständig im Wandel begriffene Person in ihrer Augenblicklichkeit im Bild festzuhalten, eine Illusion bleiben muss, führt mit ganz anderen Mitteln Michael Melerski in drei „Caput“(lat. Kopf) bezeichneten digitalen Bildnissen junger Frauen aus der gleichnamigen Serie von 2012 vor. Durch Überblendung zeigen sie jeweils mehrere Ansichten eines Kopfes, der auf diese Weise wie in Bewegung begriffen erscheint und die Zeitlichkeit von fotografischer Aufnahme und dargestelltem Subjekt zugleich untergräbt und unterstreicht.
Die alte Vorstellung, dass Identität im und durch das Abbild äußerer Züge gestiftet werde, hat bis heute überdauert, wurde aber längst durch andere Parameter, wie das Soziale, erweitert. So beziehen sich gleich mehrere Künstler der Ausstellung auf den Wegbereiter der modernen Fotografie mit sozialer Positionierung August Sander und sein Projekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“. In einem Aktualisierungsversuch zeigt Martin Hertrampf 15 Porträts von „Menschen im 21. Jahrhundert“, die vom Kind über Hausfrau, Bauer, Schmied bis zum Dichter und Künstler reichen. Hertrampf stellt sich der Frage, wie aus diesem Stück visueller Erinnerungsschreibung ein Zeitbild generiert werden kann.
Die acht Fotografien von Karen Weinert und Thomas Bachler aus der unabgeschlossenen Reihe „Menschen des 21. Jahrhunderts“, darunter eine ganz neue Arbeit, gehen ebenfalls von Sanders Monumentalwerk aus. Allerdings offenbaren bereits die Titel, wie „Berufsdemonstrantin“, „Plagiator_in“und „Totalaussteiger“, dass es hier jenseits von Berufen vor allem um das Verhältnis von menschlichem Handeln und der Identifikation damit geht.
Luc Saalfeld ist mit fünf Fotografien vertreten. Darunter sind Identifikationsbilder, die die Porträtierten mit ihrer Passion und den für sie bestimmenden Tätigkeiten zeigen, um sie in mehrfacher Hinsicht „treffend“darzustellen. So wird der Kunstsammler Egidio Marzona (2010) umgeben von Büchern beim aufmerksamen Studieren von Exponaten aus seiner Sammlung gezeigt. Der Porträtierte scheint den Foto- grafen überhaupt nicht zu bemerken, so vertieft ist er. Sein Werk – die Sammlung – steht für die Person des Porträtierten.
Folker Fuchs wiederum spielt in ausgeklügelten, von geometrischen Formen dominierten Kompositionen mit den Topoi von Berufsdarstellungen, etwa wenn die „Anwältin“mit himmelndem Blick halb im Licht, halb im Schatten steht oder sich der „Künstler“im Atelier ein großes Bild vors Gesicht hält, so dass Antlitz und Persona des Künstlers hinter dem Werk verschwinden bzw. miteinander verschmelzen.
Auch (Selbst-)inszenierung klingt an
Das Thema der (Selbst-)inszenierung, das hier bereits anklingt, ist für die Arbeiten der folgenden Künstler auf unterschiedliche Weise bestimmend: Frank Höhler präsentiert zehn Bilder aus der farbfotografischen Serie „Mediclowns“von 2008/09. Darin werden die Modelle jeweils einmal in Alltagskleidung, einmal als Clowns verkleidet gezeigt, was zum einen auf die Rollen verweist, die wir alle spielen, zum anderen auf die Unmöglichkeit, eine Person im fotografischen Bild adäquat abzubilden.
Robert Vanis stellt zwei Werke aus, darunter „Feierabend“von 2014, eine bislang unveröffentlichte Arbeit. In seinem Gebrauch von Kleidung, Kulisse, Spiegelung und Überblendung scheinen sich die Darstellungsebenen hier zu einer unent- scheidbaren Mischung aus Setfoto, Filmstill, Persiflage oder Traumsequenz zu verbinden.
Mit anderer Intention treibt Sarah Seefried die Inszenierung auf die Spitze: Ihre fünf großformatigen Bilder aus der „Entitäten“betitelten Reihe bringen rätselhafte, der Kunstgeschichte verpflichtete Darstellungstypen in Überschärfe mit der Traditionslinie inszenierter Fotografie zusammen. Bereits die zweiteiligen Titel, wie „Apoll oder die Schlachtung des mutwilligen Rezensenten“, verweisen auf die intendierte Mehrdeutigkeit jenseits klassischer Porträts.
Das fotografische Abbild in seinen höchst unterschiedlichen Formen kann der Komplexität einer Person nicht gerecht werden, und das muss es auch nicht. Das Porträtbild steht für sich und wird doch, zumal als Teil einer Ausstellung, stets im Verbund mit anderen, eigenen und fremden Bildern wahrgenommen. In der Zusammenschau erst kann das einzelne Porträt den Anspruch erheben, zumindest eine Ahnung von der Vielfalt der Welt zu geben.