Impfexperte: Coronaschutz ist überzogen
Bei einer besseren Datenlage hätte es nicht zum Shutdown kommen müssen, meint Prof. Dr. Siegwart Bigl. Und zum Vergleich: „Die Zahl der Grippekranken war 2017 viel höher“.
Dresden. Die Corona-schutzmaßnahmen seien überzogen. Bei einer besseren Datenlage hätte es nicht zum Shutdown kommen müssen. Das sagt der Chemnitzer Mediziner Prof. Dr. Siegwart Bigl. Er ist Mitglied in der Sächsischen Impfkommission (Siko). Bigl, der die in den letzten Jahren zusammengesparte Diagnostik im Land kritisiert, hält einen Vergleich von Corona mit der Influenza für zulässig. In manchen Jahren sei die Zahl der an Grippe Erkrankten und Toten weit höher als derzeit im Fall von Corona. So drastische Maßnahmen wie jetzt seien da nicht ergriffen worden.
Dresden. Bei einer besseren Datenlage hätte es nicht zum Shutdown kommen müssen. Das sagt der Chemnitzer Mediziner Prof. Dr. med. habil. Siegwart Bigl, Mitglied in der Sächsischen Impfkommission (Siko) und frühere Präsident der Landesuntersuchungsanstalt für das Gesundheits- und Veterinärwesen in Sachsen. Er kritisiert, dass die Diagnostik im Freistaat radikal zusammengestrichen wurde.
Herr Professor Bigl, halten Sie die Einschnitte im öffentlichen Leben bis hin zum Fast-stillstand vieler Teile der Wirtschaft für richtig?
Nein. Für so drastische Maßnahmen fehlen schlichtweg die Zahlen. Dass man Patienten mit Vorerkrankungen und ältere Menschen in Altenund Pflegeeinrichtungen besonders schützt, ist völlig in Ordnung und erforderlich. Grippe und Coronaviren, das ist bekannt, gefährden Ältere besonders. Das Herunterfahren vieler Betriebe, die Schließung von Schulen und Kindergärten und sogar Ausgangsbeschränkungen – für all das gibt es aber aus medizinischer Sicht keinen Grund.
So soll doch aber die Ausbreitung der Pandemie verhindert werden...
...das ist keine Pandemie. Eine Pandemie ist für besonders viele Todesfälle verantwortlich. Die sehe ich nicht. Die Begrifflichkeit ist also nicht angebracht. Dann müssten wir auch bei der Grippe jedes Jahr so drastische Maßnahmen ergreifen.
Ein Vergleich mit der Grippe, so sagt das Robert-koch-institut (RKI), verbietet sich, da das Coronavirus Sarscov-2 weit tödlicher sei.
Es stimmt, dass das Coronavirus nicht identisch ist mit Influenzaviren, aber die Erreger wechseln genauso in der Antigenität wie Grippeviren. Ein Vergleich ist also durchaus zulässig. Schauen wir uns doch die Influenza-typen an. Wir haben aktuell drei davon: B, H1N1 und H3N2. Es gibt davon aber unendlich viele Varianten, die in der Vergangenheit zum Teil auch in Deutschland heftig gewütet haben. Die Ausbreitung der Influenza hat in manchen Jahren für volle Arztpraxen und Kliniken gesorgt. Die Anzahl der Erkrankten war weit höher als die, die aktuell an Corona erkranken. In der Saison 2018/2919 gab es bundesweit 182 000 Influenza-meldungen, ein Jahr davor sogar 334000 Infizierte mit geschätzt 25 100 Influenza-toten.
Die Politik ist sicher, dass die Schutzmaßnahmen heute Schlimmeres verhindert haben.
Hygieneschutz ist die richtige Antwort. Aber die Maßnahmen müssen in einem vertretbaren Rahmen bleiben. Wir haben es mit einer Tröpfcheninfektion zu tun. Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Erkrankung an Coranaviren kann schwere und schwerste Verläufe haben – hauptsächlich bei Menschen mit Vorerkrankungen. Bei der Influenza ist das aber nicht anders.
Es gibt doch aber gegen Corona keinen Impfstoff, gegen Grippe schon, oder?
Das ist richtig und auch wieder nicht, denn auch bei der Influenza gibt es nicht den einen Impfstoff gegen alle grassierenden Viren. Auslöser grippaler Infekte sind doch eine ganze Masse Erreger. Es geht mit Rhinoviren, hauptverantwortlich für Schnupfen, los. Dann gibt es Adenoviren, verschiedene Parainfluenzaviren, Rs-viren, HMP und weitere. Auch gegen sie hat man keinen Impfstoff. Durch den möglichen häufigen Wechsel des Genoms vieler Viren müssen auch die Impfstoffe immer dem angepasst werden; insbesondere wenn die Pathogenität des Virus sich verschlechtert hat. Dazu gehören auch die Coronaviren, so dass jetzt ein Impfstoff dringend erforderlich ist, ebenso wie eine routinemäßige Testung.
Seit wann treten Coronaviren auf?
In den Lehrbüchern für „Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie“ist zu lesen: „Infektionen mit den humanen Coronaviren treten in den Wintermonaten auf und sind für etwa 5 bis 30 aller aktuellen akuten respiratorischen Erkrankungen verantwortlich….“Das weiß man also seit Jahrzehnten, aber erst seit diesem Jahr, genau seit der fünften Kalenderwoche, wird im Influenzasentinel der zuständigen Arbeitsgemeinschaft am RKI auch auf Corona getestet. Auslöser dafür ist die weltweite Ausbreitung der Krankheit. Das Sentinel ist ein Erhebungssystem, bei dem Ärzte mitwirken, die diagnostische Werte liefern.
Ihre Kritik in der Corona-krise richtet sich gegen die miserable Datenlage. Worauf bezieht sich das genau?
Tagtäglich wird von an Corona Erkrankten, Genesenen und Verstorbenen gesprochen. Diesen Zahlen sind die Grundlage für das Handeln der Politik. Aber die Datenlage ist doch völlig unzureichend. Erfasst sind doch nur die Erkrankten, die auf Corona getestet wurden. Es gibt keine zuverlässige Aussage über die Anzahl der Infizierten. Und das liegt daran, dass nicht ausreichend getestet werden kann. In Sachsen ist das so, weil vorhandene Testkapazitäten schlicht dem Sparwahn früherer Jahre zum Opfer gefallen sind.
Sie sprechen von den Kapazitäten im öffentlichen Gesundheitswesen?
Vor 17 Jahren hatten wir mit der Sars Covi 1-Problematik eine ähnliche Situation wie heute, auch wenn damals die Anzahl der Infizierten weit geringer war. 2003 konnten wir auf die vorhandene Diagnostik zurückgreifen. Am Standort Chemnitz der Landesuntersuchungsanstalt, kurz LUA, wo ich tätig war, konnten wir sofort die notwendigen Labornachweise mittels PCR, was für Polymerasekettenreaktion steht, vornehmen. Heute ist keine so schnelle und umfangreichen Diagnostik vorhanden, um Aussagen über Sars Covi 2 zu treffen. Und das, weil am Standort Chemnitz das Personal um zwei Drittel reduziert und der Luastandort Leipzig sogar komplett geschlossen wurde. Einzig der in Dresden existiert noch. Im Vergleich zu heute hätten wir unter den alten Bedingungen mehr als dreimal so viele Tests machen können.
Wie ist das in anderen Bundesländern?
Dort wurden viele Kapazitäten zu gering beachtet oder gar nicht erst aufgebaut, obwohl im Grundgesetz Artikel 74 Nr.19 genau verankert ist, dass der Staat für Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten zuständig ist und die dritte Säule des Gesundheitswesens, den Öffentlichen Gesundheitsdienst, mit genügend Personal arbeitsfähig – also einschließlich Diagnostik – zu gestalten hat.
Was wäre bei einer besseren Datenlage möglich?
Dann hätte man beispielsweise die Schulen und Kindergärten nicht schließen müssen. Damals – also vor der Wende und auch lange Jahre danach – haben wir Verdachtsfälle sofort untersucht. Bei Nachweis einer Infektion wurden die Schüler einer Klasse nach Hause geschickt, nicht die komplette Schule dicht gemacht. Eine bessere Diagnostik wäre zugleich der Schlüssel dafür, zu verstehen, wie sich Corona ausbreitet. Dann hätte man die Zahl der Infizierten ins Verhältnis setzen können zu den an Corona Verstorbenen – und vernünftige Aussagen über die Gefährlichkeit erhalten. Was nicht zu den drastischen Maßnahmen geführt hätte.
Der Shutdown wäre unnötig gewesen?
Mit einem besseren öffentlichen Gesundheitswesen, personell besser ausgestatteten Gesundheitsämtern, wäre er vermutlich nicht nötig gewesen. Anders gesagt: Die Verantwortlichen hätten nicht auf Verdacht handeln müssen, sondern anhand aussagefähiger Daten. Die Letalitätsrate ist, wie sich jetzt nach und nach herausstellt, in Deutschland viel zu hoch angesetzt. Und noch etwas kritisiere ich: Es fehlt die Falldefinition für den Todesfall. Um festzustellen, ob ein Patient an einer Coronavirus-infektion verstorben ist, sind mehrere Nachweise nötig – bei Unklarheiten hilft nur eine Obduktion. Dies erfolgt nicht in ausreichendem Maße. Mit dem jetzigen Vorgehen wird nur Angst geschürt. Um Ihre Aussagen für die Leser besser einordnen zu können: Sie sind Mitglied der Sächsische Impfkommission (SIKO). Warum leistet sich Sachsen als einziges Bundesland eine solches Beratergremium?
Vielleicht, weil sich die SIKO durch eine hervorragende wissenschaftliche Arbeit auszeichnet und sich deshalb behaupten konnte. Ein Beispiel: Bevor die SIKO 1991 gegründet wurde, hieß es, dass wir in Sachsen den in den alten Bundesländern gültigen Impfkalender zu übernehmen haben. Als von der CDU 1990 berufener Vertreter des Bezirksarztes im damaligen Bezirk Karl-marxstadt, jetzt wieder Chemnitz, habe ich mich geweigert und darauf verwiesen, dass wir einen weit wirksameren haben. Gegen Masern wurde bei uns zweimal geimpft, in den alten Ländern nur einmal. Bei uns wurde gegen Keuchhusten geimpft, im Westen nicht – erst viel später hat man das geändert.
Beim Impfschutz und im Umfang des gesamten Aufgabenspektrums der Hygiene waren wir in der DDR fortschrittlicher. Das konnten wir erfolgreich den Politikern der erste Stunde in Sachsen vermitteln. So hat Sachsen eine eigene Impfkommission gegründet mit mir als ersten Vorsitzenden.