Klare Appelle
Der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen ist mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt worden.
Der Preisträger ist auf einem anderen Kontinent, der Laudator befindet sich in Quarantäne, und das Publikum wurde wieder ausgeladen. Die Verleihung des mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an den indischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen verlief in diesem Corona-jahr alles andere als normal. Dennoch bleiben nach der Veranstaltung in der symbolträchtigen, aber ziemlich leeren Frankfurter Paulskirche klare Appelle: gegen Ungerechtigkeit und Autokratie, für Menschenrechte und Demokratie.
Auf dem für den Bundespräsidenten reservierten Platz in der Paulskirche, in der Mitte der ersten Reihe, lag zu Beginn der Verleihung am Sonntag noch der Zettel: „Herr Frankwalter Steinmeier“. Dabei war da schon längst klar, dass das Staatsoberhaupt nicht wie geplant seine Laudatio halten wird. Weil einer seiner Personenschützer positiv getestet wurde, musste sich Steinmeier in Quarantäne begeben. Seine Rede las kurzfristig der Schauspieler Burghart Klaußner vor, „den der Bundespräsident gut kennt und sehr schätzt“, wie es aus dem Präsidialamt hieß.
Geehrt werde ein Weltbürger und eine moralische Instanz, die „wie kein anderer verbunden ist mit der Idee der globalen Gerechtigkeit“, hieß es in der Laudatio. „Die Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit darf gerade unter dem Druck der Coronapandemie keine Pause machen.“Als Wissenschaftler habe Sen die Welt nicht nur begreifen, sondern auch verändern wollen, so Steinmeiers Worte. Und: „Amartya Sen hat sie verändert.“Wenn Sen über soziale und ökologische Gerechtigkeit spreche, dann gehe es ihm im Kern immer um die Demokratie.
Aus fast 6000 Kilometern Entfernung hörte der Geehrte aufmerksam zu. Der in den USA lebende Preisträger, der an der Elite-universität in Harvard unterrichtet, konnte aufgrund der Pandemie nicht nach Deutschland kommen. Sens Werk erstreckt sich über sechs Jahrzehnte, seine Bestseller wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, er trägt mehr als hundert Ehrendoktortitel, bekam 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und nun also noch den Friedenspreis.
Der 86-Jährige wurde aus Boston zugeschaltet, wo die Veranstaltung quasi mitten in der Nacht, um 4.45 Uhr Ortszeit begann. In seiner Dankesrede sprach sich der Nobelpreisträger gegen Autokratie, Benachteiligung und Ungerechtigkeit aus. „Die repressiven Tendenzen in vielen Ländern der heutigen Welt – insbesondere in Asien, in Europa, in Lateinamerika und innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika – geben Anlass zur Sorge.“
Ausführlich beschrieb er die politische Lage in Indien („Ich habe die traurige Pflicht, darüber zu sprechen, wie autokratisch die Regierung meines Landes geworden ist“) und kritisierte auch die Ungleichheit in seiner Wahlheimat, den USA. Er appellierte: „Heute ist gesellschaftlich kaum etwas dringlicher geboten als globaler Widerstand gegen den zunehmenden Autoritarismus überall auf der Welt.“
In der von Klaußner vorgetragenen Rede forderte auch Steinmeier die Menschen auf, ihr eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen („Wir tragen eine große Mitverantwortung an einem fairen Welthandel“) und Demokratie und Menschenrechte nicht als selbstverständlich anzusehen. „Alles, was errungen ist, ist nicht deshalb schon garantiert.“Wo Demokratie erodiere, erodierten auch die Menschenrechte“, warnte der Bundespräsident.
Die Demokratie sterbe nicht in der Dunkelheit, sondern wenn, dann vor unser aller Augen. „Wir sehen doch, wie die internationale Ordnung wankt, wie autoritäre Tendenzen und Nationalismus weltweit auf dem Vormarsch sind“, so Steinmeier. Corona habe gezeigt, dass unsere Demokratie effizient auf existenzielle Bedrohungen reagieren könne. „Ob sie das weiterhin schafft, Sicherheit und Freiheit in der Balance zu halten, ist kein Automatismus. Auf uns alle kommt es dabei an.“
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergibt den Friedenspreis seit nunmehr 70 Jahren. Amartya Sen habe sich „als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandergesetzt“, hieß es zur Begründung. Seine Arbeiten seien heute so relevant wie nie zuvor. Gerade in diesem Coronajahr sei er der passende Preisträger, sagte die Vorsteherin des Börsenvereins, Karin Schmidt-friderichs. „Denn was Sen über Identität und Gerechtigkeit schreibt, schien und scheint mir ein geeignetes Fundament zu sein für den Aufbau einer besseren Welt nach Corona.“