Eine Passagierliste in die Emigration
Die Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft 1933-45
Der Einband lässt zunächst auf ein „biographisches Handbuch“– so die Bezeichnung im Vorwort der Verfasserin – schließen, aber das Buch ist vielmehr als das. Karin Müller-kelwing ist es gelungen, im Zusammenhang mit der Provenienzforschung an den Staatlichen Kunstsammlungen eine wichtige Etappe Dresdner Kulturgeschichte zu untersuchen und somit einen Einblick in den Alltag der Dresdner Vorläuferinstitution der heutigen Staatlichen Kunstsammlungen Dresden im „Dritten Reich“zu vermitteln.
Durch die vorliegenden Dokumente konnte der Einfluss des nationalsozialistischen Staates auf die Arbeit der Museen ebenso nachgewiesen werden wie das Wirken einzelner Mitarbeiter – vom überzeugten Parteigenossen über die Mitläufer bis zu den Ausgegrenzten, darunter zählen auch die so genannten „nichtarischen“Angestellten.
Wöchentliche Appelle der „Gefolgschaft“, das Aufstellen der Hitler-büsten und das gemeinsame Hören der „Führerreden“im Radio bestimmten die Arbeit ebenso wie auch die z. T. ideologisch orientierten Ausstellungen. Auch Modernisierungen, die bis heute zur Praxis der Sammlungen gehören, werden benannt wie die Museumswoche oder der Einsatz von Filmen während der Ausstellungen. Die Verfasserin belässt es aber nicht dabei.
Der Verquickung des Leiters der Gemäldegalerie Hans Posse wird hier beispielsweise nachgegangen, der als „Sonderbeauftragter des Führers“durch ein europaweites (Um)verteilungsprogramm beschlagnahmter, aber auch angekaufter Kunstwerke das in Linz geplante „Führermuseum“aufbauen sollte und dadurch zu einem Hauptverantwortlichen des nationalsozialistischen Kunstraubs wurde, aber auch der Verfolgung nicht linientreuer Mitarbeiter. Dies wird vor allem im zweiten Teil des opulenten Bandes deutlich, der ein ausführliches Personenverzeichnis enthält.
Hier beschränkt sich die Autorin nicht auf rein biographische Angaben. Sie fügt zu jeder Person eine ausführliche Beschreibung hinzu, soweit es die Quellenlage zulässt. Somit kann der Leser nachvollziehen, wie die einzelnen Mitarbeiter sich dem Ns-system gegenüber verhielten: altgediente Parteigenossen, die nach 1933 Karriere machten, wegen des beruflichen Vorankommens in die NSDAP eingetretene und wegen ihrer Herkunft und Überzeugung diskriminierte. Müllerkelwing belässt es aber nicht damit, sondern verfolgt deren Weg nach 1945.
Dabei wird deutlich, dass die Entwicklung im Kulturbetrieb anderen Bereichen im Nachkriegsdeutschland gleicht. Viele Mitarbeiter, die wegen ihrer Arbeit bzw. Parteimitgliedschaft mit Entlassung bzw. Strafverfolgung rechnen mussten, gingen nach Westdeutschland. Dort machten viele von ihnen Karriere, indem sie ihre Vergangenheit verschwiegen bzw. verharmlosten. Diejenigen, die in Dresden blieben und sich keines Vergehens schuldig gemacht hatten, aber Mitglied der NDSAP waren, wurden entlassen und kamen in der Regel nicht mehr in den öffentlichen Dienst.
Unter den 29 Personen, die auf dem Umschlag abgebildet wurden, befinden sich zwei Frauen, davon in der unteren Reihe Anna Löwenthal. Sie musste ihre Tätigkeit in der Sächsischen Landesbibliothek, die damals zu den Staatlichen Sammlungen zählte, wegen ihrer jüdischen Herkunft aufgeben. Karin Müller-kelwing gelang es, die Passagierliste des Dampfers ausfindig zu machen, mit dem die Bibliothekarin in letzter Minute Deutschland verlassen und in die USA emigrieren konnte – ein Beispiel für das berührende Schicksal und die akribische Aufarbeitung.
Karin Müller-kelwing: Zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik. Die Staatlichen Sammlungen für Kunst und Wissenschaft in Dresden und ihre Mitarbeiter im Nationalsozialismus, herausgegeben von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Gilbert Lupfer. – Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2020 ISBN: 978-3-412-51863-9