Beyond Digital – wenn sich niemand mehr für Technologie interessiert
Science Fiction, aber auch für viele Prognosen gilt 2020 als magischer Zeitpunkt. Geht es nur um Zahlenmystik oder ist dieses Jahr tatsächlich das Jahr, in dem all die Digital- und Tech-Trends Realität werden? Was, wenn am Ende dieses Jahres das Schlagwort der Digitalisierung nicht nur semantisch, sondern auch tatsächlich überholt wäre – wenn sich niemand mehr dafür interessiert, weil Technik zum banalen Alltag geworden ist?
► Trotz der vielfältigen Initiativen und Anstrengungen, die gerade auch Handelsunternehmen setzen, hat sich die Trennlinie zwischen Brick-&-Mortal-Retail, eCommerce und mCommerce nicht aufgelöst, sind weder Vertriebskanäle verschmolzen, noch hat sich ein nahtloses real-digitales Einkaufserlebnis durchgesetzt. Drohnen, die Pakete ausliefern? Roboter, die den Verkaäufer überflüssig machen? Angesagte Revolutionen bleiben oft aus.
Stand noch vor kurzem die Frage im Raum, ob der stationäre Handel überhaupt eine Zukunft hat, zeigt sich heute neben der digitalen Überholspur eine blühende Landschaft empathischer Kundenbeziehungen. Die Zukunft des Retail ist offenbar viel menschlicher, als bislang gedacht. Der Blick nach vorne muss daher wohl dialektisch ausfallen.
Sowohl. Als auch.
Im Handel braucht man Paradoxie-Kompetenz. Die Trennlinien verlaufen dabei längst nicht mehr zwischen offline und online, sondern subtiler, vielschichtiger, verwirrender. Wir sprechen von der Sehnsucht nach Entschleunigung, zugleich sind Konsumenten ungeduldiger denn je. Wir erleben eine sekuläre Stagnation, und haben dennoch enorme Sehnsucht nach Innovation. Wir wünschen uns hochwertige, nachhaltige, regionale Produkte, aber bitte zum Diskontpreis. Wie soll sich das ausgehen? Wie sollen Führungskräfte die Marschrichtung vorgeben, wenn alles auf die eine Seite zieht und gleichzeitig in die gegensätzliche zerrt? Gerade im Bereich der Technologisierung der Arbeitswelt zeigen sich diese Irritationen besonders deutlich. Auf der einen Seite ringen wir noch damit, die letzten analogen Prozesse im Unternehmen endlich zu automatisieren, auf der anderen Seite diskutieren wir disruptive Geschäftsmodelle. Auf der Strecke bleibt dabei nicht selten der Faktor Mensch.
Alternative: Fakten.
Da hilft auch die Hyperpersonalisierung nicht, die uns mittels KI versprochen wird. Handelsunternehmen erhoffen sich von Künstlicher Intelligenz, den Kunden besser zu kennen als er sich selbst – und lassen dabei ihre Mitarbeiter und Manager mitten im reissenden Strom der Daten stehen. Die Binsenweisheit von „Daten als dem neuen Gold“hat sich darum auch allzu rasch abgenutzt – jedenfalls noch rechtzeitig, bevor Führungskräfte ihre Entscheidungsverfahren anpassen konnten. Schon im Angesicht von Big-Data sind viele ausreichend überfordert. Zahllose Studien zeigen: Konfrontiert man Manager mit Daten, die ihrer Intuition zuwiderlaufen, entscheidet sich nur ein verschwindend geringer Bruchteil dafür, der kühlen Faktenlage Glauben zu schenken. Die Macht der eigenen Erfahrung überwiegt neue Erkenntnisse, auch dann, wenn sie bei nüchterner Betrachtung auf einem Referenzrahmen beruht, der längst seine Gültigkeit verloren hat.
Mit KI wird die Sache nicht leichter. Darum herrscht auch auf Seiten der Konsumenten Ernüchterung vor: Rund 80 Prozent der Menschen fühlen sich unwohl, wenn Computer über sie entscheiden. Genährt wird das generelle Misstrauen gegenüber KI durch tagtägliche Erfahrungen, in denen Smartifizierungen eher fragwürdigen Nutzen stiften und nur wenig treffsichere Ergebnisse liefern. Wenn bereits der banale digitale Alltag zu einem Mehr an Unzuverlässigkeit und lästigem Aufgefordert-werden führt, wie sicher kann dann die Anwendung von KI an tatsächlich kritischen Stellen sein?
Erschwerend kommt hinzu, dass KI eben nicht wie Software bislang vergleichbar zu einem komplizierten Uhrwerk funktioniert, sondern für uns Menschen auf nicht nachvollziehbare Weise. Ihre inhärente Logik basiert auf Mustern und statistischen Modellen, nicht auf regelbasierten ErklärungsFür
modellen. KI versteht eben nicht – im menschlichen Sinne – etwas von der Sache. In der Konsequenz staunen wir über das Ergebnis, wissen aber nicht, wie es entstanden ist. Das ist bei Schachprogrammen, die den Menschen besiegen, vielleicht nicht relevant. Übertragen wir KI jedoch auf schwerwiegende Entscheidungen, sehr wohl.
Wer nicht weiß, welcher Werkzeuge er sich bedient, kann auch kein Verständnis für die Chancen, Potentiale und Risiken der Anwendung entwickeln und keine zielsicheren Erkenntnisse daraus ableiten.
Intelligenz im Handel? Natürlich künstlich.
Der Marketinghype der IT-Industrie, der stets von der Überlegenheit der intelligenten Maschine mit ihrer objektiven Entschlusskraft und ihrem Zugriff auf unvorstellbare Datenmengen handelt, verleiht ihr eine mystische Aura des Unantast baren. Im gleichen Maße werden übersteigerte Erwartungen an heilsbringende Technologien genährt, wie auch die uralte Angst des Menschen befeuert, demnächst von unkontrollierbaren Maschinen hinweggerafft zu werden. Das Resultat sind simplifizierende und polarisierende Mensch-Maschine-Erzählungen, die den aktuellen KI-Diskurs dominieren und den Blick auf die entscheidenden Themen verschleiern.
Nun da wir wissen, was alles möglich ist, was ist wirklich sinnvoll? Der Einsatz von KI durchzieht sämtliche Prozesse im Handel – von der Beschaffung bis zum Verkauf. Das optimale Erlebnis für den Kunden wird jedoch nicht alleine durch KI erreicht, sondern durch das kluge Zusammenspiel von natürlicher und künstlicher Intelligenz.
Erst wenn Digitalisierung selbstverständlich geworden ist, ist der Handel – und unsere Arbeitswelt insgesamt – in der Tat von Zeit und Raum entkoppelt. Ob das noch bis zum Ende des Jahres 2020 gelingt? Es ist wohl noch ein weiter Weg. ║