Chade-meng Tan: Freude auf Abruf ...........
Von der Kunst, das Glück in sich zu entdecken
Das Leben ist seltsam. Manchmal findet man nur dann etwas, wenn man aufhört, danach zu suchen. Einmal benötigte ich zum Beispiel ein bestimmtes Kabel für meinen Computer. Ich suchte überall im Haus und konnte es nicht finden. Nach einer Stunde gab ich auf und sagte mir, dass ich am nächsten Tag wohl ein neues kaufen müsse, und nur wenige Minuten, nachdem ich kapituliert hatte, sah ich, dass es nur knapp einen Meter entfernt von mir auf dem Regal lag.
Ich stellte fest, dass ich eine ähnliche Beziehung zum Erfolg hatte. Als ich nach und nach immer geschickter darin wurde, mich einer Freude zu öffnen, die nicht auf Befriedung der Sinne oder des Egos beruhte, wurde ich sehr viel glücklicher, und auch mein verzweifelter Wunsch nach weltlichem Erfolg begann zu schwinden. Da ich nun mit und ohne Reichtum glücklich sein konnte, mit und ohne Möglichkeit, „mich der Welt beweisen zu müssen“, verstand ich nicht länger, wieso ich so versessen darauf sein sollte, „erfolgreich“zu sein. Ich ging davon aus, dass ich meine Chance auf weltlichen Erfolg aufgeben und allen asiatischen „Tigermüttern“als abschreckendes Beispiel dienen würde. Das Gegenteil geschah, und ich wurde sogar äußerst erfolgreich.
Später fand ich den Grund dafür: Freude führt zu Glück, und Glück führt zu Erfolg. Aber worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen Freude und Glück? Ich würde Glück gern von Matthieu Ricard definieren lassen. Ich gehe davon aus, dass „der glücklichste Mensch der Welt“weiß, was das ist. Laut Matthieu ist für ihn Glück „ein tiefes Gefühl des Gedeihens, das aus einem außergewöhnlich gesunden Geist kommt ... nicht bloß ein angenehmes Gefühl, keine flüchtige Emotion oder Stimmung, sondern ein optimaler Daseinszustand.“Freude hingegen ist ein angenehmes Gefühl. Es ist eine Emotion. Sie findet im Jetzt statt, während Glück eher etwas wie das Endergebnis ist, das im Laufe der Zeit aus geistiger Gesundheit und
mentaler Fitness sowie persönlicher Entfaltung entsteht. Freude ist ein Baustein des Glücks. Ein glückliches Leben besteht aus vielen Augenblicken der Freude. Auch wenn Lebensglück nicht bedeutet, dass das Leben nun ausschließlich Momente der Freude bereithält, gibt es doch so etwas wie einen freudlosen Weg zum Glück nicht. Die Fähigkeit, auf Abruf Freude zu empfinden, ermöglichte es mir, ein glückliches Leben aufzubauen. In diesem Sinn führt Freude zu Glück.
Wie sieht der Zusammenhang von Glück und Erfolg aus? Wie sich herausstellt, hatte ich das komplett missverstanden. Meine asiatische Erziehung hatte mich veranlasst zu glauben, mit dem Erfolg käme auch das Glück. Ich war davon ausgegangen, dass ich eines Tages, wenn ich Erfolg hätte, glücklich sein würde. Tatsächlich ist es genau umgekehrt. Erfolg führt nicht zum Glück. Stattdessen führt Glück zum Erfolg. Die Beziehung zwischen Erfolg und Glück wurde gründlich erforscht. Mein Freund Shawn Achor hat dafür die brillante Bezeichnung „Glücksvorteil“gefunden. The Happiness Advantage lautet auch der Titel seines Bestsellers. Shawn, der Hunderte von Studien zitiert, die im Laufe von Jahrzehnten durchgeführt wurden, liefert überzeugende Argumente dafür, dass Glück und Zufriedenheit beim Streben nach Erfolg eine entscheidende Rolle spielen. In einem Artikel im Harvard Business Review fasst er das 2011 folgendermaßen zusammen: „Der allergrößte Wettbewerbsvorteil in unserer modernen Wirtschaft besteht in zufriedenen und engagierten Mitarbeitern.“ Durch Zufriedenheit steigt der Umsatz um 37 Prozent, die Produktivität um 31 Prozent und die Genauigkeit bei der Arbeit um 19 Prozent. Glückliche Menschen sind darüber hinaus beliebter und haben mehr Erfolg bei der Arbeit oder in der Schule, falls sie Schüler sind. Zufriedenheit macht die Menschen gesünder, und auch bei vielen anderen Merkmalen der Lebensqualität schneiden diese Menschen besser ab. Sogar die Kreativitätsleistung wird durch das Gefühl, glücklich zu sein, gesteigert, wie wir in Kapitel 1 sehen werden. Diese Information wäre weniger großartig, wenn sich das Gefühl des Glücks nicht kontrollieren ließe und einfach nur eine Frage des Zufalls wäre. Sie ist deshalb so großartig, weil man Freude und Glück trainieren kann, und genau darum geht es in Freude auf Abruf. Wenn Sie erfolgreich sein möchten, empfehle ich Ihnen unbedingt, zunächst einmal zu lernen, glücklich zu sein. Erfolg ist auch möglich, ohne dass Sie zuvor lernen, glücklich zu sein, doch davon rate ich unbedingt ab, denn wenn Sie unglücklich sind, bevor Sie Erfolg haben, dürften Sie anschließend noch viel unglücklicher sein. Zum Beispiel habe ich an mir selbst, als ich finanziell erfolgreich wurde, aber auch an anderen wohlhabenden Leuten gesehen, dass Reichtum als Persönlichkeitsverstärker fungiert. Wer grausam und gemein ist, wird durch Reichtum noch viel grausamer und gemeiner, da er nun nicht länger aus reiner Überlebensstrategie nett sein muss. Ist ein Mensch jedoch freundlich und großzügig, verstärkt Reichtum diese Eigenschaften, weil ihm nun noch mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich auch in Zukunft so zu verhalten.
»Der allergrößte Wettbewerbsvorteil in unserer modernen Wirtschaft besteht in zufriedenen und engagierten Mitarbeitern«