J.P. Morgan, der Gigant der Wall Street
Auszug aus "Die Erfolgsgeheimnisse der Börsenmillionäre" von Peter Balsiger und Frank B. Werner (Hrsg.)
Erfolgreich ist der Mensch, wenn er bei 100 Entscheidungen 51 mal das Richtige trifft.
Er war der mächtigste Bankier der Welt und schuf im 19. Jahrhundert das erste wirklich globale Finanzunternehmen. Und er ging in die Geschichteein als der Mann, der die Wall Street vor dem Kollaps rettete. In der Geschichte der Wall Street hat kaum ein anderer Tycoon die öffentliche Meinung so polarisiert wie John Pierpont Morgan. Für seine Bewunderer war er der Prototyp des ehrbaren, altmodischen Bankiers, ein »Gentleman Banker« nach britischem Vorbild, auf dessen Wort Verlass war und der seine Deals mit einem Handschlag besiegelte. Seine Gegner sahen in ihm einen heuchlerischen Tyrannen, einen skrupellosen und machtgierigen Finanzier, der Unternehmen schikanierte, mit fremden Staaten konspirierte und Amerika aus Profitgier in einen Krieg trieb. Pierpont Morgan – er selbst benutzte nie den Vornamen John – war denn auch ein Mann mit widersprüchlichen Eigenschaften und Qualitäten. Äußerlich eine imposante Erscheinung mit breiten Schultern, buschigem Schnurrbart und den massigen Händen eines Boxers. Aber Morgan, der extrem auf Bewunderung aus war, hatte als Folge der Hautkrankheit Rosazea eine verformte, purpurrote Knollennase, die ihn so sehr quälte, dass er keine Öffentlichkeit mochte und es hasste, fotografiert zu werden. Porträts mussten deshalb retuschiert werden. Schon als Kind litt er unter Rheuma und verbrachte als 14-Jähriger mehrere Monate zur Kur auf den Azoren. Mit 20 traten zum ersten Mal Depressionen auf, die sich später noch verstärken sollten. Pierpont begann seine Karriere mit 19 in der Londoner Filiale der angesehenen New Yorker Bank von George Peaboy, nachdem ihn sein Vater, ein Bankier und Finanzier, unter anderem in das Institut Sillig am Genfer See und sechs Monate an die Georg-august-universität Göttingen geschickt hatte, um Deutsch zu lernen. Er liebte das frivole Treiben in den Göttinger Studentenklubs, kleidete sich wie ein Dandy und trug mit Vorliebe gepunktete Westen, grelle Krawatten und karierte Hosen.
1861 begann der Amerikanische Bürgerkrieg. Für die Wall Street auch eine Chance, profitable Deals abzuschließen. Der junge Pierpont – er hatte sich wie die meisten Söhne reicher Eltern der Einberufung zur Armee durch die Bezahlung von 300 Dollar entzogen – kaufte über Strohmänner 500 veraltete Karabiner des Typs Hall, die in einem New Yorker Zeughaus gelagert waren, zum Preis von 3,50 Dollar das Stück und verkaufte sie drei Monate später für 22 Dollar an den Kommandeur der Unionstruppen in Missouri. Dieses anrüchige Geschäft hing Pierpont noch lange nach. Es war offenkundig, dass er den Bürgerkrieg als Gelegenheit sah, Profite zu machen. Und nicht, um seinem Land zu dienen.
Aber Pierpont hatte noch eine andere, eine weiche Seite. 1861 hatte er eine Affäre mit Amelia Sturges, einem zarten, hübschen Mädchen, dessen Vater eine Kunstschule leitete. Mimi, wie er sie nannte, war zu diesem Zeitpunkt bereits unheilbar an Tuberkulose erkrankt. Er heiratete sie trotzdem und reiste mit ihr anschließend ans Mittelmeer in der Hoffnung, dass das warme Klima ihr Leiden lindern könne. Vier Monate später starb Mimi in Nizza. Pierpont Morgan gründete 1871 mit dem aus Philadelphia stammenden Bankier Anthony Drexel die Bank Drexel, Morgan & Co. Nach dessen Tod wurde das Haus 1895 schließlich zur J. P. Morgan & Company.
Pierpont Morgan war zu diesem Zeitpunkt schon ein einflussreicher Bankier. Er machte Geschäfte mit vielen prominenten Familien in Amerika. Den Astors, Guggenheims, du Ponts und Vanderbilts. Und er brüstete sich stets damit, dass 96 der 100 größten Unternehmen Amerikas seine Kunden seien – und dass er zwei der
Der erste Schritt, um irgendwo hin zu kommen, ist zu entscheiden, nicht dort zu bleiben wo du bist.
verbleibenden vier Firmen nicht für geschäftswürdig halte.
Nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 wurde das Land von einem wahren Eisenbahnrausch erfasst. Innerhalb von acht Jahren verdoppelten sich die Gleisanlagen, die Spekulationen mit Eisenbahn-aktien gerieten außer Rand und Band. In den 1880er-jahren tobte zudem ein erbitterter und ruinöser Konkurrenzkampf unter den mehr als 100 großen und kleinen Eisenbahnunternehmen. Dies führte zu massiven Kursverlusten der Eisenbahnaktien an der Londoner Börse – es waren vor allem englische Investoren, die die enormen Investitionen in den Schienenverkehr finanziert hatten. London befürchtete sogar einen Börsen-crash.
In dieser dramatischen Situation bewies Morgan, dass er nicht nur ein genialer Finanzier war, sondern auch mit massivem Druck die Umstrukturierung und Sanierung von in Not geratenen Unternehmen erzwingen konnte: So schaffte er es Ende der 1880er-jahre, die zersplitterten Eisenbahngesellschaften in sechs großen Unternehmen zusammenzufassen und in die Gewinnzone zurückzuführen. Seine Unternehmen kontrollierten 1901 die Hälfte des Streckennetzes. Diese Art, in Not geratene Unternehmen zu übernehmen und zu zerschlagen, wurde damals als »Morganisierung« bezeichnet. »Heute würde man sagen, Pierpont Morgan war der erste Investmentbanker der Finanzgeschichte, er organisierte Venture Capital und agierte wie eine Private-equity- Firma«, schrieb "Die Zeit".
Die Wall Street hatte ihm längst den Spitznamen Jupiter verliehen, den Namen des größten Planeten im Sonnensystem. Morgan war für einige der größten Fusionen verantwortlich, die damals die amerikanische Wirtschaft prägten. So rettete er 1892 den Glühbirnenhersteller General Electric vor dem Bankrott und schuf einen Mischkonzern, der bis heute besteht. Offensichtlich profitierte Morgan auch privat von diesem Deal: Sein Haus an der Madison Avenue 219 war das erste elektrisch beleuchtete Privathaus in New York. Sein größter Coup aber war die Schaffung des weltgrößten Stahlkonzerns. Morgan kaufte 1901 dem Stahlmagnaten Andrew Carnegie dessen Unternehmen ab, um es mit seiner Firma Federal Steel und anderen Wettbewerbern zur United States Steel Corporation zusammenzuführen. Es war die auf den heutigen Geldwert umgerechnet größte Unternehmensfusion überhaupt.
Pierpont Morgan hatte die Stadt New York drei mal vor dem Bankrott bewahrt, er rettete 1895 den Goldstandard, als die amerikanischen Goldreserven dramatisch zusammenschmolzen und er eine 65 Millionen Dollar schwere Anleihe organisierte, um den Ausverkauf von Gold zu stoppen. Er war Amerikas Finanz-botschafter, ein globaler »Power Broker«, der oft als inoffizieller Vertreter der Regierung an Konferenztischen mit Königen, Präsidenten und Päpsten saß.
Legendär aber war seine Rolle bei der Bankpanik von 1907. Damals brach der amerikanische Aktienmarkt ein und löste damit eine globale Kettenreaktion aus: In Amerika wollten die Bankkunden massiv Gelder abziehen, weil sie um die Sicherheit ihrer Einlagen fürchteten, in Japan gingen die Banken gleich reihenweise Pleite, französische Großinvestoren warfen panikartig ihre Us-aktien auf den Markt und mehreren großen amerikanischen Banken ging das Geld aus. Die Wall Street stand vor dem Kollaps.
Der alte Pierpont, eigentlich schon halb im Ruhestand, demonstrierte noch einmal seine Macht und seine clevere Verhandlungstaktik. Er versammelte 50 Bankiers in der mit schwarzem Mahagoni ausgekleideten Black Library seines Privathauses, verriegelte die Tür und versteckte den Schlüssel. Niemand durfte gehen, bevor nicht ein Plan zur Rettung der in Not geratenen Finanzinstitute beschlossen worden war. Um 4:45 Uhr morgens hatten alle Bankiers den Plan unterzeichnet. Die Panik war gestoppt, an den Märkten kehrte das Vertrauen zurück.
Morgan war damals so mächtig, wie es heute nur der Vorsitzende der Notenbank Federal Reserve ist, die erst 1913 gegründet wurde. »Das frühe Haus Morgan war eine Art Mischung zwischen einer Zentralbank und einer Privatbank«, schreibt Ron Chernow in seiner Biografie der Bankiersdynastie »The House of Morgan«. Aber Morgan war nicht unumstritten. Vor allem die Demokratische Partei führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen wahren Kreuzzug gegen ihn und machte ihn für all die wirtschaftlichen Probleme der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich. Eine Karikatur zeigte ihn auf einem Haufen Goldmünzen und Dollarscheinen sitzend, in den Händen Miniaturen von Industrieanlagen und Bürogebäuden. Die Bildunterschrift lautete: »Ich habe nicht die geringste Macht.«
Morgan beteiligte sich kurz vor seinem Tod an einem Schifffahrtstrust, zu dem auch die Titanic gehörte. Als Vorstandschef des Trusts sollte er eigentlich im April 1912 auf der Jungfernfahrt an Bord sein – er hatte auf der Titanic sogar eine persönliche Luxus-suite. Eine Erkrankung hinderte ihn jedoch daran. Die Titanic, damals das größte Passagierschiff der Welt, sank bekanntlich im Nordatlantik nach einer Kollision mit einem Eisberg. Pierpont Morgan starb 1913 im Alter von 75 Jahren im Grand Hotel in Rom. Sein Gesundheitszustand hatte sich in den letzten Jahren ständig verschlechtert und zwang ihn jeden Monat während mehrerer Tage ins Bett. Er qualmte jeden Tag Dutzende von dicken Zigarren, pflegte üppig zu tafeln, trank viel und verabscheute jede Form von körperlicher Ertüchtigung. Der mächtige Finanzier hinterließ weniger Vermögen, als gemeinhin angenommen wurde, nämlich gerade mal 68,3 Millionen Dollar. Seine Kunstsammlung war zusätzlich rund 50 Millionen Dollar wert. Der Stahl-magnat Andrew Carnegie, einer von Pierponts Zeitgenossen, reagierte überrascht: »Kaum zu glauben, dass er nicht mal ein reicher Mann war …«
Das Wichtigste ist Charakter, wichtiger als Geld oder Besitz oder irgendwas sonst. Man hat immer zwei Gründe etwas zu tun: einen anständigen und den wahren.