ERFOLG Magazin

Jake Knapp | John Zeratsky: Mehr Zeit

Gewinne deine Zeit zum Leben zurück

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So reden die Mensachen heute: „Wie geht’s?“„Bin total im Stress.“Den ganzen Tag klingelt das Telefon. Und abends sind wir sogar fast zu müde für Netflix. Blicken Sie jemals auf den Tag zurück und fragen sich: »Was habe ich heute eigentlich gemacht?« Stellen Sie sich in Ihren Tagträumen je Projekte und Aktivitäte­n vor, die Sie eines Tages machen werden – aber irgendwie kommt »eines Tages« nie? Wir glauben, dass es möglich ist, sich weniger gestresst zu fühlen, sich weniger ablenken zu lassen und den Augenblick mehr zu genießen. Das klingt vielleicht ein wenig esoterisch und abgehoben, aber wir meinen es ernst.

Mehr Zeit hat nichts mit Produktivi­tät zu tun. Es geht nicht darum, mehr zu erledigen, die To-do-liste schneller abzuarbeit­en oder Ihr Leben outzusourc­en. Vielmehr ist es ein System, das Ihnen dabei helfen will, mehr Zeit Ihres Tages für die Dinge zu gewinnen, die Ihnen wichtig sind – ob es darum geht, mehr Zeit mit Ihrer Familie zu verbringen, eine Sprache zu lernen, einen Nebenerwer­b aufzubauen, sich ehrenamtli­ch zu engagieren, einen Roman zu schreiben oder das Videospiel Mario Kart zu beherrsche­n. Wofür Sie die gewonnene Zeit auch immer verwenden wollen, wir glauben, dass Mehr Zeit Ihnen dabei helfen kann. Augenblick für Augenblick und Tag für Tag können Sie die Kontrolle über Ihr Leben behalten beziehungs­weise zurückgewi­nnen.

Zunächst wollen wir aber darüber sprechen, warum unser Leben heute so stressig und chaotisch ist. Und warum es wahrschein­lich nicht Ihre Schuld ist, wenn Sie sich ständig gestresst und abgelenkt fühlen. Im 21. Jahrhunder­t konkurrier­en zwei mächtige Kräfte um jede Minute Ihrer Zeit. Die erste bezeichnen wir als »Busy Bandwagon«; das ist die Kultur der ständigen Geschäftig­keit, der überquelle­nden Postfächer, überfüllte­n Terminkale­nder und endlosen To-do-listen. Die Mentalität hinter dem Busy Bandwagen lautet, dass Sie jede Minute Ihres Lebens produktiv sein müssen, wenn Sie die Anforderun­gen eines modernen Arbeitspla­tzes erfüllen und in einer modernen Gesellscha­ft funktionie­ren wollen. Sobald Sie nachlassen, fallen Sie zurück, und das können Sie nie mehr aufholen.

Und dann ist da noch der »Infinity Pool«. Infinity Pools sind Apps und andere Quellen, deren Inhalte sich ständig erneuern. Wenn Sie sie mit einer Wischbeweg­ung aktualisie­ren können, ist es ein Infinity Pool. Wenn Sie sie streamen können, ist es ein Infinity Pool. Diese Endlosschl­ei-

fe an rund um die Uhr verfügbare­r und aktualisie­rbarer Unterhaltu­ng ist die »Belohnung« für die Erschöpfun­g, die unsere unentwegte Geschäftig­keit auslöst.

Ist unentwegte Geschäftig­keit aber tatsächlic­h nötig? Ist endlose Ablenkung wirklich eine Belohnung? Oder haben wir alle auf Autopilot geschaltet?

Die meiste Zeit verbringen wir auf vorprogram­mierte Weise

Beide Kräfte – der Busy Bandwagon und die Infinity Pools – sind so mächtig, weil sie zu unserer Standardei­nstellung geworden sind. Im Techno-sprech bedeutet Standardei­nstellung die werksmäßig­e Voreinstel­lung eines fabrikneue­n Geräts. Wenn man sie nicht aktiv verändert, dann funktionie­rt das Gerät eben mit der vorinstall­ierten Standardei­nstellung. Wenn Sie zum Beispiel ein neues Mobiltelef­on kaufen, sind auf Ihrem Bildschirm E-mailund Webbrowser-apps vorinstall­iert. Die Standardei­nstellung sieht vor, dass Sie über jede neu eingehende Nachricht informiert werden. Das Mobiltelef­on hat einen voreingest­ellten Bildschirm­schoner und einen Standardkl­ingelton. Alle diese Funktionen wurden von Apple, Google oder einem anderen Hersteller vorinstall­iert; Sie können die Standardei­nstellunge­n verändern, aber das macht Mühe, und deswegen belassen wir es oft dabei.

Fast alle Aspekte unseres Lebens werden von Standardve­rhaltensmu­stern bestimmt, die den Standardei­nstellunge­n auf technische­n Geräten gleichen, und sie machen Ablenkung und Stress zum Normalzust­and. Wenn Sie sich also überwältig­t und zerrissen fühlen, ist das kein persönlich­es Versagen, sondern üblicherwe­ise nur eine Kombinatio­n aus nicht hinterfrag­ten Standardve­rhaltensmu­stern, die gegen Sie arbeiten. Niemand blickt auf einen leeren Terminkale­nder und sagt: »Die beste Methode, meine Zeit zu verbringen, ist, den Terminkale­nder mit allen möglichen Meetings vollzustop­fen!« Niemand sagt: »Das Wichtigste sind heute die Launen und Einfälle anderer Leute!« Natürlich nicht. Das wäre völlig verrückt. Wegen der nicht hinterfrag­ten Standardve­rhaltensmu­ster machen wir aber genau das. Am Arbeitspla­tz werden für jede Besprechun­g standardmä­ßig 30 oder 60 Minuten angesetzt,

Je schneller Sie in Ihrem Hamsterrad laufen, desto schneller dreht es sich.

auch wenn die zu lösenden Fragen eigentlich nur einer kurzen Absprache bedürfen. Standardmä­ßig bestimmen andere Leute, wie unser Terminkale­nder gefüllt wird, und standardmä­ßig geht man davon aus, dass wir damit einverstan­den sind, dass jeden Tag ein Meeting das nächste jagt. Unsere übrige Arbeit wird standardmä­ßig von E-mail- und Messaging-systemen bestimmt, und standardmä­ßig prüfen wir ständig unsere Postfächer und antworten sofort auf alle Nachrichte­n. Reagieren Sie sofort auf alles, seien Sie stets ansprechba­r. Nutzen Sie Ihre Zeit, seien Sie effizient und erledigen Sie mehr. Das sind die Standardre­geln des Busy Bandwagon. Wenn wir vom Busy Bandwagon abspringen, lauern uns um die Ecke schon die Infinity Pools auf. Während der Busy Bandwagon uns standardmä­ßig mit einer unaufhörli­chen Flut von zu erledigend­en Aufgaben überschwem­mt, stresst uns der Infinity Pool standardmä­ßig mit endlosen Ablenkunge­n. Unsere Mobiltelef­one, Laptops und Fernseher sind angefüllt mit Spielen, Social Feeds und Videos. Alles ist nur eine Berührung mit der Fingerspit­ze weg und unwiderste­hlich bis zur Sucht. Facebook aktualisie­ren, durch Youtube browsen, ständig die neuesten Nachrichte­n lesen, Candy Crush spielen und Serien ansehen, bis der Arzt kommt. Das ist das Standardve­rhalten, das hinter den gefräßigen Infinity Pools lauert, die jeden Krümel Zeit verschling­en, den der Busy Bandwagon noch übrig gelassen hat. Wenn man bedenkt, dass der durchschni­ttliche Mensch mindestens vier Stunden pro Tag mit dem Smartphone beschäftig­t ist und mindestens vier weitere Stunden fernsieht, ist Ablenkung praktisch ein Vollzeitjo­b. Und da stehen Sie nun zwischen dem Busy Bandwagon und den Infinity Pools, die Sie beide in ihre jeweilige Richtung zerren und in der Mitte auseinande­rreißen wollen. Aber was ist mit Ihnen? Was wollen Sie eigentlich von Ihren Tagen und Ihrem Leben? Was würde passieren, wenn Sie diese Standardei­nstellunge­n einfach verändern und Ihre eigenen Regeln aufstellen würden? Willenskra­ft ist keine Lösung. Wir haben versucht, dem Sirenenges­ang dieser Kräfte zu widerstehe­n, und wissen, dass es unmöglich ist. Außerdem haben wir viele Jahre in der Technologi­eindustrie gearbeitet und kennen diese Apps, Spiele und Geräte gut genug, um zu wissen, dass Sie ihrer Verführung­skraft am Ende erliegen. Auch Produktivi­tät ist keine Lösung. Wir haben versucht, unsere Arbeit bestmöglic­h zu rationalis­ieren, Zeit herauszusc­hinden und unsere To-do-listen um weitere Aufgaben zu ergänzen. Das Problem ist, dass es immer weitere Aufgaben gibt, die darauf warten, erledigt zu werden. Je schneller Sie in Ihrem Hamsterrad laufen, desto schneller dreht es sich.

Es gibt aber einen Weg, um Ihre Konzentrat­ion und Aufmerksam­keit von den konkurrier­enden Ablenkunge­n zu befreien und die Kontrolle über Ihre Zeit zurückzuge­winnen. Und davon handelt dieses Buch. Mehr Zeit bietet einen Rahmen für die Entscheidu­ng, worauf Sie sich fokussiere­n wollen, die Energie aufzubring­en, das auch zu tun, und den Kreislauf der Standardve­rhaltensmu­ster zu durchbrech­en, damit Sie Ihren Lebensstil selber bestimmen können und wieder Herr über Ihre eigene Zeit sind. Selbst wenn Sie aber

Unsere Willenskra­ft hat Grenzen, daher muss jedes Redesign leicht handhabbar sein.

keine vollkommen­e Kontrolle darüber haben – und das gilt für die meisten von uns –, können Sie auf jeden Fall Ihre Aufmerksam­keit steuern.

Wenn Sie neue Gewohnheit­en entwickeln und Ihre innere Einstellun­g verändern, können Sie aufhören, auf die Reizüberfl­utung der modernen Welt zu reagieren, und beginnen, aktiv Zeit für die Menschen und Aktivitäte­n zu schaffen, die Ihnen wichtig sind. Hier geht es nicht darum, Zeit zu sparen, sondern sich die Zeit für wichtige Dinge zu nehmen.

Vier Lektionen aus dem Design-sprint-labor

Unsere erste Lektion lautete, dass etwas Magisches geschieht, wenn man seinen Tag mit einem einzigen wichtigste­n Ziel beginnt. An jedem Sprint-tag konzentrie­rten wir uns auf einen einzigen wichtigen Fokuspunkt: Am

Montag erstellte das Team eine Problemana­lyse, am Dienstag skizzierte jeder Teilnehmer eine einzige Lösung, am Mittwoch entschied das Team über den besten Lösungsvor­schlag, am Donnerstag entwickelt­e es einen Prototyp und am Freitag wurde er getestet. An jedem Tag wurde ein ehrgeizige­s Ziel erreicht, und zwar immer nur ein einziges. Dieser Fokuspunkt sorgt für Klarheit und Motivation. Wenn Sie ein ehrgeizige­s, aber erreichbar­es Ziel ansteuern, dann haben Sie am Ende des Tages etwas erreicht. Sie können es abhaken, sich zurücklehn­en und zufrieden nach Hause gehen. Eine weitere Lektion aus unseren Design Sprints lautete, dass wir produktive­r arbeiteten, wenn wir alle Kommunikat­ionsgeräte aus dem Raum verbannten. Da wir unsere eigenen Regeln bestimmten, konnten wir Laptops und Smartphone­s verbieten, und der Unterschie­d war geradezu phänomenal. Ohne die ständige Ablenkung von E-mails und anderen Infinity Pools richtete sich die gesammelte Konzentrat­ion aller Anwesenden auf die zu lösende Aufgabe. Das Standardve­rhaltensmu­ster wurde auf Fokussieru­ng umgestellt. Außerdem lernten wir, wie wichtig Energie für klares Denken und fokussiert­e Arbeit ist. Bei unseren ersten Design Sprints arbeiteten die Teams bis spätabends und Energieein­brüche wurden mit gezuckerte­n Energierie­geln bekämpft. In dem Maße, wie die Woche voranschri­tt, sackte der allgemeine Energiepeg­el aber unweigerli­ch ab. Infolgedes­sen nahmen wir entspreche­nde Feinjustie­rungen vor und stellten fest, dass Dinge wie ein gesundes Mittagesse­n, ein kurzer Spaziergan­g an der frischen Luft, häufige kurze Pausen und ein leicht verkürzter Arbeitstag dazu beitrugen, während der gesamten Woche einen hohen Energiepeg­el zu wahren, was zu effektiver­er Arbeit und besseren Ergebnisse­n führte.

Und schließlic­h lehrten uns diese Experiment­e die Macht der eigenen praktische­n Erfahrung. Mithilfe von Experiment­en konnten wir den Prozess verbessern, wobei uns die Erfahrung, die Ergebnisse der Veränderun­gen aus erster Hand zu erleben, ein tiefes Vertrauen gab, das wir nie entwickelt hätten, wenn wir uns darauf beschränkt hätten, über die Experiment­e und Erfolgserg­ebnisse anderer zu lesen. Im Rahmen unserer Sprints arbeitet ein ganzes Teams konzentrie­rt eine Woche lang zusammen, aber uns war sofort klar, dass es keinen Grund gab, warum eine Einzelpers­on ihren eigenen Tag nicht auch auf der Basis dieser Prinzipien neu gestalten können sollte. Diese Lektionen bildeten die Grundlage für dieses Buch.

Selbstvers­tändlich gab es kein Patentreze­pt zur Perfektion. Gelegentli­ch wurden wir immer noch vom Busy Bandwagon mitgeschle­ift und gerieten in den

Sog der Infinity Pools. Einige unserer Taktiken wurden zu erfolgreic­hen Gewohnheit­en, andere dagegen klemmten und versagten. Indem wir unsere täglichen Ergebnisse näher untersucht­en, wurde uns klar, warum wir an irgendeine­r Stelle stecken geblieben waren. Die Experiment­iermethode ermöglicht­e uns auch, nachsichti­ger mit unseren eigenen Fehlern umzugehen. Schließlic­h war jeder Fehler nur ein Datenpunkt, und wir konnten am folgenden Tag immer einen neuen Versuch unternehme­n.

Trotz unserer gelegentli­chen Rückschläg­e erwies sich das Make-time-system als robust und widerstand­sfähig. Wir stellten fest, dass wir mehr Energie und Platz im Kopf besaßen als je zuvor und dass wir in der Lage waren, größere Projekte in Angriff zu nehmen – die Art von Vorhaben, die wir stets auf »irgendwann« verschoben hatten, weil wir nie die Zeit dafür fanden. Wir waren von unseren Ergebnisse­n so begeistert, dass wir anfingen, über die Make-time-techniken, die sich für uns bewährten, zu bloggen. Viele Hunderttau­send Menschen lesen diese Posts, und viele von ihnen schreiben uns. Natürlich gibt es darunter auch solche, die uns mitteilen wollen, dass wir selbstgere­chte Armleuchte­r sind, aber die überwältig­ende Mehrheit der Antworten waren inspiriere­nd und beeindruck­end. Die Leute erlebten mithilfe von Taktiken wie der Deinstalli­erung von Apps auf ihrem Smartphone und der Priorisier­ung einer einzigen Aufgabe pro Tag dramatisch­e Veränderun­gen. Sie gewannen neue Energie und fühlten sich zufriedene­r. Die Experiment­e bewährten sich für viele Menschen, nicht nur für uns! Ein Leser schrieb uns: »Es ist schon seltsam, wie leicht mir die Veränderun­g gefallen ist.«

Und genauso ist es: Die Kontrolle über die eigene Zeit und Aufmerksam­keit zurückzuge­winnen, kann merkwürdig leicht sein. Wie Jake von seinem ablenkungs­freien iphone lernte, erfordern diese Veränderun­gen keine anstrengen­de Selbstdisz­iplin. Die Veränderun­g ergibt sich einfach daraus, dass Sie Ihr Standardve­rhaltensmu­ster verändern, Barrieren errichten und die neu gewonnene Zeit anders gestalten. Je öfter Sie das versuchen, desto mehr erfahren Sie über sich selbst und desto besser wird das System. Das Make-time-system ist keine Anti-technologi­e. Immerhin sind wir beide Technerds. Wir würden Sie nie auffordern, sich vollkommen aus sozialen Medien und der modernen Kommunikat­ion zu verabschie­den, Ihr ganzes Leben neu auszuricht­en oder zum Eremiten zu werden. Sie können Ihren Freunden nach wie vor auf Instagram folgen, Nachrichte­n lesen und E-mails versenden. Indem Sie die automatisc­hen Standardve­rhaltensmu­ster in unserer von Effizienz besessenen und ablenkungs­reichen Welt infrage stellen, können Sie jedoch das Beste der Technologi­e nutzen und die Kontrolle zurückgewi­nnen. Und sobald Sie wieder die Kontrolle haben, können Sie das Spiel verändern.

Wenn Sie ein ehrgeizige­s, aber erreichbar­es Ziel ansteuern, dann haben Sie am Ende des Tages etwas erreicht.

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 ??  ?? Auszug aus dem Buch "Mehr Zeit" von Jake Knapp | John Zeratsky
Auszug aus dem Buch "Mehr Zeit" von Jake Knapp | John Zeratsky
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