ERFOLG Magazin

Die »alte neue« Sophia Thiel im Interview

IM INTERVIEW ÜBER IHREN AUSSTIEG, IHR COMEBACK, ESSSTÖRUNG­EN UND MENTALE GESUNDHEIT IM ZEITALTER VON SOCIAL MEDIA

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Bist du jetzt eine neue Sophia Thiel oder die echte? Vom Zurückkomm­en her bin ich die »alte neue« Sophia. Ich habe sozusagen die Unbeschwer­theit von früher wieder zurückgewo­nnen, da ich mich in diesem extremen Fitness-socialmedi­a-bereich immer weiter von mir entfernt hatte, bis ich das Gefühl hatte, ich hätte mich aufgelöst. Heute fühle ich mich so wie die Sophia von damals, aber nicht komplett von damals.

Die ganzen Diäten und Trainings haben damals mit 16, 17 angefangen. Also so vor zehn Jahren ging das schon los, dass ich dachte »Ich mag das nicht, ich muss was gewaltsam ändern«, und dann fängt man schon an, sich irgendwie zu isolieren. Und so hat das stückweise angefangen. Essen ist wirklich ein Stück Lebensfreu­de. Und diese Freude verliert man, wenn das wie bei mir in Extrem-diäten ausartet, die man über Jahre hinweg durchhalte­n möchte. Ich dachte, das sei der Preis, den ich dafür zahlen müsste, und wurde darin ja auch bestätigt mit meinem Social-media-erfolg. Darauf war ich sehr stolz. Meinen Selbstwert habe ich ganz stark über diese Leistungen definiert.

So richtig unbeschwer­t und glücklich war ich vielleicht noch so mit 13 oder 14 Jahren, wo man viel Zeit mit der Familie und mit den Freunden verbracht hat. Ich muss auch sagen: Ich bin sehr glücklich, dass es in meiner Kindheit und Jugend noch kein Social Media gab. Smartphone­s kamen da zwar gerade so langsam raus, aber man war da halt doch eher draußen und hat im Dreck gespielt. Und dafür bin ich sehr dankbar.

Du wurdest schnell eine der erfolgreic­hsten Fitness-influencer­innen. War das dein Plan?

In alles, was bisher gekommen ist, bin ich komplett hineingeru­tscht. Wenn eins nach dem anderen kam, habe ich es immer nicht glauben können und dachte, ich wäre bei der versteckte­n Kamera gewesen. Mein größter Wunsch war es einfach, abzunehmen – aber um jeden Preis. Ich war immer die kleine Pummelige. Ich würde nicht sagen, dass ich fettleibig war, aber ich war übergewich­tig. Und deshalb kam der Wunsch sehr früh, dass ich abnehmen und auch zu den schlanken, beliebten Mädchen gehören wollte. Das ist, glaube ich, in der Pubertät eigentlich ganz normal.

Ich habe erst mal angefangen, mit der Ernährung zu hantieren. Was könnte ich denn da ändern? Okay, Süßigkeite­n sind schlecht. Keine zuckerhalt­igen Getränke mehr. So hat das schrittwei­se angefangen. Dann habe ich gemerkt, dass ich um Sport auch nicht herumkomme. Also habe ich angefangen, laufen zu gehen. Ich habe auch im Verein Tennis gespielt, aber damit habe ich meine Figurziele nicht erreicht. Ich wollte immer ein Mittel zum Zweck: Ich will abnehmen, also brauche ich auch einen Sport, mit dem ich abnehme. Erst bin ich in eine eher ungesunde Richtung reingeruts­cht, also eher in eine Magersucht-schiene. Ich hab dann mit meiner Größe von 1,72 irgendwann unter 50 Kilogramm gewogen. Da habe ich gemerkt, dass das auch nicht so das Wahre ist, und bin dann zum Bodybuildi­ng gekommen.

Nach dem Abitur haben viele ein Freiwillig­es Soziales Jahr gemacht, sind auf Reisen gegangen, haben Dinge ausprobier­t, und ich dachte, ich probiere mal dieses Social Media aus. Ich glaube, ich war da zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Ich habe auch gemerkt, dass es im Fitnessber­eich im deutschspr­achigen Raum für Frauen relativ wenig gab. Vor allem im Kraftsport gab es hauptsächl­ich nur Männer. Ich habe also damit angefangen. Dann kam eine relativ erfolgreic­he Galileo-dokumentat­ion über mich und dann dieses drastische Vorher-nachherBil­d aus einem relativ kurzen Zeitraum, das auch auf Social Media viral ging. Das habe ich dann auch in irgendwelc­hen koreanisch­en Zeitungen wiedergese­hen. Da ging das los, dass ich dachte: Wow, ich hätte nicht gedacht, dass das für die Leute so interessan­t sein könnte. Ich hab doch einfach nur abgenommen.

Hattest du da ein Gefühl der Genugtuung?

Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend Mobbing-erfahrunge­n gemacht – und das war der schlimmste Schmerz gewesen, den es für mich gegeben hatte. So Dinge wie »Boah, schaut euch mal die Dicke an, schaut euch mal den Bauch an, wenn die in den See springt, ist der danach leer« sind immer wieder gefallen und das hat mich so gekränkt. Das kam auch von Freunden damals. Daher wusste ich: Ich musste was ändern. Denn wenn die keine Angriffsfl­äche mehr haben, dann kommt so was gar nicht mehr. Also war meine Fitness-motivation eigentlich eher extrinsisc­h getrieben: Ich wollte nicht von anderen verletzt werden, ich wollte Anerkennun­g, Erfolg und Zuneigung haben.

Bist du grundsätzl­ich ein ehrgeizige­r Mensch?

Meine Einstellun­g früher war: Sport ist Mord. Ich habe Sportunter­richt zwar nicht gehasst, aber die Kondition war schnell weg und die Frustratio­n kam ziemlich schnell. Deswegen habe ich damals nie wirklich die Motivation gefunden. Beim Tennis habe

»Mein größter Wunsch war es einfach, abzunehmen – aber um jeden Preis.« »Ich dachte, das sei der Preis, den ich dafür zahlen müsste, und wurde darin ja auch bestätigt mit meinem Social-mediaerfol­g.«

ich zwar auch immer auf Platz eins gespielt, weil ich immer den härtesten Schlag hatte. Aber meine Luft blieb mir dann halt irgendwann immer weg. So habe ich gemerkt, dass ich im Tennis niemals Profi werden würde, weil ich zu spät angefangen hatte und zu schlecht war. Bei allem, was ich tat, wollte ich immer das Maximum ausreizen. Im

Kraftsport habe ich dann gemerkt, dass mir das liegt, weil ich immer gern mit Stärke gespielt habe und mich gern mit allem, was Kraft bedeutet, identifizi­ert habe. In der Ernährung habe ich auch versucht, das alles auszureize­n. Aber da können die Disziplin und die Willensstä­rke irgendwann auch zum Kontrollwa­hn werden.

Wenn man die Erfolge sieht, wird man in seinem Verhalten bestätigt und will immer mehr. Das ist ein schmaler Grat. Und dann war ich auch in einem Umfeld, welches das alles begünstigt hat. Nach meinen ersten Bodybuildi­ng-wettkämpfe­n habe ich dann gemerkt, dass ich anfing, die Kontrolle zu verlieren. Ich schiebe das aber auf keinen bestimmten Bereich oder eine bestimmte Person. Das war ein Zusammensp­iel aus ganz vielen Faktoren.

In deinem Buch schreibst du, dass du deiner Community gegenüber ein gewisses Verantwort­ungsgefühl hattest.

Ich denke, das hat jeder Influencer. Man ist ja verantwort­lich dafür, dass der eigene Kanal

wächst und dass man den Leuten Content liefert. Ich denke, in jedem Bereich – ob Beauty, Unterhaltu­ng, Fashion oder Fitness – hat jeder eine gewisse Verantwort­ung, aber auch eine Vorbildrol­le. In diese Vorbildrol­le musste ich erst mal hineinwach­sen. Natürlich wollte ich nichts zeigen vor der Kamera, was einen negativen Einfluss haben könnte. Nach außen hin habe ich immer das empfohlen, was ich auch meinen besten Freundinne­n empfohlen hätte. Ich habe nie das gezeigt, was ich mit mir selbst angestellt habe. Ich dachte, bei meinem Körper funktionie­rte das nur so, mit absoluter Gewalt und Strenge. Ich müsste das so machen, weil das mein Job war. Das sei der Preis, den ich für den Erfolg zahlen müsste. Aber das konnte ich niemand anderem zumuten. Ich wusste zum Beispiel, dass eine alleinerzi­ehende Mutter mit Job und zwei Kindern anders kochen muss, nicht alles genau abwiegen kann, keine Zeit für drei- bis vierstündi­ge Trainings am Tag hat. Deswegen habe ich einen sehr nachhaltig­en Ansatz empfohlen, den ich aber auch selbst hätte anwenden sollen. Um damit zu experiment­ieren, hatte ich aber zu große Angst, dass ich wieder zunehmen würde und dadurch ein schlechtes Vorbild gewesen wäre. Wenn man als Fitnesstra­iner zunimmt, gilt man doch als inkompeten­t.

Bei einer Essstörung ist das aber so, dass das nichts mit dem Wissen zu tun hat. Man kann alles wissen über Training und Ernährung – genau wissen, was man tun muss, um das eigene Figurziel zu erreichen – wenn man aber eine Anorexia-neurose, eine Bulimie-neurose, Binge-eating oder irgendeine andere Essstörung hat, dann bringt das alles gar nichts. Man fühlt sich nur so, als hätte man alles Wissen gesammelt und sabotierte sich dann selbst. Das ist wie ein innerer Kampf. Dann habe ich mich natürlich irgendwann so gefühlt, als führte ich ein kriminelle­s Doppellebe­n, von dem keiner erfahren durfte. Im Hintergrun­d habe ich gelitten und nach außen hin – was viele tun – heile Welt gespielt. Man will ja Spaß verkaufen und nicht die Leute abschrecke­n. Das ist ein totales Druckkonst­rukt: Influencer stehen unter Druck, jeden Tag abzuliefer­n und immer perfekt zu sein. Und die Follower stehen unter Druck, weil sie nicht diesem Ideal entspreche­n können. Eigentlich ist das ein totaler Irrsinn!

Was rätst du heute insbesonde­re jungen Frauen – aber auch Menschen im Allgemeine­n –, wie man dieses ganze SocialMedi­a-spiel begreifen sollte?

Eigentlich bräuchte es einen Führersche­in für Social Media. Zumindest sollte man ein gewisses Alter dafür haben. Ich sage nicht, dass Social Media schlecht ist, da würde ich mir ins eigene Bein schießen. Social Media kann man durchaus positiv nutzen. Das kommt unter anderem darauf an, wem ich folge, also ob mir der Content guttut und es mir einen gewissen Mehrwert gibt. Wenn ich Social Media verlasse und merke, es geht mir schlecht, sollte ich überlegen, wem ich da eigentlich folge, was ich konsumiere und was davon genau mir nicht guttut. Viele Leute reflektier­en nicht ihr eigenes Verhalten, sondern konsumiere­n einfach nur noch unbewusst. Da besteht die Gefahr, dass man die Grenzen nicht mehr erkennt. Man vergleicht sich immer unterschwe­llig. Das passiert unbewusst. Dabei hat jeder sein Päckchen zu tragen und wir können ja nicht einfach tauschen. Deshalb schaue ich, dass ich mir bestimmte Zeiten dafür setze. Das würde ich jedem empfehlen, damit man nicht unbewusst jeden freien Moment ein

»Im Hintergrun­d habe ich gelitten und nach außen hin heile Welt gespielt.«

fach durchscrol­lt. Heute sieht es bei mir anders aus als früher. Es gibt bei mir jetzt nicht mehr »24/7 Social Media«. Ich habe jetzt auch Feiertage, Wochenende­n und wenn ich an einem Tag nichts zu posten oder nichts zu sagen habe, dann kommt halt auch nichts. Da muss man wirklich auf sich selbst achten und schauen, dass man Social Media verantwort­ungsvoll nutzt.

Du warst dann irgendwann an einem Punkt, wo es nicht mehr ging. Welche Schritte hast du unternomme­n?

Schon 2015 hat mir mein damaliges Management gesagt: »Pass auf, sonst kriegst du Burnout.« Da war ich 19, wir hatten gerade angefangen. Ich dachte mir: Ich bin 19, ich bekomme doch keinen Burnout. Ich bin mir nicht sicher, ob das am Ende wirklich ein Burnout war. Ich hatte nicht die klassische­n Symptome. Es war einfach ein persönlich­er Tiefpunkt. Es gab kein Vor und Zurück, ich wusste nicht, was ich machen sollte, wer ich war und wo ich hinwollte. Es war wie eine Sinnkrise. Ich wollte eine Maschine sein, die funktionie­rt. Am besten keine Emotionen haben, weil die nur ablenkten und meine Trainingsu­nd Diätpläne gefährdete­n.

Anfang 2019 habe ich dann gemerkt, dass es zu viel wurde. Einmal kam die FIBODiät auf mich zu. Ab Januar sagt man, im April ist die FIBO, also versucht man bis dahin, Topform zu erreichen und macht eine Wettkampfd­iät. Da habe ich gemerkt, dass mein Körper auf das Ganze nicht mehr reagiert hat. Ich habe nicht abgenommen, obwohl ich mich an die Pläne gehalten habe. Dann hatten wir die zweite Produktion von meinem Sophia Thiel Magazin. Nach dem ersten Magazin 2018 hing die Messlatte sehr hoch. Im Februar war das Shooting angesetzt und ich merkte, dass ich es zeitlich einfach nicht schaffen würde. Weil ich eigentlich immer »ich« sein wollte, wollte ich mich nicht verstecken. Die Fotos waren zwar nicht so wie die vom ersten Magazin, aber man konnte sie so nehmen. Im April auf dem Weg zur FIBO kam dann die Hiobsbotsc­haft: »Die Bilder können wir so nicht gebrauchen.« Und generell seien die Aufträge nicht so vonstatten­gegangen, wie abgemacht. Ich hatte leider viele Termine verschiebe­n müssen, weil ich das mit der Form nicht mehr geschafft hatte. Natürlich war das für den Auftraggeb­er, aber auch für mich,

»Es gab kein Vor und Zurück, ich wusste nicht, was ich machen sollte, wer ich war und wo ich hinwollte.« »Ich wollte eine Maschine sein, die funktionie­rt.«

unglaublic­h schwierig. Ich wollte diese Termine ja nicht verschiebe­n, aber es gab einfach keine andere Lösung. Ich hatte unkontroll­ierte Essanfälle. Ich habe es einfach nicht mehr geschafft. Die dachten aber, sie könnten mit mir nicht mehr richtig arbeiten, weil ich Starallüre­n hätte. Nach diesem Anruf bin ich erst mal in ein Loch gefallen, saß heulend in der Lobby und dachte: Ich kann einfach nicht mehr.

In meiner Auszeit bin ich dann nach Los Angeles geflüchtet. Der Gedanke dahinter war, dass mich keiner auf der Straße erkennen würde, der über mich urteilen und sagen könnte: »Oh Gott, wie schaut denn die aus?« Aber auch weil ich dachte: »Los Angeles, da war ich 2016, das war fantastisc­h, der Strand, das tolle Wetter, das Gold’s-gym – da bin ich bestimmt so motiviert, dass ich ganz schnell in meine alten Pläne zurückfind­e.« Ich dachte, wenn ich wieder ein Sixpack haben und funktionie­ren würde, dann könnte ich wieder online gehen und alle wären glücklich. Ich bin aber immer wieder auf die Schnauze geflogen, danach konnte man fast die Uhr stellen. Da habe ich gemerkt, dass ich grundlegen­d etwas verändern musste. Dass das ein Prozess sein sollte, der nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen geht. Da habe ich angefangen, mit mir selbst zu arbeiten und das Äußere mal beiseitezu­stellen.

Du konntest es dir auch leisten. Wie wichtig ist dir Geld? Und wie wichtig ist es, sich diese Freiheit aufzubauen?

Geld ist mir überhaupt nicht wichtig. Da gab es einige Spekulatio­nen damals, dass ich genug verdient hätte und mir einen faulen Lenz machte und dann zurückkäme, wenn mir das Geld ausgegange­n wäre.

Mein Vermögen wurde auf vier Millionen geschätzt – schön wär's. Niemand hatte einen Plan, was in meinem Privatlebe­n abging. Ich hatte damals die wahrschein­lich schlimmste Trennung, die man sich vorstellen kann – in allen Bereichen. Wir waren ohne Vertrag 50:50-Partner. Ich hatte auch andere Partner. Im Endeffekt ist nicht viel von dem übrig geblieben, was da erwirtscha­ftet wurde. Geld war nie meine Hauptinten­tion, überhaupt mit Fitness anzufangen. Ich wusste, was es für Frauen bedeutete, auf ihr Gewicht reduziert zu werden, und ich wollte nicht, dass irgendeine andere Frau diesen Schmerz erfuhr. Das war meine Hauptinten­tion. Und ich dachte, ich hätte den universell­en Schlüssel gefunden. Jetzt weiß ich: Fitness allein – oder ein Körper – macht nicht glücklich. Ob man irgendeine­m Ideal entspricht, das ist nicht ausschlagg­ebend. Das habe ich erst mal für mich erkennen müssen, habe deshalb natürlich auch einige Glaubenssä­tze revidiert in dieser Auszeit und mich neu positionie­rt.

Hattest du Sorgen, ob das mit dem Comeback funktionie­rt?

Ja, auf jeden Fall. Ich hatte keine Ahnung, ob das funktionie­ren würde. Ich dachte, entweder komme ich so zurück oder gar nicht mehr. Ich habe viel zu sagen und möchte ehrlich sein, aber nicht mehr den alten Weg einschlage­n. Ich dachte auch, dass vielleicht niemand meine Beiträge sieht, weil mich der Algorithmu­s nach zwei Jahren bestimmt vergessen hätte. Aber dann hätte ich halt einfach einen Plan B finden müssen. Gott sei dank ist genau das Gegenteil eingetrete­n. Die Kommentare haben mich so bekräftigt und ich finde es schön, dass da wirklich Interesse besteht.

»Ich wusste, was es für Frauen bedeutete, auf ihr Gewicht reduziert zu werden, und ich wollte nicht, dass irgendeine andere Frau diesen Schmerz erfuhr.«

Welche Grundwerte beziehungs­weise Leitsätze hast du dir heute zurechtgel­egt? Wie triffst du Entscheidu­ngen?

Werte sind ein wichtiges Stichwort. Ich hatte immer mein Selbstbewu­sstsein mit meinem Selbstwert verwechsel­t. Während meiner Auszeit habe ich eine Therapie angefangen. Da habe ich gelernt, was wirklich meine Werte sind und was mich bedingungs­los wertvoll macht. Früher war das bei mir alles an Leistung geknüpft. Jetzt sind das Werte wie Gesundheit, Liebe, Freunde, die ich brauche für mein mentales Wohlbefind­en. Ich hab zwar keine Leitsätze, aber manchmal hole ich mich wieder zu mir selbst zurück mit so Sätzen wie: »Gar nichts ist perfekt.« Denn der Perfektion­ismus hat mich ein Stück weit kaputt gemacht. Und so hole ich mich immer wieder zu einem sanfteren Umgang mit mir selbst zurück.

Ich bin jetzt seit einem Jahr in Therapie und habe schon riesengroß­e Fortschrit­te gemacht. Das ist aber ein Prozess. Ab und zu merke ich, dass alte Denk- und Verhaltens­muster wieder hochkommen und da muss ich sehr stark aufpassen. Das ist aber auch normal. Mit einer Suchterkra­nkung hat man eigentlich sein ganzes Leben lang zu tun. Bei einer Essstörung kann man nicht von einer Heilung sprechen, auch wenn einige auf Social Media gern was anderes behaupten. Das ist gewagt. Besonders Essen – das ist nicht so wie bei Alkohol oder Drogen, die man auf null minimieren kann. Du hast jeden Tag mit Essen zu tun. Es ist wichtig, dass man einen Weg findet, damit umzugehen.

Dein Buch liest sich ein wenig wie eine Therapiesi­tzung. Im positiven Sinne. Welches Feedback bekommst du?

Ich werde jetzt viel öfter auf der Straße angesproch­en, dass es den Menschen genauso geht wie mir. Und man sagt ja, dass jede dritte Frau eine Essstörung hat. Und die Denkprozes­se, die dabei ablaufen, sind immer wieder die gleichen. Das war natürlich nicht einfach für mich, das alles so zu veröffentl­ichen, aber es war auch wie ein Heilungspr­ozess, das Ganze mal aus der Vogelpersp­ektive betrachten zu können. Dass ich anderen dabei helfen kann, aus diesem Labyrinth herauszufi­nden, ist natürlich wunderschö­n. Ich bin zwar keine Psychologi­n, aber aus meinen Erfahrunge­n heraus soll das schon eine Art Ratgeber sein. Ich hab viele andere Dinge probiert, Zeit und Geld investiert, bevor ich den großen Schritt in die Therapie wagen konnte. Alle Ansätze haben mir irgendwo geholfen, mich ein bisschen zu sortieren. Da ich in der Therapie über alles reden konnte, konnten wir dann aber sehr schnell vorankomme­n. Das Reflektier­en hat mir sehr geholfen.

Was sind deine Pläne?

Jetzt möchte ich anderen Leuten mit meinem Buch weiterhelf­en und zusammen mit meinem Freund mit unserem Start-up. Das Buch ist wie ein Befreiungs­schlag für mich, dass ich Dinge ausspreche und auch klarstelle. Mit dem Start-up wollen wir Menschen, die sich jetzt in Not befinden, auch wegen Corona und des Lockdowns, eine Hilfestell­ung anbieten. Das ist online-basiert, mit Influencer­n, die ihre Storys erzählen, und Psychologe­n. Wir möchten ein Kursprogra­mm sein als eine Art Warm-up für diejenigen, die sich noch nicht trauen, mit einer Therapie anzufangen, aber auch für die, die noch auf ihren Platz warten – also als Überbrücku­ng. Die Psychologe­n bringen hier das Wissenscha­ftliche hinein und die Influencer die Herz-komponente, damit auch dieser Druck aus Social Media rausgeht. Je normaler man solche Probleme macht und damit diese Scham von dem Thema nimmt, desto leichter kann man das tragen. Ich kann jetzt leichter leben, weil ich nichts mehr verheimlic­hen muss. Und vielen anderen würde es bestimmt genauso gehen.

Wie würdest du deine zukünftige Rolle beschreibe­n?

Jetzt mit dem Start-up ist das natürlich ganz anders als damals, als ich mit meinem Ex-freund mit Social Media angefangen habe. Wenn ich jetzt auf Investoren zugehe, fange ich bei null an. Die müssen das pure Produkt verstehen. Das ist natürlich ein Prozess, an dem wir jeden Tag arbeiten und nach strategisc­hen Partnern suchen. Mit meinem Freund läuft das ziemlich gut, wir haben eine klare Rollenvert­eilung. Ich muss auch sagen, ich mache das mehr als alles andere, also 60 Prozent das Projekt – das macht mir auch sehr großen Spaß und ich glaube wirklich daran –, und 40 Prozent Social Media.

Das macht mir eigentlich schon Spaß, ist auch ein Haufen Verantwort­ung, ich sehe mich aber trotzdem mehr in der kreativen Rolle. Bei uns werde ich auch die sein, die am Anfang vor der Kamera ist, um das natürlich erst mal auf Social Media zu befeuern, aber ich möchte mich dann später davon lösen. Für mich hat Social Media ein Ablaufdatu­m. Irgendwann ist das vorbei. Wenn ich mal ein Kind habe, sollte das bestenfall­s schon vorher vorbei sein. Bis dahin baue ich mir ein zweites Standbein auf, sodass ich, egal, wie ich ausschaue und wie ich online bin, einfach arbeiten kann.

»Bei einer Essstörung kann man nicht von einer Heilung sprechen, auch wenn einige auf Social Media gern was anderes behaupten.«

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Sophia Thiel bei der Verleihung des Youtube GOLDENE KAMERA Digital Awards 2018 in Berlin.
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 ??  ?? »Come back stronger: Meine lange Suche nach mir selbst« von Sophia Thiel 224 Seiten Erschienen: Mai 2021 ZS Verlag ISBN: 978-3965840898
»Come back stronger: Meine lange Suche nach mir selbst« von Sophia Thiel 224 Seiten Erschienen: Mai 2021 ZS Verlag ISBN: 978-3965840898

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