Frankfurter Allgemeine Quarterly
Vinkeveen Minihäuser
Ob man vor Corona aufs Land flieht oder die Stadt effektiver nutzen will: Neue, kluge Minihäuser zeigen, wie wenig Platz man zum Leben braucht
Fenster auf: Man sieht keine Häuser, keinen Stau und keine Demo von irgendwelchen Irren, sondern Wiesen. Freie Felder. Morgensonne auf glitzerndem Wasser. Strandhafer. Tür auf: keine Nachbarn, außer ein paar Hasen, die elegant gen Horizont hüpfen. Niemand hustet, keiner trägt eine Maske, niemand kommt mit acht Paketen Klopapier um die Ecke.
Der Traum von der kleinen Hütte mitten in der Natur ist älter als die Krisen, die in regelmäßigen Abständen die urbanen Gesellschaften erschüttern. Seit es Städte gibt, gibt es den Wunsch, nicht dort zu sein, und dieser Wunsch hat der Architekturgeschichte mit ihre schönsten Bauten beschert, etliche Palladio-villen, die waghalsig auf dem Capo Massullo balancierende Casa Malaparte, das Glashaus von Philip Johnson in den Wäldern nördlich von New York. Und immer ging es um die Frage, wie man eigentlich leben will, wie viel Platz man zum Leben braucht. Das gerade erst mit dem renommierten holländischen Architekturpreis und dazu mit dem Dezeen House Interior of the Year Award ausgezeichnete „Tiny holiday home“der Designfirma i29 und des Architekten Chris Collaris ist ein weiteres Beispiel. Es steht am Vinkeveense Plassen, einem See im Süden von Amsterdam, keine halbe Stunde vom Zentrum der Stadt entfernt, wo Kiefern stehen und es ein wenig südlicher aussieht als sonst im „Platteland“, wie das die Holländer nicht ohne Grund nennen.
Was man sieht, sind ein paar schwarze, senkrecht mit Kiefernholz verschalte Kuben, die sich so geschickt aneinanderwürfeln, dass die wandernde Sonne immer neue Effekte auf den Betonboden und an die Holzwände zaubert; das kleine Haus, das ein wenig an eine dunkle Variante der schönen modernen Holzhäuser erinnert, die von Architekten wie Charles Gwathmey auf Long Island errichtet wurden, hat nur 55 Quadratmeter Grundfläche, fühlt sich aber innen mindestens doppelt so groß und so luftig wie ein klassischer kalifornischer Bungalow der sechziger Jahre an. Das kleine Haus ist ein klassisches Beispiel für kluges Design: Die Architekten verschwenden keinen Platz für lange Korridore und bekommen auf der Fläche einer Zweizimmerwohnung ein Wohnzimmer, eine Küche mit großem Esstisch, einen intimen Innenhof, drei Schlafzimmer, ein Bad und zwei Toiletten unter. Über bodentiefe Schiebefenster lässt sich das Haus komplett öffnen. Wenn man Wohnungen in der Stadt ähnlich intelligent bauen würde, könnte man auch dort mit deutlicher weniger Platz und Ressourcen klarkommen: Eine vierköpfige Familie kann hier nicht nur am Wochenende leben.
Dass man es sogar auf noch weniger Quadratmetern gut aushalten kann (vor allem wenn drum herum Bäume und keine Nachbarn leben), zeigt Adam Pszczolkowski mit seinem nur 35 Quadratmeter großen, soeben fertiggestellten Wochenendhaus, das wie ein klassisches Braun-radio der sechziger Jahre in einem Garten bei Warschau steht und aus dem man aus zwei riesigen Schaufenstern in die Natur schaut. Auch dieses Haus zeigt, wie gut Sperrholz und Glas zusammen aussehen können – und wie das Bauen, das ja zu den größten
Co2-verursachern der Welt gehört, weniger energieintensiv, mit nachwachsenden Rohstoffen arbeiten kann. Das versuchen auch Leslie Lok und Sasa Zivkovic, der Direktor des Roboterlabors der Universität von Cornell; beide haben für ihr Ashen Cabin getauftes Minihaus in Upstate New York einen 3D-drucker und Recyclingmaterialien genutzt sowie das Holz von Eschen, die von Käfern befallen wurden und in der Regel gefällt und verbrannt werden. Die Fundamente wurden aus Beton gedruckt, was angeblich CO2 einspart, weil man keine Schalung mehr brauche, und der Roboterarm, den Zivkovic aus einem alten Industrieroboter zusammenbaute, fräst die Bretter in komplexen, irregulären Formen, die ebenfalls den Materialaufwand reduzieren. Nur innen herrscht nicht das Diktat absoluter Co2-einsparung: Die Hütte hat, wie die meisten Hütten in der Architekturgeschichte vor ihr, einen schönen großen Kamin, der die hintere Ecke des Einraums dominiert.
Der Traum vom Haus in der Natur ist fast so alt wie die Freude daran, am Feuer zu sitzen, und je größer die Städte wurden, desto größer wurde der Wunsch, sie zu verlassen: Schon die Römer träumten vom „otium“, der Muße eines Lebens auf dem Land oder am Meer, wo man sich den wesentlichen Dingen widmen konnte jenseits des hektischen Stadtlebens. Der Zivilisationskritiker Jean-jacques Rousseau zog 1778 in eine Hütte, die ihm sein Verehrer, der Marquis de Girardin, gebaut hatte, Henry David Thoreau nagelte sich 1845 in den Wäldern von Concord, Massachusetts, eine Bude zusammen, in der das Einzige, was er von den großen Städten hörte, der nach New York heulende Zug war, und schrieb seinen legendären Aussteiger-bestseller „Walden“darüber. Seitdem träumen viele amerikanische Städter mit ihm
vom „Leben in den Wäldern“. Wobei die Stadtmüden grob in zwei Gruppen zerfallen, in die Leute mit den olivgrünen und die mit den weißen Hosen – also in jene, die einen Bürgerkrieg fürchten oder Pandemien, die die städtische Zivilisation auslöschen, und in jene, die nur hin und wieder aufs Land ausweichen möchten, um sich zu erholen. Deren Anteil nimmt gerade stark zu, was man an den Immobilienpreisen im Dunstkreis der großen Städte ablesen kann: Während des Lockdowns zogen es diejenigen, die es sich leisten konnten, vor, jenseits der Infektionsherde und Ausgangsbeschränkungen über leere Strände und durch Wälder zu laufen und ihren Job via Zoom zu erledigen. Bei New York sind die Grundstücks- und Ferienhauspreise in der Pandemie teilweise um ein Vielfaches gestiegen.
In Frankreich hatten im Frühjahr, als der erste Lockdown verkündet wurde, eine Million Pariser ihre Stadt binnen eines Tages verlassen, um sich in ihre Ferienhäuser zurückzuziehen. An den Küsten schlägt man sich jetzt um die letzten Immobilien und Baugrundstücke, auf denen man ein kleines fischerhüttenartiges Häuschen renovieren oder aufstellen kann, wie es zuletzt die Architekten von „Freaks Architecture“mit ihrer Viking Seaside Cabin vorgeführt haben: Sie renovierten eine Fischerhütte aus den fünfziger Jahren, die genauso groß wie Thoreaus Hütte, nämlich drei mal vier Meter, ist, bauten große Fenster ein und strichen innen alles weiß, was den Innenraum mindestens doppelt so groß wirken lässt. Damit ist das französische Wikingerhaus noch kleiner als die Hütte, die die Architekten Addison Godine, Rachel Moranis und Wyatt Komarin nicht weit von Walden bei Concord errichtet haben; die Form der schwarzen, unten angeschrägten Box ergibt sich aus den Vorgaben für die maximale Größe dessen, was man in den Vereinigten Staaten auf einem kleineren Truck transportieren darf. In Deutschland ist schon vor Jahren an der Universität Weimar am Lehrstuhl von Michael Loudon eine Minimalhütte mit einem Holzrahmen und Kunststoffpaneelen für zwei Personen entstanden, in der man schlafen, zusammensitzen, sich etwas kochen und aus aufklappbaren Luken in die Welt schauen kann, ein Allerkleinsthaus, an dem alles außer dem Namen „Seelenkiste“sehr schön ist.
Wem der Wald zu dunkel, die Grundstückssuche zu mühsam und die Kleinstkiste zu klein ist, der kann sich das „Waterlillihaus“der brasilianischen Firma Syshaus kaufen oder das „Floatwing“der Firma Friday, beides schwimmende Häuser mit Schlafzimmer, Bad und einem Wohnzimmer mit Kochnische, der Strom wird über Solarpaneele hergestellt, das Abwasser gefiltert. Das Waterlillihaus kann man in zwei Tagen zusammenbauen und an Land oder auf Schwimmkufen aufstellen. Floatwing ist sechs Meter breit und je nach Kundenwunsch zwischen zehn und achtzehn Meter lang, kann inklusive der hellen Holzeinrichtung in zwei Container verpackt und überall hinverschifft werden. Den Floatwing gibt es mit und ohne Motor. Von der Dachterrasse kann man einen schönen Köpper ins Wasser machen.
Gerade in der Corona-krise boomt das Geschäft mit kleinen Wochenendhäusern auf dem Land, sogar unattraktive Vorstadtimmobilien mit Garten ziehen an. Architekten und Politiker sehen das mit gemischten Gefühlen; der Traum vom Häuschen auf dem Land hat schließlich zur Zersiedlung der Natur, endlosen Pendlerstaus und anderen ökologischen Desastern geführt, weswegen radikale Verdichtung der Stadt eigentlich das Gebot der Stunde war. Gleichzeitig verweisen immer mehr auf die Potentiale der Digitalisierung: Wenn man via Internet zu Hause arbeiten kann, wie es in der Pandemie erprobt wurde, was spricht dagegen, nur noch von Zeit zu Zeit in die Stadt zu fahren?
Der Boom der neuen kleinen Minihäuser, die auf dem Land, aber auch auf den Dächern der großen Städte entstehen, ist mehr als nur ein Luxusphänomen: In den kleinen Häusern wird ausprobiert, wie viel man wirklich zum Leben braucht. Sie zeigen, wie man auch in den Städten den Platz besser nutzen könnte: Das turmförmige Holzhaus namens „Micro House Slim Fit“, das Ana Rocha Architecture gerade in Almere gebaut hat, könnte man sich theoretisch auch an einem einsamen Strand vorstellen. Aber es soll zeigen, wie man auf einer Grundfläche, die kleiner als zwei Parkplätze ist, ein Haus mit 60 Quadratmeter Wohnfläche bauen könnte. Man könnte es in Lücken zwischen Häusern, wie Aussichtstürme auf die Flachdächer von Hochhäusern oder als kleine Siedlung von 30 Häusern auf einem durchschnittlichen Supermarktparkplatz aufstellen. Wenn man dort noch einen kleinen Teich graben würde, eine Straße zum Kanal machte und Obstbäume pflanzte – dann wäre es mitten in der Stadt plötzlich ja vielleicht genauso schön wie auf dem Land.
Das Raumwunder: Auf der Fläche einer Zweizimmerwohnung entstehen drei Schlafzimmer mit Wohnzimmer, Küche und Bad sowie zwei Toiletten – samt Innenhof. Das ist ökologisch sinnvoll und sieht gut aus.