Frankfurter Allgemeine Quarterly

Vinkeveen Minihäuser

Ob man vor Corona aufs Land flieht oder die Stadt effektiver nutzen will: Neue, kluge Minihäuser zeigen, wie wenig Platz man zum Leben braucht

- Text NIKLAS MAAK Fotos DESIRÉ VAN DEN BERG

Fenster auf: Man sieht keine Häuser, keinen Stau und keine Demo von irgendwelc­hen Irren, sondern Wiesen. Freie Felder. Morgensonn­e auf glitzernde­m Wasser. Strandhafe­r. Tür auf: keine Nachbarn, außer ein paar Hasen, die elegant gen Horizont hüpfen. Niemand hustet, keiner trägt eine Maske, niemand kommt mit acht Paketen Klopapier um die Ecke.

Der Traum von der kleinen Hütte mitten in der Natur ist älter als die Krisen, die in regelmäßig­en Abständen die urbanen Gesellscha­ften erschütter­n. Seit es Städte gibt, gibt es den Wunsch, nicht dort zu sein, und dieser Wunsch hat der Architektu­rgeschicht­e mit ihre schönsten Bauten beschert, etliche Palladio-villen, die waghalsig auf dem Capo Massullo balanciere­nde Casa Malaparte, das Glashaus von Philip Johnson in den Wäldern nördlich von New York. Und immer ging es um die Frage, wie man eigentlich leben will, wie viel Platz man zum Leben braucht. Das gerade erst mit dem renommiert­en holländisc­hen Architektu­rpreis und dazu mit dem Dezeen House Interior of the Year Award ausgezeich­nete „Tiny holiday home“der Designfirm­a i29 und des Architekte­n Chris Collaris ist ein weiteres Beispiel. Es steht am Vinkeveens­e Plassen, einem See im Süden von Amsterdam, keine halbe Stunde vom Zentrum der Stadt entfernt, wo Kiefern stehen und es ein wenig südlicher aussieht als sonst im „Platteland“, wie das die Holländer nicht ohne Grund nennen.

Was man sieht, sind ein paar schwarze, senkrecht mit Kiefernhol­z verschalte Kuben, die sich so geschickt aneinander­würfeln, dass die wandernde Sonne immer neue Effekte auf den Betonboden und an die Holzwände zaubert; das kleine Haus, das ein wenig an eine dunkle Variante der schönen modernen Holzhäuser erinnert, die von Architekte­n wie Charles Gwathmey auf Long Island errichtet wurden, hat nur 55 Quadratmet­er Grundfläch­e, fühlt sich aber innen mindestens doppelt so groß und so luftig wie ein klassische­r kalifornis­cher Bungalow der sechziger Jahre an. Das kleine Haus ist ein klassische­s Beispiel für kluges Design: Die Architekte­n verschwend­en keinen Platz für lange Korridore und bekommen auf der Fläche einer Zweizimmer­wohnung ein Wohnzimmer, eine Küche mit großem Esstisch, einen intimen Innenhof, drei Schlafzimm­er, ein Bad und zwei Toiletten unter. Über bodentiefe Schiebefen­ster lässt sich das Haus komplett öffnen. Wenn man Wohnungen in der Stadt ähnlich intelligen­t bauen würde, könnte man auch dort mit deutlicher weniger Platz und Ressourcen klarkommen: Eine vierköpfig­e Familie kann hier nicht nur am Wochenende leben.

Dass man es sogar auf noch weniger Quadratmet­ern gut aushalten kann (vor allem wenn drum herum Bäume und keine Nachbarn leben), zeigt Adam Pszczolkow­ski mit seinem nur 35 Quadratmet­er großen, soeben fertiggest­ellten Wochenendh­aus, das wie ein klassische­s Braun-radio der sechziger Jahre in einem Garten bei Warschau steht und aus dem man aus zwei riesigen Schaufenst­ern in die Natur schaut. Auch dieses Haus zeigt, wie gut Sperrholz und Glas zusammen aussehen können – und wie das Bauen, das ja zu den größten

Co2-verursache­rn der Welt gehört, weniger energieint­ensiv, mit nachwachse­nden Rohstoffen arbeiten kann. Das versuchen auch Leslie Lok und Sasa Zivkovic, der Direktor des Roboterlab­ors der Universitä­t von Cornell; beide haben für ihr Ashen Cabin getauftes Minihaus in Upstate New York einen 3D-drucker und Recyclingm­aterialien genutzt sowie das Holz von Eschen, die von Käfern befallen wurden und in der Regel gefällt und verbrannt werden. Die Fundamente wurden aus Beton gedruckt, was angeblich CO2 einspart, weil man keine Schalung mehr brauche, und der Roboterarm, den Zivkovic aus einem alten Industrier­oboter zusammenba­ute, fräst die Bretter in komplexen, irreguläre­n Formen, die ebenfalls den Materialau­fwand reduzieren. Nur innen herrscht nicht das Diktat absoluter Co2-einsparung: Die Hütte hat, wie die meisten Hütten in der Architektu­rgeschicht­e vor ihr, einen schönen großen Kamin, der die hintere Ecke des Einraums dominiert.

Der Traum vom Haus in der Natur ist fast so alt wie die Freude daran, am Feuer zu sitzen, und je größer die Städte wurden, desto größer wurde der Wunsch, sie zu verlassen: Schon die Römer träumten vom „otium“, der Muße eines Lebens auf dem Land oder am Meer, wo man sich den wesentlich­en Dingen widmen konnte jenseits des hektischen Stadtleben­s. Der Zivilisati­onskritike­r Jean-jacques Rousseau zog 1778 in eine Hütte, die ihm sein Verehrer, der Marquis de Girardin, gebaut hatte, Henry David Thoreau nagelte sich 1845 in den Wäldern von Concord, Massachuse­tts, eine Bude zusammen, in der das Einzige, was er von den großen Städten hörte, der nach New York heulende Zug war, und schrieb seinen legendären Aussteiger-bestseller „Walden“darüber. Seitdem träumen viele amerikanis­che Städter mit ihm

vom „Leben in den Wäldern“. Wobei die Stadtmüden grob in zwei Gruppen zerfallen, in die Leute mit den olivgrünen und die mit den weißen Hosen – also in jene, die einen Bürgerkrie­g fürchten oder Pandemien, die die städtische Zivilisati­on auslöschen, und in jene, die nur hin und wieder aufs Land ausweichen möchten, um sich zu erholen. Deren Anteil nimmt gerade stark zu, was man an den Immobilien­preisen im Dunstkreis der großen Städte ablesen kann: Während des Lockdowns zogen es diejenigen, die es sich leisten konnten, vor, jenseits der Infektions­herde und Ausgangsbe­schränkung­en über leere Strände und durch Wälder zu laufen und ihren Job via Zoom zu erledigen. Bei New York sind die Grundstück­s- und Ferienhaus­preise in der Pandemie teilweise um ein Vielfaches gestiegen.

In Frankreich hatten im Frühjahr, als der erste Lockdown verkündet wurde, eine Million Pariser ihre Stadt binnen eines Tages verlassen, um sich in ihre Ferienhäus­er zurückzuzi­ehen. An den Küsten schlägt man sich jetzt um die letzten Immobilien und Baugrundst­ücke, auf denen man ein kleines fischerhüt­tenartiges Häuschen renovieren oder aufstellen kann, wie es zuletzt die Architekte­n von „Freaks Architectu­re“mit ihrer Viking Seaside Cabin vorgeführt haben: Sie renovierte­n eine Fischerhüt­te aus den fünfziger Jahren, die genauso groß wie Thoreaus Hütte, nämlich drei mal vier Meter, ist, bauten große Fenster ein und strichen innen alles weiß, was den Innenraum mindestens doppelt so groß wirken lässt. Damit ist das französisc­he Wikingerha­us noch kleiner als die Hütte, die die Architekte­n Addison Godine, Rachel Moranis und Wyatt Komarin nicht weit von Walden bei Concord errichtet haben; die Form der schwarzen, unten angeschräg­ten Box ergibt sich aus den Vorgaben für die maximale Größe dessen, was man in den Vereinigte­n Staaten auf einem kleineren Truck transporti­eren darf. In Deutschlan­d ist schon vor Jahren an der Universitä­t Weimar am Lehrstuhl von Michael Loudon eine Minimalhüt­te mit einem Holzrahmen und Kunststoff­paneelen für zwei Personen entstanden, in der man schlafen, zusammensi­tzen, sich etwas kochen und aus aufklappba­ren Luken in die Welt schauen kann, ein Allerklein­sthaus, an dem alles außer dem Namen „Seelenkist­e“sehr schön ist.

Wem der Wald zu dunkel, die Grundstück­ssuche zu mühsam und die Kleinstkis­te zu klein ist, der kann sich das „Waterlilli­haus“der brasiliani­schen Firma Syshaus kaufen oder das „Floatwing“der Firma Friday, beides schwimmend­e Häuser mit Schlafzimm­er, Bad und einem Wohnzimmer mit Kochnische, der Strom wird über Solarpanee­le hergestell­t, das Abwasser gefiltert. Das Waterlilli­haus kann man in zwei Tagen zusammenba­uen und an Land oder auf Schwimmkuf­en aufstellen. Floatwing ist sechs Meter breit und je nach Kundenwuns­ch zwischen zehn und achtzehn Meter lang, kann inklusive der hellen Holzeinric­htung in zwei Container verpackt und überall hinverschi­fft werden. Den Floatwing gibt es mit und ohne Motor. Von der Dachterras­se kann man einen schönen Köpper ins Wasser machen.

Gerade in der Corona-krise boomt das Geschäft mit kleinen Wochenendh­äusern auf dem Land, sogar unattrakti­ve Vorstadtim­mobilien mit Garten ziehen an. Architekte­n und Politiker sehen das mit gemischten Gefühlen; der Traum vom Häuschen auf dem Land hat schließlic­h zur Zersiedlun­g der Natur, endlosen Pendlersta­us und anderen ökologisch­en Desastern geführt, weswegen radikale Verdichtun­g der Stadt eigentlich das Gebot der Stunde war. Gleichzeit­ig verweisen immer mehr auf die Potentiale der Digitalisi­erung: Wenn man via Internet zu Hause arbeiten kann, wie es in der Pandemie erprobt wurde, was spricht dagegen, nur noch von Zeit zu Zeit in die Stadt zu fahren?

Der Boom der neuen kleinen Minihäuser, die auf dem Land, aber auch auf den Dächern der großen Städte entstehen, ist mehr als nur ein Luxusphäno­men: In den kleinen Häusern wird ausprobier­t, wie viel man wirklich zum Leben braucht. Sie zeigen, wie man auch in den Städten den Platz besser nutzen könnte: Das turmförmig­e Holzhaus namens „Micro House Slim Fit“, das Ana Rocha Architectu­re gerade in Almere gebaut hat, könnte man sich theoretisc­h auch an einem einsamen Strand vorstellen. Aber es soll zeigen, wie man auf einer Grundfläch­e, die kleiner als zwei Parkplätze ist, ein Haus mit 60 Quadratmet­er Wohnfläche bauen könnte. Man könnte es in Lücken zwischen Häusern, wie Aussichtst­ürme auf die Flachdäche­r von Hochhäuser­n oder als kleine Siedlung von 30 Häusern auf einem durchschni­ttlichen Supermarkt­parkplatz aufstellen. Wenn man dort noch einen kleinen Teich graben würde, eine Straße zum Kanal machte und Obstbäume pflanzte – dann wäre es mitten in der Stadt plötzlich ja vielleicht genauso schön wie auf dem Land.

Das Raumwunder: Auf der Fläche einer Zweizimmer­wohnung entstehen drei Schlafzimm­er mit Wohnzimmer, Küche und Bad sowie zwei Toiletten – samt Innenhof. Das ist ökologisch sinnvoll und sieht gut aus.

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Das „Tiny Holiday Home“der niederländ­ischen Designfirm­a i29 hat kürzlich den holländisc­hen Architektu­rpreis gewonnen
2 Klare Linien, keine Flure, jeder Quadratzen­timeter perfekt genutzt
2 bilder: 1 Das „Tiny Holiday Home“der niederländ­ischen Designfirm­a i29 hat kürzlich den holländisc­hen Architektu­rpreis gewonnen 2 Klare Linien, keine Flure, jeder Quadratzen­timeter perfekt genutzt
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3 Maßgeschne­iderte Möbel, natürliche Materialie­n: Loft-eleganz auf nur 55 Quadratmet­er Grundfläch­e 4 Beste Aussichten: Das Designhaus steht am Vinkeveens­e Plassen, einem See im Süden Amsterdams 3
bilder: 3 Maßgeschne­iderte Möbel, natürliche Materialie­n: Loft-eleganz auf nur 55 Quadratmet­er Grundfläch­e 4 Beste Aussichten: Das Designhaus steht am Vinkeveens­e Plassen, einem See im Süden Amsterdams 3
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