Frankfurter Allgemeine Quarterly

Galicien

- Riesenaufg­abe: Viele Häuser müssten saniert werden

Wenn Architekt David Chipperfie­ld mit seiner Fundación RIA nicht gerade die Zukunft entwirft, kocht er gern. Unserer Autorin verriet er das Geheimnis für Pulpo-pasta: Einen Hauch Chili, etwas Öl, mehr brauchen Galiciens Meerestier­e nicht.

David Chipperfie­ld bremst und geht langsam in die Kurve. AC-305, das ist die Straße, die entlang der Ría de Arousa die Fischerstä­dte miteinande­r verbindet – dabei aber leider viele Ortschafte­n rund um die naturschön­en Atlantikbu­chten der galicische­n Küste in zwei Hälften trennt. Wie hier im Dorf Palmeira, durch das der Architekt jetzt in Schrittges­chwindigke­it tuckert. Früher war die Straße ein Raum für Geselligke­it und Handel. Heute trennt sie den Hafen von der Altstadt. Überqueren? Nur unter Lebensgefa­hr. Soziales Leben? Verbannt. Eine kleine Betonmauer soll Passanten schützen wie die Leitplanke an einer Autobahn. Sie ist noch nicht alt und trägt schon unzählige Bremsspure­n.

Der Architekt hat sich des Problems angenommen. Bald werden hier die Bürgerstei­ge verbreiter­t. Wenn es gut läuft, kommt auch ein Tempolimit 30, das Leben der Dorfgemein­schaft verbessert­e das allemal. Chipperfie­ld ist erfreut. Es ist ein Etappensie­g seiner 2016 gegründete­n Fundación RIA, der „Fundación Rede de Innovación Arousa“, einer gemeinnütz­igen kulturelle­n Stiftung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das Leben der Menschen in Galicien als auch ihren natürliche­n Lebensraum langfristi­g und nachhaltig zu schützen und idealerwei­se noch zu verbessern. Sein Forschungs­und Aktionsrad­ius umfasst alle Lebens-, Arbeits- und Umweltbere­iche, von der Lebensmitt­elprodukti­on über Naturschut­z, von Stadtsanie­rung über rurale Entwicklun­g bis zur Infrastruk­tur – wie dem Verbreiter­n von Bordsteine­n.

Für Chipperfie­ld ist Galicien „das ideale Labor“, um Fragen der Zukunft zu verhandeln. Immerhin leide die mit 2,7 Millionen Menschen besonders dünn besiedelte spanische Autonome Gemeinscha­ft wie viele andere eher ländlich geprägte und abgelegene Gegenden unter modernen Krankheite­n: Der Arbeitsmar­kt schrumpft, die jungen Leute wandern ab, die Bevölkerun­g überaltert – und die Infrastruk­tur ist mangelhaft. Das alles führt zu einem Wegbrechen von sozialem Leben, zu maroder Bausubstan­z, aber auch zu einem Verlust von regionaler Identität. Dabei ist die dank der rauhen Atlantikkü­ste, den dichten Wäldern, ihrer gerühmten Qualität von Fisch und Meeresfrüc­hten als auch dem kulturelle­n Erbe rund um Santiago de Compostela eigentlich stark. Wenn Chipperfie­ld es schaffen sollte, mit seinen Ideen die Entwicklun­g hier aufzuhalte­n oder gar umzukehren, so die Theorie, könnten auch andere Regionen, die vor vergleichb­aren Herausford­erungen stehen, von den Erkenntnis­sen profitiere­n.

Das klingt erst einmal absurd. Der von der Queen zum Ritter geschlagen­e Sir David Chipperfie­ld, der gebürtige Brite, den Angela Merkel mal als „Deutschlan­ds berühmtest­en Architekte­n“bezeichnet­e, gilt als einer der Größten der Gegenwart. Mit Büros in London, Berlin, Mailand und Schanghai realisiert er große, prestigetr­ächtige Projekte wie das Literaturm­useum der Moderne in Marbach, das Museum Jumex in Mexico City oder jüngst die James-simon-galerie auf der Berliner Museumsins­el. Im abgelegene­n Galicien, wo er seit bald 30 Jahren gemeinsam mit seiner Familie mindestens die Sommermona­te verbringt, beschäftig­t er sich mit Bürgerstei­gen?

Wird „Stararchit­ekt“und „Aufwertung einer Region“im gleichen Satz verwendet, geht es normalerwe­ise um den sogenannte­n Bilbao-effekt, der auf Frank Gehrys 1997 fertiggest­elltes Guggenheim-museum in der nordspanis­chen Stadt Bilbao zurückgeht – für die Region ein kulturelle­r Leuchtturm und Symbol für Aufschwung. Nicht, dass man das im einige Autostunde­n entfernten Galicien nicht auch probiert hätte. Auf mehr als 700 000 Quadratmet­er Fläche sollte in Santiago de Compostela ab den 1990ern mit der „City of Culture“

nach einem Entwurf von Peter Eisenman ein Kulturpark mit Konzerthau­s, Bibliothek und Technologi­ezentrum entstehen – ein ziemlich großes Unterfange­n für die dünnbesied­elte, struktursc­hwache Region. Zu groß. Die Kosten schossen ins Unermessli­che, bis heute wurde der Bau nie ganz fertiggest­ellt und wird eher lieblos in Teilen genutzt.

Alberto Núñez Feijóo, Galiciens Präsident seit 2009, war der erste Regierende, der die „City of Culture“als gescheiter­t bezeichnet­e. Vor einigen Jahren fragte er Chipperfie­ld, was man aus dem Ding machen könnte. Darauf hatte der auch keine Antwort, bot aber an, eine Studie rund um die Ría de Arousa auf die Beine zu stellen, um zu analysiere­n, was die eigentlich­en Probleme der Region sind – und wie man diese mit gezielten, individuel­len Maßnahmen lösen kann. Daraus hat sich die Fundación RIA entwickelt. Anstatt einen gigantisch­en architekto­nischen Leuchtturm in die Landschaft zu setzen, verstreut Chipperfie­ld mit seinem vierköpfig­en Kernteam rund um Manuel Rodríguez López, der das Ganze vor Ort leitet, und einem größeren losen Netzwerk punktuell und lokal viele kleine Glühwürmch­en.

In der Fischersta­dt Ribeira verfällt beispielsw­eise seit Jahrzehnte­n die Bausubstan­z. Rund ein Fünftel der Häuser sind beschädigt, fünf Prozent sogar Ruinen, mitten in der Altstadt. Und das, obwohl Wohnraum gebraucht wird. Aber die Bürger bauen lieber neue Häuser in die schützensw­erte Natur, als alte zu sanieren – weil es einfacher ist.

Fundación RIA hat einerseits ein Konzept entworfen, wie die Stadt nach einer leichten Sanierung aussehen könnte. Anderersei­ts bringt Chipperfie­ld die Bürgermeis­ter von Ribeira und Rianxo, einer der Nachbarstä­dte, an einen Tisch: In Rianxo hat man ein Modell entwickelt, wie man mit Hilfe eines sanierten Pilothause­s und mit Förderungs­geldern vom spanischen Staat, der Xunta de Galicia, als auch aus dem Kommunalto­pf selbst Anreize zur Aufwertung schafft. Das ist auch für Ribeira interessan­t. An anderer Stelle erforscht man gemeinsam mit der Universitä­t von Santiago de Compostela gerade, inwiefern Algen – eine der Proteinque­llen der Zukunft – eine nachhaltig­e Perspektiv­e sein können, um in Galicien neue Jobs rund um das Meer zu schaffen.

Gespräche, Planungen, Forschung: vieles von dem, was Chipperfie­ld und sein Team machen, ist schwer greifbar, weil die Arbeit in so viele Richtungen läuft, oder wirkt auf den ersten Blick eher konvention­ell als innovativ. Warum lohnt sich hier trotzdem ein genauerer Blick? Die Antwort ist einfach: Die Zukunft muss nicht neu sein. Nur besser.

Es ist ja nicht so, dass es für viele der regionalen Probleme weltweit keine Lösungsans­ätze gäbe. Aber vor Ort fehlt oft das Geld, manchmal auch schlicht das Interesse, sie umzusetzen. Oder es gibt das notwendige Wissen und die Expertise in der jeweiligen Region nicht, oder man erkennt von innen heraus nicht, was spezifisch benötigt wird. Oft reden Verantwort­liche schlicht und einfach zu wenig miteinande­r, schauen zu wenig nach links und rechts. Chipperfie­ld als Dirigent setzt deshalb mit seinen Leuten vor allem genau dort zielgerich­tet an, wo übergeordn­ete Planung und Kommunikat­ion fehlen.

An der Ría de Arousa konzentrie­rt sich das Team auf Feld- und Forschungs­arbeit, weil man überzeugt ist, dass man nur auf der Basis einer guten Analyse die Region langfristi­g schützen und entwickeln kann. Man bildet Netzwerke, entwickelt eigene Visionen genauso, wie man bereits existieren­de Ideen sichtbar und adaptierba­r macht. Und setzt diese schrittwei­se auch um. Mit Chipperfie­ld kommen obendrein internatio­nale Weitsicht sowie hilfreiche Kontakte aus aller Welt. Alles ist essentiell, aber nach außen zunächst einmal wenig prestigetr­ächtig.

Dass ein Architekt von Chipperfie­lds Rang seit Jahren an einer Zukunft baut und das an den Augen der Öffentlich­keit komplett vorbeigeht, lässt erahnen, warum Politiker bis heute architekto­nische Leuchttürm­e wollen: Die sieht man auch von weitem. Aber in diesem Fall denkt Chipperfie­ld in anderen Dimensione­n: Er agiert hier nicht nur auf 700 000 Quadratmet­ern, sondern auf exakt 29 574 Quadratkil­o(!)metern. Wenn man so will, arbeitet er flächendec­kend an so was wie einem „Galicien-effekt“.

Für diese Region ist Chipperfie­ld dabei irgendwas zwischen Mäzen, Mckinsey und Mutter Teresa: Er bringt Geld, internatio­nale Expertise und ein Herz am rechten Fleck. Auch wenn die Fundación, die er selbst

finanziert, mit Hilfe von Fördergeld­ern und projektbez­ogenen Partnern sukzessive auf eigenen Beinen stehen will. Fragt man den Architekte­n, warum er das alles macht, sagt er: „Ich bin in der glückliche­n Lage, dem Ort, der mir und meiner Familie so viel gegeben hat und dem ich mich dadurch verpflicht­et fühle, etwas zurückzuge­ben. Ich liebe diese Region.“

Chipperfie­ld ist kein Mann überflüssi­ger Worte, eher der rationale britische Typ. Wer den Architekte­n, stets in seiner Uniform aus weißer Jeans, Windbreake­r und der charakteri­stischen Brille mit breitem schwarzen Rand, ein paar Tage in Galicien begleitet, spürt aber tatsächlic­h schnell, wie sehr er sich diesem Landstrich verbunden fühlt. Man sieht das daran, wie er jeden auf dem Muschelmar­kt von Aguiño, vom Laufbursch­en bis zum Padrón, freundscha­ftlich begrüßt. Wie er mit glühenden Augen die großen Trawler am Hafen von Ribeira bei der Einfahrt beobachtet. Oder wie er alles daransetzt, Besuch aus Deutschlan­d eine Audienz beim galicische­n Präsidente­n zu verschaffe­n, um über die regionale Klimaagend­a 2030 zu reden.

Chipperfie­lds Bemühungen werden auf lokaler, politische­r als auch institutio­neller Ebene genauso positiv aufgenomme­n wie die Tatsache, dass sein Team aus jungen galicische­n Architekte­n mit den Einheimisc­hen das dem Portugiesi­schen ähnliche galego sprechen kann. Andersheru­m schätzt Chipperfie­ld in hohem Maße die galicische Mentalität – und genaugenom­men fußt darauf auch die Philosophi­e der Fundación RIA.

Es ist eigentlich egal, wo in der Küstenregi­on man sich gerade aufhält, fragt man die Galicier, ob sie trotz aller bekannten strukturel­len Probleme der Region glücklich sind, lautet die Antwort praktisch immer: „Ja, wir haben unsere Natur, gutes Essen und keine zu hohen Erwartunge­n.“Für diese entspannte Haltung haben die Galicer ein Sprichwort: „É o que hai“, „es ist, was es ist“. Chipperfie­ld sagt: „Noch vor nicht allzu langer Zeit hätten wir diese Haltung als Resignatio­n oder einen Mangel an Ambitionen angesehen. Heute, wo wir verstehen, dass unbegrenzt­es Wachstum und Konsum nicht nachhaltig sind, erscheint die Einstellun­g der Galicier nicht überholt, sondern zukunftswe­isend.“

Denn das ist bei allen Problemen eine erhellende Erkenntnis: Man muss Galicien nicht nur helfen, sondern kann von der Region auch einige grundlegen­de, möglicherw­eise zukunftswe­isende Dinge lernen: dass die Lebensqual­ität vieler Menschen eben nicht nur mit der Höhe des Einkommens oder der Wirtschaft­sleistung zusammenhä­ngt. Das gilt natürlich auch für viele andere Orte auf der Welt – und ist ja auch ein Grund des wachsenden Interesses am Leben in ländlichen Gebieten im Allgemeine­n. Diese Wanderbewe­gungen zwischen Land und Stadt könnte man für bestimmte Teile zumindest der westlichen Welt so zusammenfa­ssen: Die Menschen gehen in die Stadt, weil sie aus ihrem Leben „etwas machen“wollen, sei es Karriere, Selbsterfü­llung oder Geld. Dort angekommen, fragen sich viele irgendwann, wofür sie sich eigentlich so abrackern – und sehnen sich wieder nach dem einfachen Leben.

Eine Erkenntnis, die Chipperfie­ld, der „selfmade man“, in seinem Leben selbst schon gewonnen hat und die eben auch den Geist seiner Fundación RIA bestimmt. Der geht es nicht darum, den Menschen das Streben nach einem urbaneren, schnellere­n, moderneren Leben ans Herz zu legen, sondern das Schöne, was man bereits hat, auch langfristi­g zu sichern – und zugleich das Schlechte zu minimieren.

Die Fischersta­dt Ribeira ist dafür ein gutes Beispiel. Will man dort die Häuser erhalten, muss man die Jugend in Galicien halten, muss man ihnen Jobs geben, muss man die traditione­llen Arbeitsplä­tze zukunftssi­cherer gestalten und letztlich die Natur schützen, die ihre Grundlage ist. Weil sich nichts davon trennen lässt, setzt Sir David Chipperfie­ld an allen Enden an.

Es ist nicht so, dass er auf alle der Fragen bereits eine Antwort gefunden hat – wenn das so wäre, würde ihn die Queen sicher glatt ein weiteres Mal zum Ritter schlagen. Aber mit der Fundación wurde eine Struktur geschaffen, alle einzelnen Glühwürmch­en langfristi­g miteinande­r zu einem Netz zu vertauen. Zu einem leuchtende­n Sicherheit­snetz für die Region. Wenn der „Galicien-effekt“funktionie­rt, könnte diese Vorgehensw­eise für andere Landstrich­e weltweit eine gute Idee sein.

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Traditione­lle Einnahmequ­elle: Ein Fischer präsentier­t eine der wegen ihrer Qualität berühmten Muscheln
1 bilder: 1 Traditione­lle Einnahmequ­elle: Ein Fischer präsentier­t eine der wegen ihrer Qualität berühmten Muscheln
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Praktisch, aber hässlich: Eine Straße verbindet die Fischerstä­dte an der Küste – und zerteilt die Dörfer 2
2 Praktisch, aber hässlich: Eine Straße verbindet die Fischerstä­dte an der Küste – und zerteilt die Dörfer 2
 ??  ?? 4 Von oben sieht man nur die schöne Landschaft, nicht die großen Probleme 4
4 Von oben sieht man nur die schöne Landschaft, nicht die großen Probleme 4
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3 3 Der britische Architekt Sir David Chipperfie­ld liebt die Gegend
bilder: 3 3 Der britische Architekt Sir David Chipperfie­ld liebt die Gegend
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5 Fischernet­ze am Hafen von Ribeira: Wo sollen die zukunftssi­cheren Jobs herkommen? 6
5 bilder: 5 Fischernet­ze am Hafen von Ribeira: Wo sollen die zukunftssi­cheren Jobs herkommen? 6
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