Frankfurter Allgemeine Quarterly
Insel Lewis and Harris
Harris-tweed ist rauh und dick und wird auf einer kalten Insel auf alten Maschinen gewebt. Plötzlich ist er wieder einer der begehrtesten Stoffe der Welt
Am letzten Tag der Reise kaufte sich der Autor auf der Insel in einem kleinen Laden in Stornoway ein Jackett aus Harris-tweed. Die Ladenbesitzerin erzählte, sie habe das Jackett einem älteren Herrn in Deutschland abgekauft. Der wiederum hatte es 1983 in Stornoway gekauft. Diesen Winter wird es wieder in Deutschland verbringen.
Iain Martin, 52 Jahre, graues Haar, eisblaue Augen, öffnet das Tor zu seiner Scheune, drückt sich vorbei an Sensen, Schafschädeln, an Dutzenden Stoffrollen und Tausenden Garnspulen. Er nimmt ein Ölspray, schmiert die gusseisernen Zahnräder seines Webstuhls ein, setzt sich und beginnt zu treten. Ein Arm am Webstuhl schleudert einen Schützen mit dem Schussfaden hin und her, alle 30 Sekunden legt Martin eine neue Spule ein. Sein Vater webte auf diesem Gerät, sein Großvater und sein Urgroßvater: „Es ist der älteste
Webstuhl auf der Insel, seit 1926 läuft er jeden Tag.“Außer sonntags, da darf man auf der Isle of Lewis and Harris am nordwestlichen Rand von Schottland nicht einmal die Wäsche heraushängen.
Martin zieht mit der Pinzette einzelne Fäden aus dem Stoff. Einfarbig blau, dick und fest wie in den Sechzigern, als Harris-tweed einer der gefragtesten Stoffe der Welt war. Martin webt heute für einen Kunden aus Texas. Dann für einen deutschen, danach für einen indischen Abnehmer. Die Wartezeiten sind lang. Seit Jahren sind seine Auftragsbücher voll, wie die der anderen 200 Weber der Insel. Tweed boomt. Warum, weiß niemand so richtig. Es gibt viele Theorien: „Menschen wollen sich auf Echtheit verlassen können.“Martin wischt mit den Fingern über die rauhe Oberfläche: „Bei uns weiß man vom ersten bis zum letzten Schritt, was man bekommt, das gibt es sonst nirgends.“
Harris-tweed ist der einzige handgemachte Stoff, der in kommerziellen Mengen verkauft wird.
Er unterliegt strengsten Kontrollen, vom Rohstoff bis zum Endprodukt. Die Wolle muss von Cheviot-schafen kommen, die gelten als besonders robust, halten scharfe Winde und Kälte gut aus, brauchen nur wenig Fürsorge und haben den großen Vorteil, dass sie keine Wollblindheit erleiden, wenn man sie nicht schert, da ihre Gesichter wollfrei sind.
Das Garn muss auf Lewis and Harris gesponnen werden, der Tweed muss von lokalen Webern, in ihren Privathäusern, gewebt werden – und auch hier veredelt werden. Eine eigene Harris Tweed Authority prüft jede Stoffrolle. Erst wenn sie den Reichsapfel auf den Stoff bügelt, ist der offiziell echt. Millionen Meter werden jährlich von dieser größten schottischen Insel am Rande Europas in die ganze Welt verkauft.
In den Sechzigern war Harristweed beliebt, weil er warm und haltbar ist. Als die Textilindustrie nach Asien abwanderte, brach der Markt ein, kaum einer auf der Insel konnte noch vom Stoff leben. Die strengen Produktionsregeln aber blieben.
Seit rund sieben Jahren erleben die Weber einen Aufschwung. Ihr Stoff taucht plötzlich bei Hautecouture-marken wie Yves Saint Laurent und Chanel auf, in Streetwear von Nike und Adidas, bei Outdoor-marken wie North Face und Eastpak. Die Weber der Insel haben alle Regeln der Industrie missachtet. Und stehen nun plötzlich besser da als je zuvor: Sie haben sich keinen Millimeter bewegt, die Welt um sie herum hat sich geändert.
Iains Webstuhl, ein Hattersley, verrußt und ölig, steht nicht zum Fenster ausgerichtet, eine Glühbirne wirft fahles Licht in die Scheune. Der Blick nach draußen lenke ihn nur ab. Draußen erhebt sich die Sleeping Beauty, ein moosiger Hügelkamm, der aussieht wie eine ruhende Frau. Es regnet und windet, fast horizontal schlagen einem die Tropfen entgegen. Windstärke neun. „Just a breeze“, nennt das Martin.
Verbringt man eine Woche auf der Insel, ist man selten ganz trocken. Und versteht schnell die kleinen Wettertricks der knapp 28 000 Bewohner: Am Hafen von Stornoway, der Hauptstadt der Insel, stehen die Autos mit der Nase in den Wind. Sonst flöge einem die Tür beim Öffnen aus der Angel. Einer Weberin, so wird erzählt, hat es vor zwei Monaten die ganze Scheune weggeblasen. Aber selbst im stärksten Regen sieht man Fahrradfahrer. „Geht man nur bei Sonnenschein raus“, sagt ein Weber, „verlässt man das Haus an acht Tagen im Jahr.“
Die Insel wird geteilt von einem Gebirgskamm. Lewis heißt niedriges, moosiges Land, Harris hohes, steiniges Land – die Namen sind Überbleibsel der Wikinger. Der Boden besteht aus unfruchtbarem Torf und Gneisgranit, der Sand der Strände ist hell wie in den Tropen. Hier leben Goldadler und Hirsche, in den Gewässern schwimmen viele Lachse, an der Küste fühlen sich Seehunde wohl. Egal wo man auf der Insel hinblickt, sieht man dieselben Farben: grün und braun, blau und sandfarben. Jene Farben, die auch die Wolle trägt, aus der
Harris-tweed gewebt wird: Aus der Wurzel des Heidekrauts wird Lila gewonnen, aus der Parmelia-flechte Orange, aus Nesseln und Disteln Grün, aus Algen Hellbraun, aus Torf Dunkelbraun.
Der Tweed ist so alt wie die Insel, er wurde für Fischer und Hirten gewebt, die dem rauhen Wetter ausgeliefert waren. Die Muster waren klassisch, Fischgräten, Hahnentritt, die Farben spiegelten die Umgebung. Vor den Scheunen stand stets ein Eimer, in dem Urin gesammelt wurde. Nach ein paar Wochen Fermentation wurde aus der Kruste Ammoniak gewonnen, der die Färbung der Wolle festigte.
Eine britische Herzogin kam 1835 zu Besuch, sah den Stoff und verliebte sich in ihn und brachte ihn nach London, Harris-tweed wurde der Stoff für die Ausrittuniformen der Royals, es soll Queen Victori
as Lieblingsstoff gewesen sein. Am Hafen von Stornoway legten plötzlich Schiffe aus Holland, Frankreich und Russland an, auf der Suche nach dem berühmten Erzeugnis. 1913 verabschiedete das britische Parlament das einzige Gesetz zum Herkunftsschutz eines Stoffes: „HarrisTweed ist ein von den Insulanern von Lewis, Harris, Uist und Barra in ihren Heimen handgewebter Stoff aus reiner Schurwolle, die auf den Äußeren Hebriden gefärbt und versponnen wurde.“Die Weber der Insel arbeiten von zu Hause, an ihren mechanischen Webstühlen, ohne Elektrizität oder Automation. Die Litzen werden per Hand berechnet, das Garn händisch eingefädelt. Der Hype erreichte 1966 seinen Höhepunkt, da wurden sieben Millionen Meter Stoff produziert (heute sind es 1,2 Millionen). Zur selben Zeit begannen europäische Firmen, billige Textilfabriken in Osteuropa und Asien zu öffnen, damit brach der Markt für den Traditionsstoff schnell zusammen. Viele suchten sich Arbeit in Fabriken auf dem Festland. In den Neunzigern aber begannen die letzten Weber, die Geschichte ihres Tweeds aufleben zu lassen. Sie erzählten Modedesignern von der Herstellungsform, der Eigenartigkeit und der Landschaft der Äußeren Hebriden. Sie drängten das Parlament zu Maßnahmen: 1993 verabschiedete das Unterhaus ein weiteres Schutzgesetz für Harris-tweed. Das wohl beste Marketing, das man sich wünschen kann.
Mit fünf Jahren, zur Hochzeit des Tweeds in den Sechzigern, begann Iain Martin, Garn zu spulen, zwei Stunden vor und zwei Stunden nach der Schule. Als Teenager fing er selbst zu weben an. „Es ist nicht schwer, es braucht nur Geduld und Beständigkeit.“Seit Jahrzehnten gibt es für den Hattersley keine Ersatzteile mehr. Martin sammelte sie aus den Scheunen der Insulaner, die das Weben aufgegeben haben. „Heute habe ich genug Ersatzteile für ein Leben und ein nächstes. Ich glaube aber, dass ich der Letzte in meiner Familie sein werde.“Seine beiden Kinder studieren in Schottland, die Kinder des Bruders sind ebenfalls auf dem Festland. Doch mit dem Boom des Tweeds kommen viele Neue auf die Insel, und manchmal kehren auch ehemalige Auswanderer zurück, um wie ihre Vorfahren zu weben – denn es lohnt sich wieder.
Nike wurde 2003 auf den Stoff aufmerksam und bestellte 20 000 Meter für einen Turnschuh. Die letzten Weber der Insel taten sich
zusammen, um die Menge zu bewältigen. Seither steigt die Nachfrage stetig. Und lockte Leute an, die mit ihren Ideen den alten Stoff neu interpretieren.
Rund 30 Kilometer von Iains Scheune entfernt öffnet uns Miriam Hamilton die Tür zu ihrem Atelier. Sie ist 27, blond und trägt ein Nasenpiercing. Im Raum steht ein Hattersley, umgeben von bunten Kissen und Tüchern, hellem Holz und bodentiefen Fenstern. Sie webt hier bunten, hellen, pinken und gelben Stoff; neue, komplizierte Muster. Sie verarbeitet ihn zu Westen, zu Kissenbezügen, verkauft ihn über Instagram und ihren Werkstattladen.
Als Miriam Hamilton vor zweieinhalb Jahren das erste Mal auf die Insel kam, ging sie in einen Secondhandshop in Stornoway, traf dort Iain Martin. Sie kamen ins Gespräch, Hamilton sagte, sie wolle das Weben beginnen, Martin organisierte ihr einen Webstuhl, Baujahr 1940, seither ist Hamilton eine Weberin mehr auf der Insel.
Und da wären Frauen wie Margaret Rowan, die helle, pastellene Stoffe webt, in den Farben von See, Sand und Natur, mit unüblichen Querstreben. Oder Netty Sopato, die aus der Wolle ihrer eigenen Schafe exklusive Stücke schneidert, laut „Vogue“etwa den „Kilt of the Season“. Die Alteingesessenen arbeiten an traditionellen Mustern, sie weben in alten Scheunen, bei fahlem Licht, wie die Generationen zuvor ihren Stoff für Jacketts oder Anzüge. Die neuen Weber haben oft extra Anbauten, dekoriert und gemütlich, es gibt eine Auslage für Muster, manchmal angeschlossene Boutiquen, Instagram-accounts, über die man Lampenschirme, Kissen, Dekoelemente aus Harris-tweed kaufen kann. Die Alten halten das für unnötigen Schnickschnack; die Neuen finden, dass sich die Alten die Arbeit schwerer machen als nötig.
„Heute gibt es hier 192 angestellte Weber und 32 unabhängige, wie Miriam und Iain“, sagt Lorna Macaulay, Leiterin der Harris Tweed Authority. „Vor elf Jahren waren es vier.“Als Macaulay vor elf Jahren die Leitung übernahm, kauften Kunden
Harris-tweed aus Sentimentalität. Heute haben sich die Bedürfnisse geändert: „Kunden wollten in der Wegwerfgesellschaft plötzlich Dinge, die Herkunft haben, Integrität. Sie wollen ethisch hergestellte, nachhaltige Produkte, die mit Liebe und Hingabe gemacht sind.“
Die Modeindustrie gehört zu den größten Umweltsündern der Welt. Es gibt keinen großen Hersteller, der wirklich nachhaltig produziert, und in der Branche kaum geschützte Begriffe, weder muss „Bio“oder „Öko“in irgendeiner Weise nachhaltig sein, noch muss „ägyptische Baumwolle“aus Ägypten sein. Deshalb ist Harris-tweed weltweit einzigartig. Der Begriff ist geschützt, mit strengen Vorgaben für Sourcing, Produktion, Vertrieb. Das befriedigt neue Bedürfnisse und beruhigt das Gewissen.
Die Textilindustrie für Massenware hat normalerweise keinen guten Ruf, junge Talente drängen nicht gerade dort hinein. „Ich habe dagegen stapelweise Bewerbungen auf meinem Schreibtisch“, sagt Macaulay, „von jungen, qualifizierten Menschen, die mit Harris-tweed arbeiten wollen. Jedes Jahr stehen wir auf der Premier-vision-messe in Paris, neben den sexyesten Marken der Welt. Niemand hat so etwas wie wir. Dafür werden wir beneidet.“
Am nächsten Abend führt uns Iain Martin, bei „proper autumn weather“, also Sonnenschein und starkem Wind, über einen moosigen Hügel hinter seiner Scheune, sein Border Collie Ben folgt ihm und treibt dann die Schafe zu einer Traube zusammen, vorwärts, Richtung Scheune, bis Iain Martin von seinen 50 Lämmern umgeben ist. 500 Schafe hat er insgesamt, natürlich Tiere der Rasse Cheviot, wie vorgeschrieben.
Als die Sonne untergeht, wird es schlagartig sehr kalt, Martin führt uns in sein Haus, das, so sagt er, seit 1741 hier steht. Er wirft ein Feuer an, stapelt Torf, den er den Sommer über getrocknet hat, setzt sich in einen Sessel und zeigt uns auf dem Handy ein Video auf Youtube, einen Ausschnitt der britischen Comedysendung „Are You Being Served?“, aus den 60er Jahren: Ein Tourist mit starkem deutschen Akzent steht in einem Londoner Kleidungsgeschäft, das deutsche Textilien verkauft. Er streitet mit dem Verkäufer über bayerische Wolle und Hüte, ruft empört, er wolle keinen „stupid German hat“, er wolle Harris-tweed. Iain Martin lacht laut und klopft sich auf die Tweedhose. „Tolle Sendung“, sagt Martin, „manche Dinge von früher sind einfach besser.“