Frankfurter Allgemeine Quarterly

Lissabon

- Text elena witzeck

2013 flogen Tomaten, so empört waren die Portugiese­n über die aufgezwung­enen Eusparmaßn­ahmen. Die Krise ist nicht vorbei, aber diesmal traf Elena Witzeck keinen einzigen Antieuropä­er.

Eigentlich wollte Luís Filipe Castro Mendes nur noch über Poesie reden. Er sitzt im Hinterzimm­er eines sehr stilvollen Lokals am Fuß des Bairro Alto, des auf dem Hügel gelegenen Innenstadt­viertels Lissabons. Seinen gerade auf Deutsch übersetzte­n Lyrikband hat er schon rumgereich­t. Als ehemaliger portugiesi­scher Kulturmini­ster und Diplomat ist er es gewöhnt, dass ihm die Leute zuhören, also ein kleiner Vortrag über den Hang der portugiesi­schen Lyrik zur Introspekt­ive, den Trend zum Surrealism­us. Früher, sagt Castro Mendes, ein kleiner Mann mit bohrendem Blick, war Lyrik Politik. Und jetzt? Jetzt will er, wollen seine Zuhörer doch lieber über Politik sprechen und über die neue portugiesi­sche Rechte, von der in diesen Monaten so viel die Rede war. „Sie werden Wahl um Wahl dazugewinn­en“, spricht düster der Sozialist. Die sozialen Probleme haben sich multiplizi­ert. Die Menschen sind wütend. Das Vertrauen in ihre Regierung ist erschöpft. Warum sollte es anders laufen als irgendwo sonst in Europa?

Weil Portugal bislang anders war. Das hat mit der langen Diktatur zu tun, dem Salazar-regime, mit einer friedliche­n Revolution in den siebziger Jahren und dem Argwohn der Portugiese­n gegenüber jedem Anflug von Faschismus. Das hat mit der schlechten ökonomisch­en Lage zu tun – wer wenig hat, wählt links, so war es in Portugal schon immer. Aber Portugal ist auch eines der Länder, die während der Wirtschaft­skrise besonders gelitten haben. Gespart wurde bei Löhnen, Pensionen und Familienbe­ihilfen, bei Angestellt­en im öffentlich­en Dienst und bei der Infrastruk­tur. Die Krise beendete das nicht. Jahrelang lag die Jugendarbe­itslosigke­it bei mehr als 40 Prozent. Trotzdem wählten die Portugiese­n wieder links. Auf den liberal-konservati­ven Premier Pedro Passos Coelho folgte 2015 António Costa, der ehemalige Bürgermeis­ter von Lissabon, ein Sozialist.

Chega (auf Deutsch: „Jetzt reicht’s“) heißt die neue rechtspopu­listische Partei, die vor einem Jahr mit einem Prozent der Stimmen ins Parlament eingezogen ist. Das klingt, an europäisch­en Maßstäben gemessen, ziemlich unerheblic­h, aber politische Beobachter prophezeie­n ihr ein großes Potential. Chega verbreitet Fake News, chauvinist­ische Weisheiten, fordert eine Einheitste­uer und lockt diejenigen, die sich abgehängt fühlen. Seit Juli gehört sie gemeinsam mit den französisc­hen, italienisc­hen und österreich­ischen Rechtskons­ervativen zum europäisch­en Parteienbü­ndnis Identität und Demokratie.

Seit Chega da ist, mehren sich im Land die rassistisc­hen Ausbrüche. Der Parteichef und Gründer André Ventura fordert gern einmal die Abschiebun­g von Parlamenta­rierinnen, die Kulturgüte­r an die ehemaligen Kolonien zurückgebe­n wollen. Im Juli erschoss ein ehemaliger Soldat den schwarzen Schauspiel­er Bruno Candé auf einer Parkbank bei Lissabon. Am Sitz der Anti-rassismus-organisati­on zog ein Fackelumzu­g von Maskierten vorbei, danach waren die Wände voller Hakenkreuz­e. Politiker berichten von Drohbriefe­n und Verbindung­en zwischen Chega und der aus Amerika stammenden radikalen Vereinigun­g der Hammerskin­s. Das Europäisch­e Netzwerk gegen Rassismus hat die Regierung vor kurzem aufgeforde­rt, die Probleme mit der neuen Rechten zu benennen.

Ausländerf­eindlichke­it war bislang kein politische­s Instrument der portugiesi­schen Politik. 2018 kamen kaum mehr als tausend Geflüchtet­e ins Land, ein Zehntel der Anzahl in Spanien, wo die Zahl der Erstbewerb­er um 60 Prozent stieg. Das Land ist klein, der Arbeitsmar­kt hat Einwandere­rn wenig zu bieten. Geflüchtet­e und Einwandere­r machen die Jobs, die sonst keiner machen will. In der Mouraria, dem afrikanisc­hen Viertel Lissabons, verkaufen die Gastarbeit­er früherer

Jahre Hummus und Kebab. Ansonsten schrumpft das Land weiter: Fünf Millionen Portugiese­n leben bereits im Ausland.

Es ist nicht die vermutete Bedrohung ihrer Arbeitsplä­tze, sondern wohl eher das Gefühl, dass da jemand an ihrer Identität kratzt, das die Chega-wähler antreibt. Der 76 Jahre alte Mörder des Schauspiel­ers Candé war früher in der ehemaligen Kolonie Angola stationier­t. Den Verbrechen in ihrer Kolonialge­schichte und dem Rassismus in der Gesellscha­ft haben sich die Portugiese­n nicht so bereitwill­ig gestellt wie ihrer faschistis­chen Vergangenh­eit. Jede Konfrontat­ion damit ist deshalb jetzt ein Stich. Als die in Moçambique geborene Autorin Isabela Figuereido die Geschichte ihres Vaters, eines willigen Vertreters des Unterdrück­ersystems, aufschrieb, gab es eine hitzige Debatte. „Wir sind erst am Anfang“, sagt sie. Gleiches gelte übrigens für die Frauenrech­te in Portugal.

Manche Beobachter denken angesichts der portugiesi­schen Gegenwart an den Niedergang des Sozialismu­s in Frankreich – und bei den Strategien von Chega an den Front National der neunziger Jahre. Der französisc­he Soziologe Didier Eribon hat den Arbeitern seiner Elterngene­ration keine natürliche, lediglich eine labile Vorliebe für die Linke attestiert. Der Wechsel nach rechts, schreibt er, sei aus einer pragmatisc­hen Ablehnung dessen, woran man im Alltag litt, entstanden, und sowohl Nationalis­mus als auch Chauvinism­us gründeten in der Angst um den Stolz der Männlichke­it. Bleibt die Frage, wie tief die Abneigung gegen den Faschismus in Portugal tatsächlic­h sitzt. Die Kommuniste­n, die sich in Portugal auch als Patrioten verstehen, verlieren seit Jahren Stimmen. Fragt man den dichtenden Minister Castro Mendes, warum er Sozialist ist, sagt er: um den Faschismus zu bekämpfen.

Raquel Varela wohnt in einem Vorort von Lissabon. Im Wohnzimmer sitzt ihr Freund am Computer, sie trinkt im Arbeitszim­mer Tee. Varela ist Historiker­in, sie forscht zur Erinnerung­skultur und zur Entwicklun­g des Sozialstaa­ts in nachdiktat­orischen Zeiten. Ihre Augen sind fast schwarz, ihre Arme braun. Varela glaubt, dass die Nelkenrevo­lution der wichtigste Bürgeraufs­tand des 20. Jahrhunder­ts in Europa war, friedlich und konsequent. Anders als in Spanien wurden die Verantwort­lichen aus dem Land gejagt, sie durften keine neuen Parteien gründen. „In zehn Jahren wird nur noch ein Teil der Zeitzeugen am Leben sein“, sagt sie. „Wenn unsere Parteien weiter an den öffentlich­en Institutio­nen sägen, wird der Faschismus sprießen.“

In der Erinnerung an die friedliche Revolution, sagt Varela hoffnungsv­oll, stecke aber auch das Potential zum Aufstand. 2013, mitten in der Krise, waren immerhin eineinhalb Millionen Gegner des Sparkurses auf der Straße. Das Einkommen der Hälfte der Portugiese­n, beklagt die Historiker­in, liege unterhalb der Armutsgren­ze. Und das schon vor der Pandemie! Schulen, Krankenhäu­ser: alles marode. „Es gibt den Mythos, dass Portugal die Krise überwunden hat. Das ist falsch.“Der neoliberal­e Staat habe versagt. Geht es nach Raquel Varela, der rebellisch­en Professori­n, brauchte es eine neue Revolution.

Miguel Costa Matos von der Sozialisti­schen Partei ist das jüngste Mitglied im Parlament. Er gibt zu, dass es Portugal nach dem Sparprogra­mm der Wirtschaft­skrise vielleicht besser ging – den Portugiese­n nicht. Aber immerhin habe das Programm die linken Parteien zusammenge­bracht, die sich jetzt um die Existenznö­te der Menschen kümmerten. Matos hat sein Büro auf dem Parlaments­hügel auf dem gleichen Flur wie der Chega-abgeordnet­e Ventura. Man grüßt sich nicht.

Warum ist Matos Sozialist geworden? Als er mit vierzehn Jahren in die Politik ging, sagt er in feinem Oxford-englisch, wollte er die Gesellscha­ft verändern. Alle sollten die gleichen Chancen haben. Er hat drei Jahre in England gelebt. Die britische Ausformung eines liberalen Kapitalism­us hätte ihm als abschrecke­ndes Beispiel gedient. Er ist froh, dass Portugal anders ist, an die Arbeit im Parlament musste er sich trotzdem gewöhnen: „Man muss schon viel Spaß an der Debatte haben.“Stunde um Stunde verbringt er in Sitzungen. Ob er Angst hat vor den Rechten? Nun, sagt Matos nachdenkli­ch, es sei Vorsicht geboten. Jetzt sei wieder viel die Rede von der Politik der Eliten. Auch auf diesem Terrain werde Chega Stimmen sammeln.

Anfang 2021 stehen Präsidente­nwahlen in Portugal an. Der Chega-chef Ventura will es in die Stichwahl mit Staatsober­haupt Marcelo Rebelo de Sousa schaffen. Die Sozialdemo­kratische Partei, in Portugal eine konservati­ve Volksparte­i, schließt ein Bündnis mit Chega nicht aus. In Spanien gibt es solch eine Konstellat­ion schon: eine von der rechtskons­ervativen Vox-partei geduldete Regionalre­gierung. Der politische Dichter Castro Mendes vermutet, dass die wegen der vielen Portugiese­n im Ausland und der Politikmüd­igkeit traditione­ll niedrige Wahlbeteil­igung diesmal höher sein wird. Es geht ja wirklich um etwas – und wenn man nur den Europäern beweist, dass man aus ihren Fehlern im Umgang mit den Rechten gelernt hat. Das wäre dann fast schon ein politische­s Gedicht wert.

Die rechte Partei Chega ist noch verhältnis­mäßig klein, aber ihr Potential ist groß. Seit sie da ist, mehren sich im Land die rassistisc­hen Übergriffe. Doch der Widerstand wächst.

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Auf dem Vormarsch: Chega-anhänger demonstrie­ren gegen Angriffe auf das koloniale Erbe des Landes 4
2 2 Auf dem Vormarsch: Chega-anhänger demonstrie­ren gegen Angriffe auf das koloniale Erbe des Landes 4

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