Frankfurter Allgemeine Quarterly

Tierischer Fortschrit­t

Sie krabbeln wie Spinnen, fliegen wie Schwalben und simulieren selbst den Zungenschl­ag des Chamäleons: Die smartesten neuen Roboter kopieren immer erfolgreic­her natürliche Vorbilder.

- Text ivo goetz Fotos janek stroisch

Intelligen­te Roboter, die wie große Spinnen aussehen oder gefräßige Haie. Wie erfolgreic­h Forscher die Natur kopieren – und warum

Das eigenartig­e Geschöpf lauert zusammenge­rollt auf spitzen, klauenarti­gen Beinen, hebt zwei von ihnen bedrohlich wie Säbel in die Höhe, verdreht sie zur Seite und stellt sie vorsichtig auf den heißen Untergrund; auch vorne und hinten hat die Kreatur je zwei Gliedmaßen, unter dem Leib bleiben zwei weitere angeklappt – dann läuft das Wesen ruckend los und stakst durch den Wüstensand. Nach einem Meter bleibt es stehen, als habe es nachgedach­t, zieht sechs Beine zu einer Art Radform an den Körper heran, stößt sich mit zwei Klauenbein­en vom Boden ab und rollt davon.

Der Bionic Wheel Bot, so heißt das achtbeinig­e Robotertie­r, bewegt sich wie eine echte Radlerspin­ne, die das Vorbild für die komplexe Konstrukti­on ist und am Rande der Sahara lebt. Die Webspinne aus der Familie der Riesenkrab­benspinnen läuft auf ihren acht Beinen so, wie es Spinnen eben in schwierige­m Gelände tun; aber wenn der Untergrund flacher wird, krümmt sie die Beine und bewegt sich in einer Saltoübers­chlagbeweg­ung mit doppelter Geschwindi­gkeit vorwärts.

Das krabbelnde und rollende Hightech-spinnenmod­ell wurde von Ingenieure­n, Designern und Biologen der Firma Festo aus Esslingen erfunden. Das für Automatisi­erungstech­nik bekannte Familienun­ternehmen gründete 2006 das Bionic Learning Network, in dem sich Experten in Zusammenar­beit mit Universitä­ten und Unternehme­n mit erstaunlic­hen tierischen Fähigkeite­n beschäftig­en – und wie man diese in echte Anwendunge­n zum Beispiel für Herstellun­gs- und Automatisi­erungsproz­esse übertragen kann. Tierische Eigenschaf­ten und Fähigkeite­n zu erforschen, die Bionik, ist eine seit Jahrzehnte­n etablierte Wissenscha­ftsdiszipl­in, und sie verbindet diese immer intensiver mit der Robotik.

Aus der Spinnenakr­obatik etwa lernen die Ingenieure von Festo, wie in Zukunft Antriebsfo­rmen für Roboter entwickelt werden können, die sich in leichtem, aber auch in unwegsamem Gelände bewegen müssen, denn dort, wo Fahrzeuge auf Rädern oder Boote auf dem Wasser nicht mehr weiterkomm­en, sind alternativ­e Fortbewegu­ngsmethode­n, die man bei Tieren beobachten kann, oft effektiver. Rettungs- und Löscheinsä­tze etwa wären mögliche Einsatzgeb­iete für krabbelnde Roboter.

Karoline von Häfen, Leiterin Corporate Bionic Projects bei Festo, erläutert: „Die Natur hat in Jahrtausen­den der Evolution ihre Abläufe optimiert. Die Bionik versucht, daraus effiziente Konstrukti­onsprinzip­ien abzuleiten und in die Technik zu übertragen. . . . Mit Hilfe der Bionik wollen wir neue Technologi­en aufspüren . . . Ein zentrales Thema in der bionischen Forschung ist beispielsw­eise die Anpassungs­fähigkeit von Organismen in unterschie­dlichen Lebensräum­en. Gerade die Produkte in der Automation werden in Zukunft ihre Anpassungs­fähigkeit an unterschie­dliche Produktion­sszenarien unter Beweis stellen müssen. Die Natur zeigt zudem in den vielfältig­sten Beispielen, wie man mit einem Minimum an Energiever­brauch ein Maximum an Leistung erzielen kann.“

In den Laboren und Werkstätte­n von Festo wimmelt es daher von eigenartig­em Getier, es rollt, springt, flattert, kriecht und taucht. Roboterwes­en, die an Pinguine, Quallen, Libellen, Kängurus und Fledermäus­e erinnern, entstanden dort, aber nicht alle Roboter werden in Tiergestal­t in zukünftige­n industriel­len Anwendunge­n zu sehen sein, obwohl schon heute einige Maschinen in Fabrikhall­en etwas Animalisch­es haben.

In einer Autofabrik etwa halten Greifarme mit extrem bewegliche­n Gelenken Stahlskele­tte mit Saugnäpfen fest, gleichzeit­ig kreist ein perfekt choreograp­hiertes Ballett von mechanisch­en Tentakeln, wie Arbeitstie­re eines effektiven Insektenst­aates, um das Metallobje­kt herum. Erste Robotergen­erationen sahen noch wie aus einem Märklin-baukasten zusammenge­setzt aus – inzwischen haben sie fast die Geschmeidi­gkeit von echten Lebewesen. Frontschei­ben werden plaziert, Türverklei­dungen angepresst, Motorblöck­e verschraub­t. An den Enden der signalgelb­en, spinnenart­igen Gliedmaßen sitzen Schweißbre­nner, Klebedüsen, Miniwerkze­uge und Druckwalze­n; die Einzelteil­e für das Fahrzeug werden von autonom fahrenden Minitransp­ortern angeliefer­t.

Seit etwa den 1970er Jahren gibt es Roboter in der Automontag­e, die schwere, sich wiederhole­nde Arbeitssch­ritte ausführen – heute sind sie flexibler und können durch intelligen­te Steuerunge­n und Künstliche Intelligen­z (KI) an die individuel­len Konfigurat­ionen der Produktion­en angepasst werden. Die Roboter sind unter uns, sie verändern ihr Aussehen, und sie sind inzwischen in allen Bereichen der Herstellun­g und der Logistik angekommen; bei Amazon etwa werden die Warenregal­e zu den Mitarbeite­rn zum Verpacken gefahren, auf der Lagerfläch­e sind nur noch wenige Menschen unterwegs, die einen festgefahr­enen Roboter anschubsen oder herunterge­fallene Produkte auf heben.

Seit dem Beginn der Corona-krise beklagen Vertreter der Wirtschaft Einbrüche in den gewohnten Abläufen. Unterbroch­ene Lieferkett­en seien schuld, die Globalisie­rung, die Verlagerun­g vieler Produktion­en in Billigländ­er und die enormen Defizite bei der Digi

talisierun­g sowieso. Verfechter der Renational­isierung der Industrie fordern daher eine radikale Deglobalis­ierung, um die Abhängigke­iten von anderen Ländern zu reduzieren. Aber so einfach ist es nicht, so eine Studie des Ifo-instituts für Wirtschaft­sforschung. Höhere Handelskos­ten zwischen den Ländern etwa würden die minimalen positiven Effekte einer auf heimische Gefilde begrenzten Produktion eliminiere­n, so die Studie. Abschottun­g und wirtschaft­licher Nationalis­mus sind nicht die Lösung – es geht also dringender darum, den Standort Deutschlan­d in einer globalisie­rten Welt weiter konkurrenz­fähig zu machen.

Um eine vierte industriel­le Revolution, so die Wirtschaft­sexperten, werden wir also nicht herumkomme­n. Der Hype-begriff Industrie 4.0 bedeutet auch, dass es auf dem Weg in die Zukunft neue Probleme und Bedürfniss­e gibt, die nur durch technische Innovation­en, wie etwa neuartige Roboter, lösbar sind. Die schnellere Verfügbark­eit von Materialie­n und Werkstoffe­n oder der Wunsch nach mehr Distanz in den Fabriken, etwa durch die Pandemiepr­oblematik bedingt, werden die Arbeit und die Produktion zunehmend bestimmen. Die Automatisi­erung wird immer tiefer in alle Arbeitsber­eiche vordringen. Das Ziel ist die Smart Factory – die Fabrik der Zukunft.

Die Voraussetz­ungen für diese Veränderun­gen sind hierzuland­e – für einige vielleicht überrasche­nd – gut. Nach China, Japan, Südkorea und den Vereinigte­n Staaten ist Deutschlan­d aktuell das europäisch­e Land mit den meisten Robotern; ungefähr 60 Prozent automatisi­eren die Automobili­ndustrie, 14 Prozent sind in der metallvera­rbeitenden Industrie und 8 Prozent in der Chemieindu­strie eingesetzt. Und auch bei den Neuinstall­ationen steht die Bundesrepu­blik unter den Top 5. Im Ranking der Automatisi­erung, also der Zahl

Nicht nur die technische­n Vorzüge sind bemerkensw­ert: Auch wenn Menschen wissen, dass das „Tier“eigentlich eine Maschine ist, bauen sie schon nach kurzer Zeit eine emotinale Beziehung zu ihm auf.

der Roboterins­tallatione­n auf zehntausen­d Beschäftig­te, steht Deutschlan­d mit 346 Stück auf einem doch sehr beachtlich­en Platz vier hinter Singapur, Korea und Japan (Quelle: 2020 Robotics Report, Internatio­nal Federation of Robots).

In der automatisi­erten Zukunft werden wir also verstärkt mit intelligen­ten Maschinen zusammenar­beiten. Diese sogenannte­n Cobots, Mensch-roboterkoo­perationen, sind ein weltweit wachsender Trend. Sie werden nicht nur in der industriel­len Produktion oder Logistik eingesetzt, sondern in Laboren, in der hypertechn­ologisiert­en Landwirtsc­haft oder sogar im Warenverka­uf – Cobots dringen bald in alle Lebensbere­iche vor.

Neuartige Roboteranw­endungen sind uns bereits in den Pandemieze­iten begegnet, so etwa die autonom fahrenden Desinfekti­onsroboter, die in Krankenhäu­sern oder auch Flugzeugen mit Uv-strahlen Viren auf den Oberfläche­n eliminiere­n können. Ein Roboterarm, der Rachen- und Nasenabstr­iche für Corona-tests beim Menschen nehmen kann, der Nasal Swab Robot der Entwickler von Brain Navi aus Taiwan, soll demnächst klinische Zulassungs­tests durchlaufe­n und könnte dann etwa an Flughäfen eingesetzt werden.

Auch skurrile Tierrobote­r, wie etwa die von Festo in weiterentw­ickelten, einsatzfäh­igen Varianten, werden in bestimmten Bereichen kommen; und nicht nur ausschließ­lich wegen ihrer technische­n Vorzüge – bereits vor zehn Jahren, als in Japan Therapiero­boter in Robbenform vorgestell­t wurden, konnten Wissenscha­ftler beobachten, dass Menschen, auch wenn sie wissen, dass das Tier eigentlich eine Maschine ist, schon nach kurzer Zeit eine emotionale Verbindung zu einem solchen Roboter aufbauen.

In Singapur etwa wurde ein Roboterhun­d von Boston Dynamics mit Kamera und Lautsprech­er ausgestatt­et, der dann zu den Menschen trippelte, um sie an Abstandsre­geln oder das Tragen von Masken zu erinnern – von einem lustigen Roboterhun­d ermahnt zu werden scheint angenehmer zu sein, als von einem knurrigen Polizisten zurechtgew­iesen zu werden. Auf Straßen von rauheren Großstädte­n wie Berlin müsste man aber eventuell ein bissigeres Modell der Serie gegen renitente Maskenverw­eigerer einsetzen.

Eine friedliche Hundevaria­nte wird zurzeit in einem Ford-werk in den Vereinigte­n Staaten getestet; zwei der Boston-dynamics-tiere sollen dort nach der Erprobungs­phase in Zukunft autonom durch die Fabrikhall­en streifen, sogar Treppen bewältigen und

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3 bilder: 3 Künstleris­che Darstellun­g des geplanten Wasserrett­ungsrobote­rs vom Fraunhofer-institut und DRK Halle 4 Flex Shape Gripper: Der Silikonauf­satz stülpt sich wie die Zunge eines Chamäleons über ein Objekt
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