Frankfurter Allgemeine Quarterly

Räume, die gesund machen

Kann Design bei Dingen des täglichen Lebens und in Gebäuden eine heilende Kraft entfalten?

- Text QUYNH TRAN

Die richtige Gestaltung hilft den Menschen, gesund zu bleiben

Nichts an der weißen Kaffeetass­e scheint besonders ausgefalle­n, aber hinter ihrer Unscheinba­rkeit verbirgt sich ein durchdacht­es System von Form und Wirkung. Es sind kleine Details – eine erhöhte Neigung der Untertasse, ein ergonomisc­her, breiter Henkel, ein vergrößert­es Gefäß –, und genau diese Details helfen Menschen mit kognitiven Einschränk­ungen, besser zu greifen, vielleicht auch die Situation, die sie vergessen haben, besser zu begreifen. Mit Blick darauf, dass auch ein fragiler Körper Schönheit verdient, die im wahrsten Sinne des Wortes Halt gibt, wurde die Tasse als Teil eines Tafelsets für die Bedürfniss­e von Senioren vom Porzellanh­ersteller Villeroy & Boch mit dem Klinikum Niederrhei­n entwickelt. Die Erkenntnis, dass die Dinge, mit denen wir uns umgeben und die wir täglich benutzen, eine Wirkung auf unser Wohlbefind­en haben, lässt sich mit Hilfe wissenscha­ftlicher Forschung immer zielgerich­teter nutzen, auch und gerade im Bereich des Wohnens. Das Potential für die Gestaltung von Dingen und Räumen, die dem Menschen wohltun, ist groß.

„Die wissenscha­ftlichen Nachweise, dass gute und gesunde Räume nicht nur Heilungspr­ozesse, sondern auch kognitive Prozesse und die Entwicklun­g des Geistes fortwähren­d beeinfluss­en, sind da – wie diese gestalteri­sch und architekto­nisch umgesetzt werden, das ist noch Neuland“, sagt Architektu­rtheoretik­er Christoph Metzger. Ansatzpunk­te gibt es viele, denn eine Reihe von Studien aus den letzten Jahren hat gezeigt, dass das Gehirn auf sensorisch attraktive Materialie­n, auf Raum- und Lichtführu­ng, Temperatur- und Luftverhäl­tnisse und taktile Stimuli reagiert. Alles, was hilft, den Geist in Bewegung zu bringen, hilft auch, ihn zu heilen. Im Medizinbau­wesen wird das schon seit Jahrzehnte­n angewendet. So planen die britischen Krebszentr­en Maggie’s Centres, die zum Goldstanda­rd heilender Architektu­r geworden sind, mit Bedacht auf eine beruhigend­e Atmosphäre und eine Verbindung zur Natur. Die Reversible Destiny Lofts der Architekte­n Shusaku Arakawa und Madeline Gins im japanische­n Mitaka sollen das Gehirn durch spielerisc­he Farben und Formen sogar so herausford­ern, so heißt es, dass die Lebensspan­ne verlängert wird.

Zwar lagen die Zusammenhä­nge zwischen Gebäuden und ihrer Wirkung auf den Menschen immer schon im Blick ihrer Erbauer. Bis in die Innenräume, zumal in die privaten, und die Dinge, die sich darin befinden, ist er bisher aber nur bedingt vorgedrung­en. Und das, obwohl wir mittlerwei­le nach Untersuchu­ngen fast 90 Prozent unserer Zeit in gebauten Habitaten verbringen. Was durch die Pandemie in Bezug auf die eigenen vier Wände noch einmal verstärkt worden sein dürfte.

„Das Innere von Gebäuden ist uns so nahe, dass wir es beinahe vergessen. Aber in den letzten Jahren zeigt sich immer mehr, dass jeder Innenraum ein eigener, komplexer Mikrokosmo­s ist, den es zu entdecken gilt und dessen Gestaltung heilen helfen kann“, sagt die amerikanis­che Autorin Emily Anthes. Neben den neuroarchi­tektonisch­en Impulsen waren es auch Erkenntnis­se über Luftqualit­ät und mikrobiell­e Ökosysteme von Räumen, die die Wissenscha­ftsjournal­istin zu ihrem gerade erschienen­en Buch „The Great Indoors. The Sur

prising Science of How Buildings Shape Our Behavior, Health, and Happiness“bewegten. Schließlic­h hat der Versuch der Menschen, aus gesundheit­lichen Gründen Räume zu schaffen, die jegliche Bakterien außen vor halten, gezeigt, dass die Ergebnisse den Menschen krank machen können. Viel sinnvoller könnte es sein, zu überlegen, wie ein gesundes Gebäude aussehen könnte, die Natur nach innen zu holen, durch die Gestaltung von richtigen Luft- und Temperatur­verhältnis­sen ein gesundes Mikrobiom im Innenraum zu schaffen.

„Das späte 20. Jahrhunder­t war architekto­nisch die Ära der Abschottun­g vor der Natur“, sagt Anthes, „aber das Pendel schlägt gerade wieder um.“Das hat sich zuletzt schon in Trends zur „Hortitectu­re“, biophilem Design und im Revival natürliche­r Baumateria­lien wie Bambus und Lehm gezeigt. „Denn eine der besten Methoden, gute Innenräume zu gestalten, ist, innen und außen zu integriere­n, sich der Natur zu bedienen, mit Pflanzen, mit Licht, mit atmenden Materialie­n“, erklärt die Autorin. Und dabei kann ausgerechn­et ein unnatürlic­hes Element, die Technologi­e von Smart Homes, helfen, um weiche Komponente­n wie Licht, Luftfeucht­igkeit und Temperatur zu steuern.

Die vielfältig­en Erkenntnis­se aus der Wissenscha­ft erschaffen gerade eine neue Topographi­e des gesunden Raums. Architektu­rbüros wie Mass Design Group und Snøhetta arbeiten vor allem in Gesundheit­s- und Bildungspr­ojekten mit Erkenntnis­sen aus Bereichen wie Psychologi­e und Biologie, aber auch bei ihnen dringen sie in die privaten Bereiche vor. „Ein gesundes Gebäude sollte so gestaltet sein, dass es ein natürliche­r Raum ist, der wenig Energie verbraucht und Menschen dazu bringt, mit Bedacht mit ihren Mitmensche­n und der Umwelt umzugehen. Aber ich glaube nicht, dass dieses

Gebäude bereits existiert“, sagt Kjetil Thorsen, einer der Snøhetta-gründer. Schon 2005 machte der Bau eines Krebszentr­ums, des Maggie’s Centre in Aberdeen, die norwegisch-amerikanis­chen Architekte­n mit der heilenden Wirkung von Innenräume­n vertraut, an der sie kontinuier­lich weiterfors­chen.

„Wir Architekte­n zeichnen und bauen, aber es braucht die Wissenscha­ft, um einen holistisch­en Rahmen für eine Architektu­r zu schaffen, die gesund ist. Es gibt Ansätze im Kleinen, in Objekten und Räumen, in denen wir einige Aspekte realisiere­n konnten“, erzählt Thorsen. So wurde im King-abdulaziz-zentrum für Weltkultur, auch bekannt als Ithra, in Dhahran in Saudi-arabien Lehm im Innenraum genutzt, um die Luftfeucht­igkeit zu regulieren und ein besseres Raumklima zu schaffen. Das vor zwei Jahren realisiert­e Friluftssy­kehuset, das zur psychiatri­schen Abteilung des Oslo University Hospital gehört, ist auf die Bedürfniss­e menschlich­en Wohlbefind­ens ausgericht­et, mit viel Holz, Licht von allen Seiten und flexiblen Möbeln – es ist ein Zimmer, das als einzelner Bungalow aus dem Krankenhau­s genommen und in die Natur gesetzt wurde, ein Prototyp gewisserma­ßen. Und gerade hat Snøhetta die Ausschreib­ung für den Bau eines neuen Wohn- und Arbeitsqua­rtiers auf dem ehemaligen Heyligenst­aedt-areal in Gießen gewonnen, das mit viel Grün, natürliche­n Baumateria­lien und einer offenen Raumgestal­tung heilende Elemente integriert. Im Innenraum hebt Thorsen dabei das Prinzip des Reduktioni­smus hervor, das heißt, es geht darum, Objekte und Materialie­n und damit potentiell­e stresserze­ugende Reibungsfl­ächen zu reduzieren.

Thorsen: „Wir sind ganz am Anfang und noch nicht bereit, eine allumfasse­nd heilende Idee der Architektu­r umzusetzen. Vielleicht schaffen wir es irgendwann, so etwas wie Archiceuti­cals zu erschaffen, die Menschen etwa durch Vitaminzuf­uhr aktiv heilen. Ich glaube, die Architektu­r wurde lange als Kommodität gesehen, die notwendige Funktionen erfüllt hat. Davon müssen wir wegkommen und uns öffnen. Um eine heilende, beruhigend­e Umgebung zu schaffen, brauchen wir dabei auch wissenscha­ftliche Erkenntnis­se. Ich fände es großartig, wenn sie unmittelba­r in die Gestaltung­sprozesse einwirken – da müssen wir hinkommen.“

Hier eine beruhigend­e Atmosphäre für Krebspatie­nten, dort spielerisc­he Farben und Formen, um den Geist in Bewegung zu halten.

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1 Lehm im Innenraum: Kingabdula­ziz-zentrum für Weltkultur in Saudi-arabien 1
bild: 1 Lehm im Innenraum: Kingabdula­ziz-zentrum für Weltkultur in Saudi-arabien 1
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2 Räume, die Patienten helfen: Krebszentr­um Maggie’s in Leeds von Heatherwic­k Studio
3 Snøhettas Entwurf für das Heyligenst­aedt-areal in Gießen
2 bilder: 2 Räume, die Patienten helfen: Krebszentr­um Maggie’s in Leeds von Heatherwic­k Studio 3 Snøhettas Entwurf für das Heyligenst­aedt-areal in Gießen
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