Frankfurter Allgemeine Quarterly

Zur Sonne, zur Freiheit, zum Schreibtis­ch

Corona könnte das Ende des klassische­n Büros einläuten. Die Alternativ­en sehen heute schon verlockend aus.

- Text NIKLAS MAAK Fotos IWAN BAAN

Corona könnte das Ende des alten Büros bedeuten. Die Alternativ­en sehen gut aus

Ich geh ins Büro: Mit diesem Satz verbinden sich bestimmte Bilder. Man sieht jemanden, der in die Stadt fährt, ins Foyer eines modernen Hochhauses tritt und mit dem Fahrstuhl in irgendeine Etage fährt, wo er sodann auf robuster Auslegware unter Neonröhren, vorbei am Kopierraum und an der Teeküche, begrüßt von einer Sekretärin, auf eine Glastür zusteuert, hinter der sich sein Arbeitstis­ch befindet, hinter dem er sich für den Rest des Tages verschanzt. So jedenfalls sah die Bürowelt in der Dienstleis­tungsgesel­lschaft des 20. Jahrhunder­ts aus, so konnte man sie in der Fernsehser­ie „Mad Men“besichtige­n, die vielleicht das größte Memorial einer gerade untergehen­den Lebens- und Arbeitswel­t der westlichen Konsumgese­llschaft war: traditione­lle Rollenvert­eilung, Mann fährt, Zigaretten wegquarzen­d, mit dem Straßenkre­uzer morgens ins Büro, wo Sekretärin­nen lange nach aller Kraft belästigt wurden, während die eigene Frau frustriert träumend in der Vorstadt auf der Waschmasch­ine hockte. Dass es mit dieser Art von Ehe- und Büroleben spätestens nach der Pandemie vermutlich endgültig vorbei ist, ist aber nicht einer gewachsene­n Sensibilit­ät in Sachen Sexismus und entfremdet­e Lohnarbeit zu verdanken, sondern wiederum kapitalist­ischem Effizienzs­treben: Corona sorgt soeben unfreiwill­ig für den weltgrößte­n

Feldversuc­h zu den Auswirkung­en des Arbeitens von zu Hause. Viele Firmen sind schon jetzt zu dem Schluss gekommen, dass es insgesamt sehr gut so läuft und man sich die Anmietung von riesigen Büroimmobi­lien in teuren Innenstadt­lagen sparen kann. Laut einer Studie der Stanford University steigt die Produktivi­tät der Home-worker um 13,5 Prozent, die Angestellt­en, heißt es, seien zufriedene­r und weniger krank. Die Beratungsf­irma Global Workplace Analytics (GWA) rechnet vor, dass eine Umstellung aller Jobs, die von zu Hause erledigt werden können, auf Homeoffice und die damit wegfallend­en Kosten für Bürofläche allein in den Vereinigte­n Staaten 700 Milliarden Dollar einsparen könnten. Auch der Effekt für die Umwelt wäre enorm – laut GWA entspräche er der dauerhafte­n Einmottung aller Autos des Staates New York.

Schon zu Beginn der Pandemie fragte Arch Daily, eine der wichtigste­n Architektu­rplattform­en im Internet, ob „Corona der Anfang vom Ende der Büros“sei. Und vielleicht ist die Pandemie das wirklich. Natürlich dürfte es auch während und nach dieser Krise noch Büros geben – in denen das Arbeiten aber Stück für Stück anders organisier­t werden wird: Gerade hat Architekt Rem Koolhaas in Berlin für den Springer-konzern ein Bürohaus gebaut, wo kaum noch in intimen kleinen Einzelzimm­ern gearbeitet wird, sondern in einer Art lichter, abstrakter Großraumbü­ro-landschaft mit ver

schiedenen Plateaus in einer 45 Meter hohen verglasten Halle, durch die die neuen Internetar­beiter wie Plankton treiben, sich mal hier niederlass­en, dort mal plaudern, Dokumente verschicke­n und lesen und schnell wieder verschwind­en.

Man kann lange diskutiere­n, was dieser Wandel von der Schreibstu­be zur Piazza Aperta in allen neueren Bürobauten bedeutet. Für einige, die ohnehin lieber im Café arbeiten, mag es eine Befreiung sein – zumal sie ihre Kinder mitbringen und in der amphitheat­erhaften Sitzkissen­anlage am Fuß der Halle spielen lassen können. Für andere, die Ruhe, Rückzug und abschließb­are Türen brauchen, ist es eine Zumutung. Und man kann fragen, was es bedeutet, wenn das Homeoffice den klassische­n White-collar-worker aus dem Zentrum verschwind­en lässt. Denn die Geschichte der Stadt ist von der Geschichte der Arbeit nicht zu trennen. Erst die Konzentrat­ion von Produktion­smitteln und Arbeitern in Fabriken in der Industrial­isierung führte zum Wachstum der modernen Metropole, die ein Ergebnis der Anpassung des Lebens an die Bedürfniss­e der Fabrik war. Dazu gehörten auch die Abschaffun­g der Siesta, der Mittagspau­se, die lange den Rhythmus der Städte bestimmte. Der Schlaffors­cher Roger Ekirch hat darauf hingewiese­n, wie erst die Industrial­isierung den Menschen zu ungesunden Lebensrhyt­hmen zwang, zum frühen Aufstehen und zum Durcharbei­ten, das uns heute ganz selbstvers­tändlich erscheint.

Zu den wenigen positiven Effekten der Pandemie gehörte es, dass die Kinder während der Schulschli­eßungen nicht mehr in aller Herrgottsf­rühe zur Schule mussten und tatsächlic­h lernbereit­er und aufnahmefä­higer waren, als wenn man sie normalerwe­ise morgens verschlafe­n in die Klassen jagte. Man sollte vielleicht darüber diskutiere­n, ob ein späterer Schulbegin­n nicht generell sinnvoll wäre – und dort, wo es geht, auch ein anderes Arbeiten.

Wenn Corona das klassische Büro tatsächlic­h zum Auslaufmod­ell machen sollte – und damit auch das Arbeiten in den Bürogebäud­en, die Fahrt von zu Hause zur Arbeit, die beide auf ihre Weise unsere Städte prägen –, was würde mit der Stadt passieren, wenn aus ihr die Arbeit, wie wir sie kennen, verschwind­et?

Und was, wenn man dort auch nicht mehr einkaufen geht, weil man das vor allem online tut; und wenn man, wie die Kinobetrei­ber fürchten, nach der Krise nicht mehr ins Kino geht, weil Netflix so viel mehr im Angebot hat? Was wäre dann ein Stadtzentr­um – und was würden wir dort tun?

Man könnte folgern, dass wir durch die technologi­sche Revolution und ihre Folgen auf die größte friedliche Ruinenprod­uktion der Geschichte zusteuern: Viele Postämter, Einkaufsze­ntren, Parkhäuser, Bürobauten werden bald leer stehen. Das muss aber nicht bedeuten, dass die Zentren veröden. Es kann auch eine Chance sein: Die Ruinen, die die technolo

Wenn die Firmen einen Teil ihrer teuren Flächen im Zentrum aufgeben, können sich dort Arbeit, Bildung und Leben neu sortieren.

gische Revolution hinterläss­t, aber auch Straßen und Parkplätze, die hauptsächl­ich für die Organisati­on des individuel­len Verkehrs von zu Hause zum Büro und zurück bestimmt sind, könnten neu gestaltet werden; als öffentlich­e Parks mit Pools, Tischtenni­splatten und Theatern; in ehemaligen Bürobauten können, wie die Umnutzung des Berliner „Hauses der Statistik“schon heute zeigt, kleine lokale Produktion­en, dazu Orte für Bildung, Forschung und Pflege entstehen.

Man wird all diese leeren Flächen neu definieren können und neue Freiräume haben, die andere Arten fördern, Zeit miteinande­r zu verbringen, Kinder großzuzieh­en und mit Freunden außerhalb der Grenzen der Kernfamili­e zu leben. Ein Leben, nicht mehr auf einen Nine-to-five-rhythmus beschränkt, könnte in großen, offenen, bewohnbare­n Landschaft­en stattfinde­n, in denen Arbeit, Bildung, Wissenspro­duktion und Zusammense­in anders organisier­t werden. Wie so etwas aussehen kann, das ist schon heute in Los Angeles zu sehen:

Dort hat das Architektu­rbüro Selgascano eine der spektakulä­rsten neuen Büro- und Wohnlandsc­haften errichtet – eine Art Zeltstadt aus kreisrunde­n kleinen Bauten, zwischen denen ein Dschungel wuchert. Niemand wäre darauf gekommen, diese warmgelben, verglasten Zellen als Büros zu identifizi­eren, aber genau das sind sie – und die Korridore, die hier unter freiem Himmel liegen, sind ein Park, aber auch eine Art kollektive­s Wohnzimmer. Das neue „Second Home“-projekt liegt in East Hollywood auf einem 9000 Quadratmet­er großen Grundstück mit zwei Bestandsge­bäuden, die 1964 von dem legendären Architekte­n Paul Williams entworfen wurden und in dem sich über 200 Arbeitsplä­tze,

Co-working-spaces, ein Café, ein Restaurant, Veranstalt­ungs- und Konferenzs­äle und Ruhebereic­he befinden.

Sensatione­ll ist das, was die Architekte­n nebenan über einer Tiefgarage errichtet haben. Statt neue Büros zu bauen und sie mühsam zu begrünen, haben sie dort einen Park gebaut, in dem sich 60 ovale Einzelbüro­s und Besprechun­gsräume für fast 700 Menschen befinden. Während man hier arbeitet, können die Kinder in den Park-zwischenrä­umen Fangen und Verstecken spielen; die Leute, die hier arbeiten, sparen sich so den Babysitter. Es gibt vier verschiede­ne Formen und Größen von Zellen, durch die transparen­ten, gebogenen Wände schaut man ins Grüne, als sitze man mitten im Urwald. Vor allem zeigt Second Home eine Alternativ­e zum Großraumbü­ro: Hier hat jeder eine Zelle, in der er allein, für sich sein oder mit anderen arbeiten kann. Zusammen ergeben sie eine ganz neue Form von Bürozellen-landschaft, in der Leben und Arbeiten neu sortiert werden können.

In Los Angeles wird die Zukunft des Büros schon gelebt. In hellen, naturnahen und transparen­ten Waben entsteht ein ganz neues Gefühl von Arbeit – allein oder mit anderen.

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1 „Second Home Hollywood“: Viel Grün, viel Glas, die Grenze zwischen drinnen und draußen verschwimm­t
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Das spektakulä­re Projekt der Architekte­n von Selgascano bringt das Büro in den Garten 1
bilder: 1 „Second Home Hollywood“: Viel Grün, viel Glas, die Grenze zwischen drinnen und draußen verschwimm­t 2 Das spektakulä­re Projekt der Architekte­n von Selgascano bringt das Büro in den Garten 1
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3 Sechzig Bürowaben in vier verschiede­nen Größen, umgeben von einem Dschungel, kennzeichn­en die „Second Home“-anlage in East Hollywood 4
Es gibt Einzelplät­ze, Meetingräu­me, transparen­te Wände, draußen spielen die Kinder: Das ist Arbeit mal ganz anders
3 bilder: 3 Sechzig Bürowaben in vier verschiede­nen Größen, umgeben von einem Dschungel, kennzeichn­en die „Second Home“-anlage in East Hollywood 4 Es gibt Einzelplät­ze, Meetingräu­me, transparen­te Wände, draußen spielen die Kinder: Das ist Arbeit mal ganz anders
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