Frankfurter Allgemeine Quarterly

Tugay Sarac

„Ich dachte, das passt nicht: So lange habe ich gebetet – und bin immer noch schwul. Inzwischen arbeite ich auch als Imam.“

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Ich bin in unserer Moschee der Ansprechpa­rtner für Lgbt-menschen und alle Themen, die damit zu tun haben. Ich halte Vorträge, organisier­e den Stammtisch, mache Youtube-videos zu dem Thema und habe auch einen eigenen Podcast gestartet, in dem ich mit queeren Musliminne­n und Nichtmusli­minnen ins Gespräch komme. Sie reden darüber, wie wir mit unserer religiösen und unserer sexuellen Identität zurechtkom­men.

Ich persönlich sehe da gar keinen Widerspruc­h. Natürlich ist die vorherrsch­ende Meinung unter Muslimen, Homosexual­ität sei verboten. Das wird mit der Geschichte um den Propheten Lot und seinen angeblich homosexuel­len Handlungen begründet. Das ist die Geschichte von Sodom und Gomorra, die man auch aus dem Judentum kennt. Aber die Geschichte, auch im Koran, gibt das gar nicht her. Die Verse handeln von Drohungen, Vergewalti­gung und Gewalt insgesamt. Und die wird doch abgelehnt. Gott sagt, er ist barmherzig.

Ich bin mit der Religion aufgewachs­en, meine Familie war nicht so konservati­v, aber der Islam hat da eine Rolle gespielt. Ich habe gemeinsam mit meinem Vater gebetet und bin in die Moschee gegangen an Feiertagen. Mein Vater wusste nicht, dass ich schwul bin, und ich habe es lange für mich selbst nicht annehmen können. Als mein Vater 2011 verstorben ist, bin ich ziemlich in den Islamismus abgedrifte­t, ich war ultrakonse­rvativ, ja ideologisi­ert unterwegs. Fünfmal am Tag beten war Standard, in der zehnten Klasse habe ich mir einen Betraum in der Schule erstritten, ich wollte Frauen nicht die Hand geben und habe mich oft mit meiner Familie über diese Themen gestritten. Generell habe ich versucht, mich sehr im Leben zurückzuha­lten, weil ich mich von dieser Homosexual­ität heilen wollte, die mir als etwas Schlechtes beigebrach­t worden war. Das ging ein paar Jahre, dann habe ich mich erst mal vom Islam verabschie­det. Ich dachte, es passt einfach nicht: So lange habe ich gebetet – und ich bin immer noch schwul. Entweder nehme ich an, wer ich bin, oder es gibt Gott nicht. Meine Mutter, meine Tante, meine Schwestern und Cousinen haben toll reagiert, als ich mich geoutet habe.

Schließlic­h bin ich in die Ibn-rushd-moschee gekommen, die meine Tante gegründet hat, habe von Chinastudi­en zu Islamwisse­nschaften gewechselt, und inzwischen arbeite ich hier auch als Imam. Bei uns gibt es einen Islamwisse­nschaftler, noch eine Frau, die Predigten hält – und mich. Es gibt gar keine genaue Beschreibu­ng, wie man Imam zu werden hat, das steht nirgendwo geschriebe­n. Imam heißt wortwörtli­ch übersetzt: derjenige, der zuerst aufsteht oder der vorne steht. Der Begriff des Imams ist eigentlich schwerer zu fassen als zum Beispiel der Begriff des Priesters. Natürlich kann man eine praktische Imam-ausbildung machen, aber dann folgt man einer bestimmten Rechtsschu­le oder den Vorgaben des türkischen Staates, der eigene Imame ausbildet. Aber jeder kann zum Beispiel eine Wohnzimmer­moschee aufmachen, das würde ihm niemand streitig machen können.

Vor einem Jahr habe ich meine erste Predigt gehalten. Darin habe ich von Erfahrunge­n von homosexuel­len Muslimen berichtet und Auszüge aus dem Koran vorgelesen, in denen es um Barmherzig­keit und Liebe geht. Die zweite Predigt hielt ich zu Sarah Hegazi, der lesbischen Aktivistin, die aus Ägypten geflohen ist und schließlic­h Selbstmord begangen hat, weil sie so gebrochen war.

Manchmal schicken mir Leute irgendwelc­he Drohungen oder sexualisie­rte Beleidigun­gen und nennen mich Hurensohn. Aber ich erhalte auch sehr viele positive Nachrichte­n. Ich würde auch sagen, dass das überwiegt. Oft kommt ein Dankeschön von jungen Musliminne­n, dafür, dass ich das Thema offen anspreche, es würde sie in ihrem Weg bestärken.

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