Frankfurter Allgemeine Quarterly
Cemile Sahin im Gespräch „Ich bin politisch. Kunst und Politik sind für mich nicht zu trennen!“
Kürzlich zeigte Cemile Sahin eine Arbeit bei der vielbeachteten Gruppenausstellung „Studio Berlin“im Berghain. Zugleich erzielte ihr zweites Buch „Alle Hunde sterben“, in dem sie eine ganz eigene Sprache für Gewalt findet, große Aufmerksamkeit. Sie unterscheidet nicht zwischen Kunst und Literatur. Ihre Bücher, Fotos, Videos und Filme gehören zu einem Kosmos, in dem es darum geht, wie Bilder manipulieren, wie Geschichtsschreibung funktioniert und wie Gewalt dargestellt werden kann. Einer größeren Öffentlichkeit fiel sie vor einem ein Jahr erstmals auf, als ihr Debütroman „Taxi“erschien, in dem eine Mutter sich für ihren getöteten Sohn einen Doppelgänger sucht. Für dieses Werk erhielt sie die Alfred-döblin-medaille, für ihre Kunst den renommierten „Ars Viva“-preis. Die in Wiesbaden geborene Tochter kurdischer Eltern gilt als eine der interessantesten neuen Künstlerinnen des Landes.
FRANKFURTER ALLGEMEINE QUARTERLY: Sie sind schon mit 16 Jahren nach England gegangen, warum?
CEMILE SAHIN: Wiesbaden ist ja recht klein, ich wollte schon als Kind nach New York ziehen. Stattdessen bin ich nach London, mit einem Stipendium und der Unterstützung meiner Eltern. Dort habe ich das internationale Abitur gemacht.
FAQ: Danach begannen Sie dort ein Kunststudium.
SAHIN: Ich komme nicht aus einem Kunst-haushalt. Bei uns zu Hause hat Politik die größte Rolle gespielt. Die Schuljahre in London waren sehr prägend, der Kunst-input war gut und intensiv. Ich musste sehr viel nachholen und entdecken, weil ich vieles einfach nicht kannte. Aber irgendwann wusste ich : That’s it.
FAQ: Das Studium setzten Sie in Berlin fort.
SAHIN: Nach fast sechs Jahren London hatte ich genug
von der Stadt. Da hatte ich schon zwei Jahre Kunst studiert und mich parallel in New York an Kunstunis beworben. Durch viele Zufälle und um wieder näher bei meinen Eltern zu sein, wurde daraus die Universität der Künste in Berlin.
FAQ: Es gibt viel Text in Ihren visuellen Arbeiten und viele Bildmotive in Ihrer Literatur. Sie verzichten auf die Trennung der Künste.
SAHIN: Schreiben ist für mich ein Medium innerhalb meiner Kunst. Text und Bild sind für mich nicht voneinander zu trennen. Sprache interessiert mich eher konzeptuell, auch wie ich Bilder über Sprache generieren kann. Es geht mir nicht darum, eine glatte Geschichte runterzuerzählen. Für mich steht die Idee im Vordergrund, und erst wenn ich weiß, was ich machen will, entscheide ich mich für ein Medium, das am besten zu der Arbeit passt.
FAQ: Das Element Film spielt auch eine wichtige Rolle?
SAHIN: Ich habe immer gern Filme gesehen, aber ich wollte nie klassischen Film-film machen, wo man unbeweglich im Kino sitzt und zuschaut. Mich hat eher der Zwischenraum gereizt: Ich wollte Elemente und Erzählformen des Spielfilms mit der Videokunst kombinieren. In meinen Videoarbeiten arbeite ich oft mit Reenactments und direkten Bezügen zum Spielfilm, die als Videoinstallationen für die jeweiligen Ausstellungsräume konzipiert sind. Ich arbeite zudem sehr oft mit der Split-screen-technik, durch die sich laufend andere Bildkompositionen ergeben.
FAQ: Bei der „Ars Viva“-ausstellung im Hamburger Kunstverein haben Sie eine Installation gezeigt, die aus Flugzeugrutschen, Fotografien und Videoarbeiten bestand. Da sah man explodierende Berge und Menschen, die vor Bergen posierten. Wie kam es dazu?
SAHIN: Es ging darum, auf Nachrichtenbilder und ihre
Manipulierbarkeit zu verweisen und wie so eine Art
von Geschichtsschreibung funktioniert. Konkret: wie das Motiv des Berges in den türkischen Medien benutzt und dargestellt wird. Berge sind dort heute automatisch mit dem Begriff „Terrorist“verknüpft. Die Videoarbeit ist eine Zusammenstellung aus Nachrichtenbildern. Wir sehen, wie ständig Bergteile gesprengt werden, also passiert etwas, aber eigentlich sieht man gar nichts. Diese Bilder sind Instrumente einer psychologischen Kriegsführung.
FAQ: Um Terroristenbekämpfung anzudeuten?
SAHIN: Genau. Dazu zeigt man türkische Soldaten, die Berge hochlaufen, runterlaufen, die sich von Felsen abseilen, als ob ein Einsatz gerade beendet worden wäre. Natürlich bestens inszeniert. Das sehen wir teilweise live als Breaking News auf allen Kanälen. Aber eigentlich gibt es in dem Moment, außer der Inszenierung, nichts zu sehen.
FAQ: Aber es gibt auch einen anderen, „guten“Berg?
SAHIN: In Ardahan in der Türkei steht ein Berg, bei dem man bei einer bestimmten Sonneneinstrahlung das Konterfei von Atatürk erkennen kann, das durch die Schatten hervorgerufen wird. Das wurde natürlich präpariert, weil es wirklich 1:1 sein Abbild ist, da braucht man keine Phantasie mehr. Dieser Berg ist ein Pilgerort für Atatürk-anhänger*innen geworden. Und beide Bergdarstellungen sind ikonisch: der in die Luft gesprengte und der Atatürk-berg.
FAQ: In Ihrem Episodenroman „Alle Hunde sterben“wird von grausamer Gewalt gegen Zivilisten erzählt. Woher kommt Ihr Interesse an Gewalt?
SAHIN: Es ist nicht so, dass mich etwas an Gewalt an sich reizt oder dass ich fasziniert davon bin. Es geht vielmehr um autoritäre Staaten und Gewalt, Staatsgewalt ist ein großer Bestandteil davon. Ich habe mich gefragt, welche Möglichkeit der Darstellung es geben kann. Über welche Erzählungen, Bilder, über welche Formen könnte das funktionieren? Die Geschichten haben alle einen realen Hintergrund, wenn man sich mit dem Nahen Osten oder speziell mit der Türkei beschäftigt, kommt man leider nicht um solche Geschichten herum. Aber es geht um Gewalt als universelles Phänomen, das überall unter solchen Umständen auftauchen kann. Und darum, was diese Arten von Militarismus und Nationalismus mit Gesellschaften machen. Wenn Männer zur Armee gehen und die Hemmschwelle dort so runtergebrochen wird, um solche Dinge zu tun.
FAQ: Sie machen Kunst mit politischen Bezügen, Sie
haben mit der Autorin Ronya Othmann lange eine politische Kolumne in der „tageszeitung“(taz) gehabt, die „Orient Express“hieß. Was hat Sie so politisiert?
SAHIN: Ist das jetzt eine Herkunftsfrage?
FAQ: Nein, es ist die Frage nach der Motivation für diese
explizit politische Kolumne.
SAHIN: Ich bin politisch. Kunst und Politik sind für mich nicht zu trennen. Deshalb gab es auch diese Kolumne. Es gab keinen einzelnen Moment der Politisierung. Und die Perspektive der Deutschen auf den Nahen Osten ist eine Mischung aus Romantik, Fetischismus, Orientalismus, oft auch halbwahr. Hier leben ganz schön viele Nahost-expert*innen. Und wir dachten, wir könnten da ein wenig aufräumen.
FAQ: Ungewöhnlich war, dass Sie mit Ronya Othmann rechte Positionen angegriffen, aber auch linke Gewissheiten in Frage gestellt haben.
SAHIN: Wer sich nicht selbst kritisieren kann oder nicht kritikfähig ist, hat einige grundsätzliche Dinge nicht verstanden. Es sind nicht linke Gewissheiten, die wir in Frage gestellt haben, sondern explizit deutsche. Hier herrschen einige festgeformte „Narrative“über den Nahen Osten, sei es über politische Zustände, Umstände, Situationen, die sehr linear zusammengefasst sind oder so nicht immer stimmen. Kriege funktionieren doch auch nicht linear. Die Lage ist immer komplexer. Es gibt viele Parteien, viele Akteure, viele Interessen, die Koalitionen wechseln, aus strategischen Gründen, auch, um am Leben zu bleiben. Andere Dinge werden erst gar nicht richtig beachtet, auch in Deutschland nicht. Zum Beispiel der Einfluss türkischer Faschisten und ihrer Verbündeten. Vielen ist nicht klar, dass die größte rechtsextremistische Gruppe in Deutschland die
Grauen Wölfe sind. Sie sind sehr gut organisiert, und wir finden sie in vielen großen Parteien in Deutschland. Von türkischen Rechten haben wir auch die meisten Hassnachrichten bekommen.
FAQ: Wie sind Sie mit den Anfeindungen umgegangen?
SAHIN: Die gehen natürlich nicht spurlos an einem vorbei. Aber wenn man mit Arbeiten an die Öffentlichkeit tritt, hat man eine Verantwortung, auch eine politische. Und diese Verantwortung versuche ich sinnvoll zu nutzen. Und ich bin froh, wenn dadurch endlich auf die Debatten, die es ja nun schon länger über die türkische Rechte in Deutschland gibt, schärfere Konsequenzen folgen. Es gibt zum Beispiel eine Denunziations-app, die man sich kostenlos im Apple Store runterladen kann. Mit dieser App werden Oppositionelle direkt in der Türkei gemeldet. Warum ist das immer noch möglich?
FAQ: Mit was für Folgen für Sie?
SAHIN: Besser nicht in die Türkei einzureisen.
FAQ: Sie haben sich aber auch auf der linken Seite nicht
nur Freunde gemacht?
SAHIN: Ich finde diese Frage komisch. Ich verstehe mich selbst als Linke und Antifaschistin, aber ich finde genau aus diesem Grund Kritik innerhalb der Linken gut und wichtig. Es geht nicht darum, die deutsche Linke zu bashen. Es gibt einfach Dinge, an denen man arbeiten muss. Das sind so Sachen wie Identitätspolitik, das wird oft missverstanden, auch von den Deutschen. Ständig wird ein Opfermythos kreiert, nur weil Leute von wo anders herkommen. Das finde ich schrecklich und falsch. Wir leben in einer globalisierten Welt, da sollte man sich nicht so an Herkunft festbeißen, was nicht bedeutet, dass ich mich verleugnen muss.
FAQ: Was heißt das?
SAHIN: Ich bin Kurdin, aber das muss ich mir nicht auf die Stirn schreiben. Und ich möchte auch nicht, dass mein Kurdischsein als Katalysator für meine Kunst gelesen wird. Ich bin doch nicht Künstlerin, weil ich Kurdin bin. Und ich bin auch nicht Kurdin, weil ich Künstlerin bin. Wenn ein Yannick aus Köln eine Videoarbeit über Köln macht, redet ja auch niemand fünf Stunden darüber, dass Yannick aus Köln kommt. Wenn die Arbeit gut ist, ist die gut. Ich mache meine Kunst auch nicht, weil ich Identitätsprobleme habe oder eines Tages aufgewacht bin und dachte: Ab jetzt bin ich Kurdin. Dass ich Kurdin bin, bedeutet bloß, dass ich andere Realitäten kenne, besonders politische, das heißt: Es gibt Perspektiven außerhalb von Deutschland. Wäre ich in Frankreich in den Banlieues aufgewachsen, hätte ich mich vielleicht mit Architektur beschäftigt. Wenn jemand aus einem Dorf X in Deutschland nach Berlin zieht und einen Roman über die Stadt schreibt mit Drogen und allem, sagt man auch nicht, das schreibt der nur so, weil der aus X kommt. Das macht man nur mit denen, die man als Ausländer betrachtet, und weil man an homogene Identitäten glaubt. Ich finde diese Herangehensweise reaktionär, sie wird den Akteuren und ihren Arbeiten nicht gerecht, das ist mir zu stumpf.
FAQ: Kann man diesen Zuschreibungen entkommen?
SAHIN: Indem man immer wieder darauf hinweist oder sich dieser Zuschreibung verweigert, die alle nervt. Auch meine Freundinnen, die bei dieser Geschichte für das Quarterly dabei sind, die auch alle etwas Künstlerisches machen. Es nervt, wenn man sich immer wieder dagegen wehren und alles hundertmal sagen muss. Das ist auch bei politischen Arbeiten so. Schreibt ein Deutscher einen gut recherchierten, expliziten politischen Text über die Türkei, wird die Arbeit objektiv bewertet und alle sagen: Wow! Wenn ich das mache, wird mir eine zu hohe Subjektivität unterstellt. Dieses Schiedsrichtergehabe ist die deutsche Rolle in der Identitätspolitik.
FAQ: Ist Berlin für Sie ein guter Ort für Kunst?
SAHIN: Die Stadt ist für meine Arbeit nicht so ausschlaggebend, natürlich bin ich aber lieber in einer Großstadt als in einem kleinen Dorf! Aber es hängt viel mehr an den Leuten, meinen Freundinnen, mit denen ich zusammen sein und arbeiten kann. Ich mag Berlin, aber mich langweilt Berlin auch ein wenig. Ein Tapetenwechsel wäre mal gut. Ich würde sehr gern eine Zeitlang in Tokio leben.