Frankfurter Allgemeine Quarterly
Wie sieht’s denn hier aus?
Ob Lockdown oder nicht: Alle sind mehr und länger zu Hause. Fünf Beispiele zeigen: Das muss nicht im Neobiedermeier enden – wenn man weiß, wie man wirklich wohnen will
Wenn wir alle mehr Zeit zu Hause verbringen, steigen die Ansprüche an die Gestaltung
Spätestens seit der Pandemie lassen auch diejenigen ihren Blick kritischer durch die eigene Wohnung streifen, die den Spruch „Zu Hause ist es immer noch am schönsten“zuletzt von ihren Eltern gehört haben. In Zeiten, in denen die Welt auf die eigenen vier Wände zusammenschrumpft, ist an der eher nachlässig eingerichteten Behausung plötzlich nichts mehr lässig. Corona verändert die Ansprüche an das eigene Wohnumfeld in Sachen Wohlfühlfaktor, Charakter, Funktionalität und Präsentation – der Videokonferenz-effekt – erheblich. Und verstärkt dadurch eine Tendenz, die schon länger beobachtet wird:
„Das Zuhause ist der neue Horizont – es ist zum Arbeitsplatz, zur Schule und zu einem Ort geworden, an dem man jetzt vermehrt Hobbys ausprobiert, in den man als Lebensmittelpunkt stärker investiert, an dem man Freunde trifft und wo man in Sicherheit ist“, sagt Thomas Täuber von der Unternehmensberatung Accenture, die die 2020er Jahre in einer Studie jüngst zum „Jahrzehnt des Zuhauses“erklärte. Nach Schätzungen von Gesundheitsorganisationen verbringen Menschen in Europa sowieso rund 90 Prozent ihrer Zeit in geschlossenen Räumen und immer häufiger eben auch daheim. Kein Wunder, dass die Gestaltung der eigenen Wohnung in den vergangenen Jahren vor allem in sozialen Netzwerken und Blogs immer wichtiger geworden ist. Sie wurde auf dieser Ebene zu einer
Art Theater, einer Erweiterung des eigenen digitalen Avatars, mit deren Hilfe wir einander unmittelbarer und intimer als je zuvor von unserem Leben erzählen. Jedes Objekt darin wird somit zum Signal, jeder Gegenstand darin verweist auf einen Geschmack oder eine Lebenserfahrung. Mit Möbeln, Pflanzen, Accessoires werden Menschen Kreativdirektoren ihrer eigenen Marke. Instagram ist dabei nicht nur eine Plattform für Selbstdarsteller, sondern hat andersherum viele Menschen auch inspiriert und den Blick auf die eigenen Quadratmeter geweitet. In der Pandemie ist für viele die Wohnung zum Entdeckungsraum geworden: andere Lichtstimmungen erlebt, neue Lieblingsplätze entdeckt, die Bilder umgehängt oder ausgetauscht.
Eine Wohung ist aber nicht nur Schaufenster, sondern wichtiger noch: Schutzraum. Ein Kokon, der vor den Unbilden der Welt bewahren soll – zumal wenn draußen möglicherweise die nervenden Viren warten. In ihrer „Theorie des öffentlichen Lebens“schrieb Hannah Ahrendt: „Die Welt des Menschen ist das Leben in der Öffentlichkeit, der Raum des Auftritts.“Heute haben Zoom-konferenzen und Live-schalten den Privatraum über Nacht zur öffentlichen Bühne gemacht. Aber wie findet man sein Glück an einem Ort, der potentiell jederzeit auf Sendung gehen kann? Bedeutet die Pandemie das Ende von offenen Grundrissen? Braucht bald jede Wohnung ein Arbeitszimmer? Wie gestaltet man seine Umwelt, dass sie zu einem spricht? Kurzum: Wie schafft man es, dass einem zu Hause die Decke nicht auf den Kopf fällt? Was sollte man bei der Gestaltung beachten? Wir haben fünf Kreative, die das Glück in ihrer Wohnung gefunden haben, gefragt: Wie geht das?
„Vielleicht sollten wir unser Zuhause nicht mehr nur als Refugium sehen, sondern als Ort, an dem wir genießen und schaffen, als eine Quelle der Freude“, sagt Maryam Keyhani. Die iranischstämmige Hutmacherin und Künstlerin verbrachte ihre Sommer seit Jahren in Berlin, entschloss sich aber im letzten Jahr, mit ihrer vierköpfigen Familie von Toronto ganz nach Deutschland zu ziehen. Durch die Reisebeschränkungen der Pandemie verzögerte sich der Umzug, und bei der Renovierung der klassischen Altbauwohnung wurden schließlich einige Räume neu gedacht, um Wohnen und Arbeit zusammenzubringen.
Das war ursprünglich nicht so geplant, aber nun arbeitet Keyhani das erste Mal Vollzeit von zu Hause. Dafür hat sie sich neben ihrem Atelier ein Hutzimmer eingerichtet, das 350 ihrer Modelle und das Büro beherbergt. Der Rest der Wohnung mit ihren Flügeltüren und der pastelligen Marie-antoinette-anmutung ist eine große Spielwiese für Familie und Freunde. „Ich wollte, dass er heiter und verspielt ist, ein Platz, an dem man Dinge macht, die man genießt. So ist es auch, wenn die Freunde meiner Kinder zu Besuch kommen. Sie ziehen sich nicht ins Kinderzimmer zurück, sondern tollen durch alle Räume.“
Eine andere Altbauwohnung, diesmal in Wien. Früher wohnte hier eine Burgschauspielerin, heute spielt die Wohnung der Gestalterin Laura Karasinski selbst
die Hauptrolle: „Ich glaube, dass Wohnungen heute mit viel mehr Liebe gelebt werden.“Und dass mehr Menschen erkennen, dass auch Räume ihren eigenen Charakter haben: „Ich nenne meine Wohnung immer die ‚große alte Dame‘, weil sie so viele Eigenheiten hat.“Als Karasinski einzog, konnte sie sich das kaum leisten. „Ich war so verzweifelt nach einem halben Jahr Suche, dass ich online alle Suchfilter gelöscht hatte, und dann kam doch eine. Sie war viel zu groß und viel zu teuer, aber ich dachte, wenn ich auch mein Büro hier einrichte, passt es vielleicht.“Und genau so kam es auch, inklusive einer Handvoll Leute, die dort arbeiten. „Die Wohnung ist mit mir erwachsen geworden. Es ist Farbe eingezogen, irgendwann hat das Budget auch für Designermöbel gereicht. So ist sie mit den Jahren gewachsen.“
In Stuttgart leben Hans-dieter Lutz und seine Frau Gudrun schon seit 50 Jahren in ihrem Haus. Als sie es damals in einer neu gebauten Wohnsiedlung erwarben, konnte Lutz als Architekt die Innenräume selbst gestalten. „Ich habe mir die Pläne angeschaut, gesehen, was nicht stimmte, und es nach unseren Vorstellungen umgearbeitet, für eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern“, erzählt der heute 85-Jährige. Statt der angedachten klassischen Raumaufteilung entwarf Lutz einen Wohn- und Essbereich, der sich über zwei Etagen erstreckte und durch ein zentrales Möbel, das Garderobe und Stauräume beherbergt, verbunden ist. Vom zentralen Bereich gingen kleinere Schlaf- und Kinderzimmer ab.
Es waren die siebziger Jahre; der großzügige Küchen- und Essbereich wurde mit grafischen weißbraunen Fliesen ausgelegt, die hinteren Wände ohne Fenster sonnengelb gestrichen, mit Interlübke möbliert und mit Arbeiten lokaler Künstler behängt, die Hängekommoden hat Lutz selbst entworfen. Von der zweiten Etage hängen Papierlampions von Isamu Noguchi und eine wild gewachsene Monstera herunter. Das einstige Familienheim, das heute zum Altersdomizil geworden ist, ist eine Zeitkapsel, die dennoch zeitgemäß wirkt. „Wir haben es uns hier so eingerichtet, wie wir es wollten. Klar haben wir immer wieder mal überlegt, ob wir etwas verändern, aber dann beschlossen, es so zu lassen, wie es ist. Denn wir fühlen uns wohl. Auch jetzt, wo man nicht mehr rauskann“, sagt Lutz. In der Pandemie ist vor allem die großzügige Terrasse zur Ausflucht geworden, die Weite gibt, ohne rauszumüssen.
Auch Rabea Schif setzt auf Beständigkeit. „Ich bin ein Fan davon, beim Einzug alles so zu gestalten, dass man sich gleich wohl fühlt“, sagt die Moderatorin, die seit fünf Jahren in ihrer Frankfurter Wohnung mit dem Unternehmer David Gergely lebt. „Klar ändern sich Kleinigkeiten. Aber im Großen und Ganzen war die Wohnung auch damals so, wie sie heute aussieht.“In ihrem großzügigen Loft treffen Vintage-objekte auf neue Möbel, trifft Sichtbeton auf sinnliche Stoffe. „Dieses Spiel aus Alt und Neu, aus Kalt und Warm gibt der Wohnung einen besonderen Vibe“, sagt Schif. Ihre liebste Sitzecke besteht aus zwei dänischen Sesseln, die sie auf der Abschiedsparty eines Freundes in London entdeckte, wo auch sie damals ihre Zelte abbrach. Sie nahm sie spontan nach Frankfurt mit und ließ andere Möbel dafür zurück. „So erzählt jedes Teil seine eigene Geschichte. Alles ist mit guten Erinnerungen verbunden, Dingen, an denen man sich jeden Tag erfreut.“
Es gehören also viele Komponenten dazu: genug Platz zur Entfaltung, die richtige Raumaufteilung, ein Ort, an dem man selbst etwas schaffen kann – und Objekte, die die Sinne ansprechen –, und genügend Licht. „Ein naturbelassenes Umfeld, das hell und freundlich ist, mit all den Dingen, die uns am Herzen liegen“, danach suchten Lea Korzeczek und Matthias Hiller. In Leipzig haben die jungen Designer, die mit ihrem Studio Oink auch beruflich Innenräume gestalten, eine Wohnung in einem Altbau aus den dreißiger Jahren bezogen. Die Wände wurden mit Kalk verputzt und mit Lehmfarbe gestrichen, der Boden mit Lacken auf Wasserbasis. „Wir wollten mit unseren Kindern – die noch gar nicht auf der Welt waren, als wir eingezogen sind – hier wohnen und haben dementsprechend auch den Grundriss neu gezogen“, sagt Korzeczek. Dem Paar war wichtig, dass die Wohnung nicht zugestellt wird, weshalb es Maßeinbauten entwarf und Wände durchbrach. „Als neuen Übergang haben wir eine alte Flügeltür aus einem Pfarrhaus auf Ebay-kleinanzeigen gekauft.“
Statt Heizungen bringen Öfen Wärme in die Wohnung. „So erlebt man die Jahreszeiten viel bewusster“, sagt Korzeczek. „Wenn man dieses Bewusstsein und die Verbindung zur Natur und den Menschen lebt, dann passt diese Lebensweise auch in unsere heutige Zeit und zu uns selbst. Das empfinden wir als sehr funktional und befreiend.“Viele der Möbel in ihrer Wohnung, etwa ein Vitrinenschrank aus alten Fenstern eines Keramikhofs oder die Bank, haben die Designer selbst entworfen, andere Objekte in der Wohnung stammen von befreundeten Kreativschaffenden und Künstlern wie Margit Jäschke. Wie lange die junge Familie in der Wohnung leben wird, weiß sie noch nicht. „Aber jede Stunde, jeder Tag und jedes Jahr in unserer Wohnung oder unserem Haus ist es wert, schön und gemütlich dort zu leben. Gerade in Zeiten, wie wir sie die letzten Monate erlebt haben, sollten wir uns wirklich überlegen, mit was wir uns umgeben – und auch von wem oder was wir uns abhängig machen wollen.“
Das Zuhause ist der neue Horizont. In der Pandemie ist die eigene Wohnung zum Mittelpunkt geworden. Und in Zeiten von Zoom zugleich zur Präsentationsfläche nach außen. Mit Möbeln, Pflanzen, Accessoires wird die eigene Marke gepflegt.