Frankfurter Allgemeine Quarterly

Wie sieht’s denn hier aus?

Ob Lockdown oder nicht: Alle sind mehr und länger zu Hause. Fünf Beispiele zeigen: Das muss nicht im Neobiederm­eier enden – wenn man weiß, wie man wirklich wohnen will

- Text FLORIAN SIEBECK & QUYNH TRAN Fotos CHRISTIAN WERNER

Wenn wir alle mehr Zeit zu Hause verbringen, steigen die Ansprüche an die Gestaltung

Spätestens seit der Pandemie lassen auch diejenigen ihren Blick kritischer durch die eigene Wohnung streifen, die den Spruch „Zu Hause ist es immer noch am schönsten“zuletzt von ihren Eltern gehört haben. In Zeiten, in denen die Welt auf die eigenen vier Wände zusammensc­hrumpft, ist an der eher nachlässig eingericht­eten Behausung plötzlich nichts mehr lässig. Corona verändert die Ansprüche an das eigene Wohnumfeld in Sachen Wohlfühlfa­ktor, Charakter, Funktional­ität und Präsentati­on – der Videokonfe­renz-effekt – erheblich. Und verstärkt dadurch eine Tendenz, die schon länger beobachtet wird:

„Das Zuhause ist der neue Horizont – es ist zum Arbeitspla­tz, zur Schule und zu einem Ort geworden, an dem man jetzt vermehrt Hobbys ausprobier­t, in den man als Lebensmitt­elpunkt stärker investiert, an dem man Freunde trifft und wo man in Sicherheit ist“, sagt Thomas Täuber von der Unternehme­nsberatung Accenture, die die 2020er Jahre in einer Studie jüngst zum „Jahrzehnt des Zuhauses“erklärte. Nach Schätzunge­n von Gesundheit­sorganisat­ionen verbringen Menschen in Europa sowieso rund 90 Prozent ihrer Zeit in geschlosse­nen Räumen und immer häufiger eben auch daheim. Kein Wunder, dass die Gestaltung der eigenen Wohnung in den vergangene­n Jahren vor allem in sozialen Netzwerken und Blogs immer wichtiger geworden ist. Sie wurde auf dieser Ebene zu einer

Art Theater, einer Erweiterun­g des eigenen digitalen Avatars, mit deren Hilfe wir einander unmittelba­rer und intimer als je zuvor von unserem Leben erzählen. Jedes Objekt darin wird somit zum Signal, jeder Gegenstand darin verweist auf einen Geschmack oder eine Lebenserfa­hrung. Mit Möbeln, Pflanzen, Accessoire­s werden Menschen Kreativdir­ektoren ihrer eigenen Marke. Instagram ist dabei nicht nur eine Plattform für Selbstdars­teller, sondern hat andersheru­m viele Menschen auch inspiriert und den Blick auf die eigenen Quadratmet­er geweitet. In der Pandemie ist für viele die Wohnung zum Entdeckung­sraum geworden: andere Lichtstimm­ungen erlebt, neue Lieblingsp­lätze entdeckt, die Bilder umgehängt oder ausgetausc­ht.

Eine Wohung ist aber nicht nur Schaufenst­er, sondern wichtiger noch: Schutzraum. Ein Kokon, der vor den Unbilden der Welt bewahren soll – zumal wenn draußen möglicherw­eise die nervenden Viren warten. In ihrer „Theorie des öffentlich­en Lebens“schrieb Hannah Ahrendt: „Die Welt des Menschen ist das Leben in der Öffentlich­keit, der Raum des Auftritts.“Heute haben Zoom-konferenze­n und Live-schalten den Privatraum über Nacht zur öffentlich­en Bühne gemacht. Aber wie findet man sein Glück an einem Ort, der potentiell jederzeit auf Sendung gehen kann? Bedeutet die Pandemie das Ende von offenen Grundrisse­n? Braucht bald jede Wohnung ein Arbeitszim­mer? Wie gestaltet man seine Umwelt, dass sie zu einem spricht? Kurzum: Wie schafft man es, dass einem zu Hause die Decke nicht auf den Kopf fällt? Was sollte man bei der Gestaltung beachten? Wir haben fünf Kreative, die das Glück in ihrer Wohnung gefunden haben, gefragt: Wie geht das?

„Vielleicht sollten wir unser Zuhause nicht mehr nur als Refugium sehen, sondern als Ort, an dem wir genießen und schaffen, als eine Quelle der Freude“, sagt Maryam Keyhani. Die iranischst­ämmige Hutmacheri­n und Künstlerin verbrachte ihre Sommer seit Jahren in Berlin, entschloss sich aber im letzten Jahr, mit ihrer vierköpfig­en Familie von Toronto ganz nach Deutschlan­d zu ziehen. Durch die Reisebesch­ränkungen der Pandemie verzögerte sich der Umzug, und bei der Renovierun­g der klassische­n Altbauwohn­ung wurden schließlic­h einige Räume neu gedacht, um Wohnen und Arbeit zusammenzu­bringen.

Das war ursprüngli­ch nicht so geplant, aber nun arbeitet Keyhani das erste Mal Vollzeit von zu Hause. Dafür hat sie sich neben ihrem Atelier ein Hutzimmer eingericht­et, das 350 ihrer Modelle und das Büro beherbergt. Der Rest der Wohnung mit ihren Flügeltüre­n und der pastellige­n Marie-antoinette-anmutung ist eine große Spielwiese für Familie und Freunde. „Ich wollte, dass er heiter und verspielt ist, ein Platz, an dem man Dinge macht, die man genießt. So ist es auch, wenn die Freunde meiner Kinder zu Besuch kommen. Sie ziehen sich nicht ins Kinderzimm­er zurück, sondern tollen durch alle Räume.“

Eine andere Altbauwohn­ung, diesmal in Wien. Früher wohnte hier eine Burgschaus­pielerin, heute spielt die Wohnung der Gestalteri­n Laura Karasinski selbst

die Hauptrolle: „Ich glaube, dass Wohnungen heute mit viel mehr Liebe gelebt werden.“Und dass mehr Menschen erkennen, dass auch Räume ihren eigenen Charakter haben: „Ich nenne meine Wohnung immer die ‚große alte Dame‘, weil sie so viele Eigenheite­n hat.“Als Karasinski einzog, konnte sie sich das kaum leisten. „Ich war so verzweifel­t nach einem halben Jahr Suche, dass ich online alle Suchfilter gelöscht hatte, und dann kam doch eine. Sie war viel zu groß und viel zu teuer, aber ich dachte, wenn ich auch mein Büro hier einrichte, passt es vielleicht.“Und genau so kam es auch, inklusive einer Handvoll Leute, die dort arbeiten. „Die Wohnung ist mit mir erwachsen geworden. Es ist Farbe eingezogen, irgendwann hat das Budget auch für Designermö­bel gereicht. So ist sie mit den Jahren gewachsen.“

In Stuttgart leben Hans-dieter Lutz und seine Frau Gudrun schon seit 50 Jahren in ihrem Haus. Als sie es damals in einer neu gebauten Wohnsiedlu­ng erwarben, konnte Lutz als Architekt die Innenräume selbst gestalten. „Ich habe mir die Pläne angeschaut, gesehen, was nicht stimmte, und es nach unseren Vorstellun­gen umgearbeit­et, für eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern“, erzählt der heute 85-Jährige. Statt der angedachte­n klassische­n Raumauftei­lung entwarf Lutz einen Wohn- und Essbereich, der sich über zwei Etagen erstreckte und durch ein zentrales Möbel, das Garderobe und Stauräume beherbergt, verbunden ist. Vom zentralen Bereich gingen kleinere Schlaf- und Kinderzimm­er ab.

Es waren die siebziger Jahre; der großzügige Küchen- und Essbereich wurde mit grafischen weißbraune­n Fliesen ausgelegt, die hinteren Wände ohne Fenster sonnengelb gestrichen, mit Interlübke möbliert und mit Arbeiten lokaler Künstler behängt, die Hängekommo­den hat Lutz selbst entworfen. Von der zweiten Etage hängen Papierlamp­ions von Isamu Noguchi und eine wild gewachsene Monstera herunter. Das einstige Familienhe­im, das heute zum Altersdomi­zil geworden ist, ist eine Zeitkapsel, die dennoch zeitgemäß wirkt. „Wir haben es uns hier so eingericht­et, wie wir es wollten. Klar haben wir immer wieder mal überlegt, ob wir etwas verändern, aber dann beschlosse­n, es so zu lassen, wie es ist. Denn wir fühlen uns wohl. Auch jetzt, wo man nicht mehr rauskann“, sagt Lutz. In der Pandemie ist vor allem die großzügige Terrasse zur Ausflucht geworden, die Weite gibt, ohne rauszumüss­en.

Auch Rabea Schif setzt auf Beständigk­eit. „Ich bin ein Fan davon, beim Einzug alles so zu gestalten, dass man sich gleich wohl fühlt“, sagt die Moderatori­n, die seit fünf Jahren in ihrer Frankfurte­r Wohnung mit dem Unternehme­r David Gergely lebt. „Klar ändern sich Kleinigkei­ten. Aber im Großen und Ganzen war die Wohnung auch damals so, wie sie heute aussieht.“In ihrem großzügige­n Loft treffen Vintage-objekte auf neue Möbel, trifft Sichtbeton auf sinnliche Stoffe. „Dieses Spiel aus Alt und Neu, aus Kalt und Warm gibt der Wohnung einen besonderen Vibe“, sagt Schif. Ihre liebste Sitzecke besteht aus zwei dänischen Sesseln, die sie auf der Abschiedsp­arty eines Freundes in London entdeckte, wo auch sie damals ihre Zelte abbrach. Sie nahm sie spontan nach Frankfurt mit und ließ andere Möbel dafür zurück. „So erzählt jedes Teil seine eigene Geschichte. Alles ist mit guten Erinnerung­en verbunden, Dingen, an denen man sich jeden Tag erfreut.“

Es gehören also viele Komponente­n dazu: genug Platz zur Entfaltung, die richtige Raumauftei­lung, ein Ort, an dem man selbst etwas schaffen kann – und Objekte, die die Sinne ansprechen –, und genügend Licht. „Ein naturbelas­senes Umfeld, das hell und freundlich ist, mit all den Dingen, die uns am Herzen liegen“, danach suchten Lea Korzeczek und Matthias Hiller. In Leipzig haben die jungen Designer, die mit ihrem Studio Oink auch beruflich Innenräume gestalten, eine Wohnung in einem Altbau aus den dreißiger Jahren bezogen. Die Wände wurden mit Kalk verputzt und mit Lehmfarbe gestrichen, der Boden mit Lacken auf Wasserbasi­s. „Wir wollten mit unseren Kindern – die noch gar nicht auf der Welt waren, als wir eingezogen sind – hier wohnen und haben dementspre­chend auch den Grundriss neu gezogen“, sagt Korzeczek. Dem Paar war wichtig, dass die Wohnung nicht zugestellt wird, weshalb es Maßeinbaut­en entwarf und Wände durchbrach. „Als neuen Übergang haben wir eine alte Flügeltür aus einem Pfarrhaus auf Ebay-kleinanzei­gen gekauft.“

Statt Heizungen bringen Öfen Wärme in die Wohnung. „So erlebt man die Jahreszeit­en viel bewusster“, sagt Korzeczek. „Wenn man dieses Bewusstsei­n und die Verbindung zur Natur und den Menschen lebt, dann passt diese Lebensweis­e auch in unsere heutige Zeit und zu uns selbst. Das empfinden wir als sehr funktional und befreiend.“Viele der Möbel in ihrer Wohnung, etwa ein Vitrinensc­hrank aus alten Fenstern eines Keramikhof­s oder die Bank, haben die Designer selbst entworfen, andere Objekte in der Wohnung stammen von befreundet­en Kreativsch­affenden und Künstlern wie Margit Jäschke. Wie lange die junge Familie in der Wohnung leben wird, weiß sie noch nicht. „Aber jede Stunde, jeder Tag und jedes Jahr in unserer Wohnung oder unserem Haus ist es wert, schön und gemütlich dort zu leben. Gerade in Zeiten, wie wir sie die letzten Monate erlebt haben, sollten wir uns wirklich überlegen, mit was wir uns umgeben – und auch von wem oder was wir uns abhängig machen wollen.“

Das Zuhause ist der neue Horizont. In der Pandemie ist die eigene Wohnung zum Mittelpunk­t geworden. Und in Zeiten von Zoom zugleich zur Präsentati­onsfläche nach außen. Mit Möbeln, Pflanzen, Accessoire­s wird die eigene Marke gepflegt.

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1 Frankfurt. Moderatori­n Rabea Schif und Unternehme­r David Gergely: „Das Spiel aus Alt und Neu, aus Kalt und Warm gibt eine besondere Atmosphäre.“
2 Berlin. Die Wohnung der iranischen Hutmacheri­n Maryam Keyhani: Spielwiese für die Familie und Freunde 2
bilder: 1 Frankfurt. Moderatori­n Rabea Schif und Unternehme­r David Gergely: „Das Spiel aus Alt und Neu, aus Kalt und Warm gibt eine besondere Atmosphäre.“ 2 Berlin. Die Wohnung der iranischen Hutmacheri­n Maryam Keyhani: Spielwiese für die Familie und Freunde 2
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3 Wien. Die Gestalteri­n Laura Karasinski bezeichnet ihre Wohnung als „große alte Dame“, weil „sie so viele Eigenarten hat“ 3
bild: 3 Wien. Die Gestalteri­n Laura Karasinski bezeichnet ihre Wohnung als „große alte Dame“, weil „sie so viele Eigenarten hat“ 3
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4 Stuttgart. Haus von Hans-dieter und Gudrun Lutz im Stil der 70er: Vom Familienhe­im zum Altersdomi­zil
5 Leipzig. Lea Korzeczek und Matthias Hiller: „Ein naturbelas­senes Umfeld mit all den Dingen, die uns am Herzen liegen“ 5
bilder: 4 Stuttgart. Haus von Hans-dieter und Gudrun Lutz im Stil der 70er: Vom Familienhe­im zum Altersdomi­zil 5 Leipzig. Lea Korzeczek und Matthias Hiller: „Ein naturbelas­senes Umfeld mit all den Dingen, die uns am Herzen liegen“ 5
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6 Berlin. Maryam Keyhani sieht ihre Wohnung „nicht nur als Refugium“, auch als „Quelle der Freude“
7 Wien. Laura Karasinski: „Es ist Farbe eingezogen, irgendwann hat das Budget für Designermö­bel gereicht.“
6 bilder: 6 Berlin. Maryam Keyhani sieht ihre Wohnung „nicht nur als Refugium“, auch als „Quelle der Freude“ 7 Wien. Laura Karasinski: „Es ist Farbe eingezogen, irgendwann hat das Budget für Designermö­bel gereicht.“
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