Frankfurter Allgemeine Quarterly
Q2—wieso wandern so viele junge Italiener aus?
Ende des Sommers hat die amerikanische Regierung die italienische Elektroingenieurin Anna Grassellino als Teamleiterin von 200 Wissenschaftlern berufen. Ihnen stehen 115 Millionen Dollar zur Verfügung, um den leistungsstärksten Quantencomputer zu entwickeln, den es je gab. In Amerika existieren fünf solcher Forschungsgruppen. Nur eine wird von einer Frau angeführt.
Geboren 1981 auf Sizilien, studierte Grassellino in Pisa und ging aus Mangel an Möglichkeiten in Italien für ihre Promotion 2006 an die University of Pennsylvania. Für die Entwicklung supraleitender Hohlraumresonatoren für Mikrowellen, die bei Hochenergiebeschleunigern zur Teilchenbeschleunigung eingesetzt werden, hat sie zahlreiche wichtige Auszeichnungen erhalten. Seit 2012 arbeitet sie am Fermi National Accelerator Laboratory, kurz Fermilab, einem Forschungszentrum für Teilchenphysik der amerikanischen Regierung. Die Berufung zur Teamleiterin zeigte nicht zum ersten Mal: Anna Grassellino ist eine der bedeutendsten Nachwuchswissenschaftlerinnen der Welt. In Italien fand die Nachricht dennoch kaum Widerhall.
Akademikern schenke Italien grundsätzlich keine Anerkennung, lautete der Tenor in den italienischen sozialen Medien. Besonders ärgerte man sich dort über den „Corriere della Sera“. Anstatt Grassellinos Berufsbezeichnung oder ihren Nachnamen zu nennen, war in dem Artikel über die 39-Jährige mehrfach nur von „Anna“die Rede, als sei sie eine Schülerin, die bei „Jugend forscht“einen guten Platz belegt hat. „Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich viele italienische ,Annas‘ dafür entscheiden, ihr Talent in einem anderen Land einzubringen“, schrieb eine Nutzerin auf Facebook.
Italien erlebt seit Jahren einen Exodus von Hochschulabsolventen. Fehlende Wertschätzung ist eine der Triebfedern, dem Land den Rücken zu kehren. Viele haben genug von einer Kultur, in der hochqualifizierte und brillante junge Talente auch noch nach Jahren im Beruf wie Kinder behandelt und schlecht bezahlt werden. Genauso haben sie es satt zu hören, sie hätten Probleme wie etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit selbst zu verantworten. Der frühere Wirtschaftsminister Tommaso Padoa-schioppa etwa hat den Begriff der „bamboccioni“geprägt: verhätschelte Baby-erwachsene, die als Dreißigjährige noch zu Hause leben und sich aus Bequemlichkeit weigerten, Verantwortung zu übernehmen oder eine Familie zu gründen. Aber so einfach ist das nicht. Einen Job zu finden ist in vielen Regionen Italiens nahezu unmöglich. Die soziale Sicherheit, die frühere Generationen hatten, gibt es längst nicht mehr.
In zehn Jahren einen festen Arbeitsplatz zu haben, daran glauben nach einer aktuellen Studie des Antonio-notoinstituts nur 15 Prozent der unter 25-jährigen Italiener. Nur ein Fünftel hat Vertrauen in ein Morgen, mehr als die Hälfte glaubt, mit fünfzig ärmer zu sein als ihre Eltern, und 42 Prozent sind der Meinung, Italien verlassen zu müssen, um eine Zukunft zu haben.
Für einen Akademiker von vierzig Jahren ist es nicht ungewöhnlich, von Zeitvertrag zu Zeitvertrag zu wechseln. Eine berufstätige Frau, die sich entscheidet, Mutter zu werden, muss ihre Arbeit meistens aufgeben. Teilzeitstellen gibt es kaum, Elternzeit ist für Männer oft nicht vorgesehen, Kitaplätze sind rar und teuer. Ein Berufseinsteiger verdient im Durchschnitt gut 23 000 Euro und kann sich Kinderbetreuung kaum leisten. Trotzdem ist jeder glücklich, der überhaupt ein solches Gehalt hat.
Die Chancen, eine Stelle im studierten Fachgebiet zu finden oder wenigstens in einem Bereich, der dem eigenen Bildungsniveau entspricht, sind minimal. Das Land erlebt seit Jahren einen massiven Rückgang an Arbeitsplätzen, die eine höhere Qualifikation erfordern. Im Süden ist die Situation am schlimmsten. Von dort kommen auch die größten Abwanderungsströme.
Das Phänomen ist bekannt, untersucht wird es bisher jedoch kaum. Das Forschungszentrum Dossier Statistico Immigrazione hat die Abwanderung von Hochschulabsolventen für 2018 exemplarisch aufgeschlüsselt. Insgesamt 117 000 Italiener verlegten damals ihren Wohnsitz ins Ausland. Davon hatten 30 000 einen Hochschulabschluss und waren durchschnittlich 30 Jahre alt. Experten glauben, die wirkliche Zahl könnte doppelt so hoch sein. Denn all jene, die als vermeintliche „bamboccioni“bis zu ihrem Weggang bei den Eltern lebten, meldeten sich wahrscheinlich nicht ab und tauchen deshalb in der Statistik nicht auf. Geht man also von etwa 60 000 abgewanderten jungen Akademikern aus, entspräche das einer Stadt von der Größe Materas (bekannt aus dem Trailer für „James Bond: No Time to die“), die ins Ausland geht. Trotz Brexits war zuletzt Großbritannien das bevorzugte Ziel, gefolgt von Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Spanien.
Italien ist kein Land für junge Menschen, das haben die jungen Menschen verstanden. Sie wollen ihren Platz in der Welt finden, sich eine Perspektive auf bauen. In Italien ist das nicht unmöglich, in einigen Bereichen aber schwieriger als andernorts. Vor allem in der Wissenschaft. Die Universitäten bilden gut aus, aber das Graduierten- und Postdoc-system ist mangelhaft finanziert, die Hochschulen sind zu wenig mit der Wirtschaft vernetzt, bürokratische Hürden hoch, und Flexibilität bei Karriere und Gehältern gibt es nicht. Als Ende Februar drei Wissenschaftlerinnen der Universität Mailand und des Mailänder Sacco-krankenhauses erstmals den italienischen Stamm des Coronavirus isolieren konnten, wurden deren Arbeitsbedingungen öffentlich. Keine der drei Frauen zwischen 29 und 40 Jahren hatte einen festen Vertrag oder verdiente mehr als 1200 Euro monatlich.
Wie Italien das Potential seines Nachwuchses verspielt, verdeutlicht auch das jährliche Rennen um den „Starting Grant“. Das Förderprogramm des Europäischen Forschungsrats stattet junge, innovative Forscher mit millionenschweren Stipendien zum Aufbau von Forschungsgruppen aus. Bei der Vergabe belegen Italiener seit Jahren die vorderen Plätze. Von den 436 berücksichtigten Projekten kommen 2020 gleich hinter Deutschland 53 aus Italien. Allerdings wollen nur zwanzig der italienischen Wissenschaftler Gruppen in Italien aufbauen. Die übrigen gehen mit den Fördergeldern lieber ins Ausland.
Italien verliert viel, wenn der Exodus nicht gestoppt wird. Eine italienische Familie kostet es im Durchschnitt 165 000 Euro, ein Kind bis zum Alter von 25 Jahren großzuziehen. Der Staat gibt in dieser Zeit etwa 100 000 Euro für Schul- und Universitätsausbildung aus. Wandert der junge Erwachsene ab, ist er für Italien eine verlorene Investition. Auch Chancen, Gelegenheiten und Originalität werden verschenkt. Für die Demographie ist der Exodus ebenfalls ein Desaster. Italien ist nach Japan das zweitälteste Land der Welt. Es werden immer weniger Kinder geboren.
Die Hochschulabsolventen, die bleiben, kommen oftmals nur durch Unterstützung ihrer Familien über die Runden. Viele melden eine selbständige oder freiberufliche Tätigkeit für lächerliche Einkünfte an, haben mehrere Jobs gleichzeitig, ohne jemals einen regulären Arbeitsvertrag zu sehen. Sie vernetzen sich, um trotzdem Ideen weiterentwickeln zu können. Ohne ihre Initiativen wäre das Land noch perspektivloser. Die Wirtschaftskrise Mitte der 2000er Jahre hat man irgendwie überwunden. Jetzt findet sich die junge Generation in einer Pandemie wieder. Projekte müssen ausgesetzt oder verschoben werden, Träume und Zukunftspläne werden zerstört. Noch ist völlig unklar, wie Italien und Europa aussehen werden, wenn die lange Welle der Gesundheitskrise abgeebbt sein wird. Unter Umständen wird selbst die Flucht ins Ausland dann keine Perspektive mehr bieten.
Keine Jobs oder sehr wenig Lohn, dazu kein Respekt und kaum Perspektiven: Immer mehr qualifizierte Menschen kehren dem Land den Rücken