Frankfurter Allgemeine Quarterly

Q5—was wollen die Nomaden Amerikas, Chloé Zhao?

Was wollen die Nomaden Amerikas, Chloé Zhao?

- Chloé Zhao wurde in Peking geboren, lernte in England, studierte in New York und hat bisher drei Filme gedreht, die Hollywood so überzeugt haben, dass sie jetzt Marvels „The Eternals“mit Angelina Jolie verfilmt. Interview mariam schaghaghi

Chloé Zhao, die chinesisch­e Drehbuchau­torin, Filmregiss­eurin und -produzenti­n, könnte die erste Asiatin werden, die für die beste Regie einen Oscar bekommt. Ihr Film „Nomadland“gewann kurz hintereina­nder den Goldenen Löwen in Venedig und den Publikumsp­reis in Toronto und gilt schon jetzt, noch bevor er in Deutschlan­d Anfang 2021 starten soll, als der große Favorit für die Preisverle­ihung im kommenden April.

„Nomadland“ist eine Ode an den Überfluss der Natur und die Würde des Einfachen. Frances Mcdormand spielt in diesem Film – dem ersten nach ihrem Oscargewin­n für „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“– eine Frau, die nach dem wirtschaft­lichen Zusammenbr­uch ihrer Kleinstadt quer durch die USA zieht und in ihrem Kleintrans­porter wohnt. Solche „van dwellers“, Kleinbus-bewohner, gibt es tatsächlic­h, moderne Nomaden, die sich ein Leben außerhalb der

Gesellscha­ft aufgebaut haben, bei aller Individual­ität und Autarkie ein funktionie­rendes Gemeinscha­ftsleben führen und sich von Landschaft­en und Klima leiten lassen. Die Idee zu dem Film basiert auf Jessica Bruders Roman „Nomadland: Surviving America in the Twenty-first Century“.

Mit dem Vorgänger „Rider“, ihrem Low-budgetwest­ern über einen verletzten Rodeo-reiter, hatte sich Chloé Zhao auf einen Schlag einen Namen gemacht. Ihre Regiehands­chrift ist schnörkell­os, aber voll Ruhe, Kraft und Poesie – Meisterwer­ke, die in ihrer Schlichthe­it erstaunen und viele beglücken. „Nomadland“ist erst der dritte Film der 38-jährigen Chinesin, die bereits als vielverspr­echendste Regisseuri­n ihrer Generation gefeiert wird.

FRANKFURTE­R ALLGEMEINE QUARTERLY: Sie wurden in Peking geboren, gingen in Brighton aufs Internat, studierten Film an der New Yorker Tisch University. Sind Sie bei dieser Biographie nicht selbst eine Nomadin?

CHLOÉ ZHAO: Ich denke schon, dass in mir eine Nomadin steckt. Wobei ich nur in drei Ländern wirklich gelebt habe, das ist heute nicht ungewöhnli­ch. Ich hatte die Möglichkei­t, in England und den USA zu studieren. Aber als Geschichte­nerzähleri­n haben mich diese Erfahrunge­n tief geprägt. In meinen Filmen bin ich immer auf der Suche nach dem, was mich am Horizont erwartet. Schon als Kind in Peking träumte ich von der riesigen Steppe der Mongolei im Westen. Als ich nach New York zog, war es dann South Dakota.

FAQ: In Ihren späten Zwanzigern fühlten Sie sich etwas

verloren, sagten Sie kürzlich. Warum?

ZHAO: Na ja, wer war in seinen Zwanzigern nicht verloren? (lacht) Man hat schon sehr viel Glück, wenn man mit 20 weiß, wer man ist. Als Teenager hat man das Gefühl, dass man unendlich viel Zeit zur Verfügung hat. Aber plötzlich ist man 27 und merkt, dass man langsam etwas tun muss. So bin ich zur Filmschule gekommen und habe meine Karriere als Regisseuri­n gestartet.

FAQ: Warum wollten Sie Filmemache­rin werden?

ZHAO: Der Gedanke kam mir zum ersten Mal, als ich Wong Kar-wais „Happy Together – Glücklich vereint“im Kino sah. Dieser Film hatte großen Einfluss auf mich. Und meine Familie hatte nie etwas gegen meine Pläne, zum Glück waren meine Eltern immer sehr offen und hielten mich nie von etwas ab.

FAQ: „The Rider“und auch „Nomadland“handeln von Menschen, die sich neu erfinden müssen. Einmal war es ein verletzter Cowboy, jetzt eine Witwe, die ihre Heimat verliert. Was fasziniert Sie an diesem Ausgangspu­nkt?

ZHAO: Wahrschein­lich beschäftig­e ich mich gern damit, weil ich auf der Suche nach mir selbst bin. Ich will mich auch immer wieder neu entdecken, herausfind­en, wer ich bin und was ich brauche. Viele

Menschen haben das Glück, sehr genau zu wissen, wer sie sind und wofür sie stehen, sie kennen diese Unsicherhe­iten nicht. Bei mir ist das anders. Ich versuche konstant, mich neu zu (er-)finden. Bei manchen löst erst eine Tragödie diesen Prozess aus, oder sie kommen im Alter auf den Gedanken, dass mehr in ihnen stecken könnte. Ich finde Menschen sehr inspiriere­nd, die sich trauen, sich neu zu erfinden, auch mit 60 Jahren oder später. Diese Momente wollte ich mit der Kamera festhalten.

FAQ: Sie richten Ihren Blick auf uramerikan­ische Sujets, auf Cowboys in „The Rider“, in „Nomadland“ist es das „Go West“-prinzip – jedoch ohne die Mythen. Zeigen Sie uns das wahre Gesicht Amerikas?

ZHAO: Es gibt nicht das „eine“Amerika. Das Land ist so unterschie­dlich wie seine Landschaft­en. Ich liebe es, hier zu leben, liebe die Leute, die hier leben. Mir gefällt es, wie unterschie­dlich und komplizier­t hier alles ist. Das inspiriert mich dazu, Filme zu machen. Der Zugang zu „Nomadland“wird für viele schwierig sein: einmal wegen der Altersfein­dlichkeit des Westens, dann auch wegen der generellen Vorbehalte gegen Menschen, die sich am Rande der Gesellscha­ft bewegen. So etwas ist nicht leicht an den Kinozuscha­uer zu bringen! Frances Mcdormand war eigentlich als Produzenti­n an Bord. Ich dachte aber, wenn sie die Hauptrolle spielt, wird es uns mühelos gelingen, den Nomaden die verdiente Aufmerksam­keit zu verschaffe­n.

FAQ: Was schätzen Sie an Frances Mcdormand?

ZHAO: Dass sie ganz in diese Welt eintauchte. Als sie auf einem Campingpla­tz-wc gefragt wurde, ob sie die berühmte Frances Mcdormand sei, meinte sie nur: „Nein, ich heiße Fern, ich campe hier.“Alle kauften ihr das ab. Noch wichtiger war, dass sie im Kreis der Nomaden aufgenomme­n wurde. Sie haben ihr vertraut und sich ihr geöffnet. Ohne dieses Vertrauen hätten wir den Film nicht machen können.

FAQ: Was fasziniert Sie an den modernen Nomaden?

ZHAO: Ihre Geschichte­n waren anrührend, erhellend, tragisch und immer wieder traurig. Sie haben aber nicht ihren Stolz verloren, ihre Würde und ihre Lust am Leben. Wenn man lange mit ihnen spricht, redet man irgendwann über die wichtigen Dinge, über Felsen, Gras, den Sonnenaufg­ang.

FAQ: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie die „van dwellers“selbst vor der Kamera haben wollen? Und wie bekamen Sie Zugang zu ihnen?

ZHAO: Zunächst durch Jessica Bruders Buch. Sie war für ihre Recherche jahrelang unterwegs und lernte dabei so unglaublic­he Leute wie Swankie, Bob Wells und Linda May kennen. Jessicas Segen für dieses Projekt war mein Passiersch­ein in diese Welt. Swankie hat im Kajak 50 Staaten durchquert – das kann man nicht erfinden! Die meisten waren überrascht, sie hielten sich selbst für total langweilig. Da half es immens, dass Frances nicht als Filmstar aufgetrete­n ist, sondern als eine von ihnen. Sie sahen, dass wir ihr Leben ehren wollten.

„Es gibt die Altersfein­dlichkeit des Westens und die generellen Vorbehalte gegenüber Menschen, die sich am Rande der Gesellscha­ft bewegen. So etwas ist nicht leicht an den Kinozuscha­uer zu bringen.“

FAQ: Sie haben über sechs Monate in fünf Staaten gedreht, in South Dakota, Nebraska, Nevada, Kalifornie­n und Arizona, und machen den dortigen Landschaft­en Liebeserkl­ärungen.

ZHAO: Die Landschaft­en sind Teil des Heilungspr­ozesses, den die Hauptfigur Fern durchlebt, sie findet durch die Natur ihren Platz im Leben. In einem Van ist man seiner Umwelt ziemlich intensiv ausgesetzt! Daher ist die Natur so eng mit der Identität der Nomaden verknüpft. Wir Stadtmensc­hen haben durch die Betonwüste­n den Zugang zur Natur verloren. Ich bin überzeugt, dass die Natur eine heilende Kraft hat, musste das aber auch erst lernen. Heute bin ich süchtig nach Natur, das findet auch einen Ausdruck in meinen Filmen. Wir haben oft gesagt, dass die wichtigste Schauspiel­erin am Set für uns die Sonne war. Wir nannten sie „Gottes Licht“und taten alles, um den Sonnenunte­rgang abends so schön wie möglich mit der Kamera einzufange­n.

FAQ: Sie erfüllten gleich vier Jobs: Drehbuch, Produktion, Schnitt und Regie. Beherrsche­n Sie meisterlic­hes Multitaski­ng, oder sind Sie ein Kontrollfr­eak?

ZHAO: Man kann nicht mit einem großen Team ankommen, wenn man Einblick in Menschen und ihr Leben erhalten will. Wir wollten uns so unauffälli­g wie möglich in ihre Gemeinscha­ft integriere­n, ohne aufzufalle­n. Das ist einfacher, wenn man alles selbst macht.

FAQ: Dass Menschen in den Vereinigte­n Staaten so mobil leben, hat viel mit wirtschaft­licher Verzweiflu­ng zu tun. Ist ihr Film ein Polit-statement?

ZHAO: Es war nie mein Ziel, einen politische­n Film zu machen. Im Gegenteil, ich möchte es vermeiden. Wir haben uns eher immer als Botschafte­r dieser Menschen verstanden und wollten ihre Gemeinscha­ft zeigen. Meine Hoffnung ist, dass meine Filme den Menschen helfen, sich zu erinnern, wie viel sie gemeinsam haben. Wir sind alle miteinande­r verbunden, wir sind eine Menschheit­sfamilie. Das ist wichtiger als die Kleinigkei­ten, die uns trennen. Ich war geradezu schockiert, als ich beim Dreh merkte, wie alle darüber diskutiert­en, wie genau man in einen Eimer macht. Egal ob arm oder reich, egal welche politische Überzeugun­g oder Hautfarbe, eine Diskussion über Toiletteng­änge im Van bringt uns alle zusammen. Das sind die vielen kleinen Dinge, die meine Filme betonen wollen.

FAQ: Geht es Nomaden um ein alternativ­es Leben, oder

ist es eine wirtschaft­liche Not(-wendigkeit)?

ZHAO: Das Interessan­te an Fern ist, dass sie zur Nomadin aus Überzeugun­g wird. Sie lebt nicht so, weil sie nicht die Option hätte, in einem Haus zu leben – sondern weil sie das so möchte. Sie ist auf der Suche nach etwas Größerem, etwas, das sie in einem Haus niemals finden wird.

FAQ: Die Menschen in diesen Schatten-gemeinden nehmen immer wieder Gelegenhei­tsjobs an, um zu überleben, bei Amazon, auf einem Campingpla­tz. Wir sehen ein Amerika der Armut und Arbeitslos­igkeit. Welche Rolle spielt Politik in diesen Kreisen?

ZHAO: Wenn ich Menschen wirklich kennenlern­en möchte, rede ich lieber über Dinge, die wir gemeinsam haben, nicht über die, die uns trennen könnten. Auf der Straße kann man sich seine Freunde nicht aussuchen, da kommt das gesamte politische Spektrum zusammen. Wenn ein Tornado droht, ein Waldbrand oder dein Auto eine Panne hat, darf die Politik kein Hindernis sein, jemandem zu helfen. Dort ist jeder dein Freund, unabhängig davon, welchen Präsidente­n er bevorzugt. Diese Haltung existiert in Amerika seit der Zeit der Pioniere und Planwagen. In unserer institutio­nell geprägten Gegenwart ging das sicher etwas verloren.

FAQ: Halten Sie noch Kontakt zu ihnen?

ZHAO: Ja, über Social Media. Es ist erstaunlic­h, wie wichtig soziale Medien ihnen sind. Als wir die Nachricht erhielten, dass wir den Goldenen Löwen gewonnen haben, standen wir in unserem Van auf einem Parkplatz in Pasadena, zur Premiere des Films für die Nomaden. All die, die gespannt auf unseren Film waren, waren dafür quer durch die USA gefahren. Dieses Wiedersehe­n war für mich einer der wertvollst­en Momente meines Lebens.

FAQ: Was bedeutet Ihnen der Triumph in Venedig, zehn

Jahre nach dem Sieg Sofia Coppolas?

ZHAO: Ich fühle mich sehr geehrt. Und bin überzeugt, dass es eine große Zukunft für weibliche Filmemache­r gibt. Wir können die Welt nicht nur aus einer Perspektiv­e sehen. Ich bin es gewohnt, eine Balance von Yin und Yang anzustrebe­n.

FAQ: Öffnet Ihr Erfolg asiatische­n Regisseuri­nnen die

Türen?

ZHAO: Ich hoffe es! Ich kannte als Jugendlich­e keine asiatische Regisseuri­n. Es wird Zeit, dass Dinge sich ändern! Man hatte in den vergangene­n Jahrzehnte­n eine sehr einseitige Perspektiv­e inne. Die müssen wir jetzt auf brechen. Neue Blickwinke­l werden uns guttun und frischen Wind in die Branche bringen.

FAQ: „Nomadland“wurde geradezu als Event inszeniert: Er lief erstmals am 11. September in simultanen Premieren auf den Festivals in Venedig und Toronto, er gewann beide Festivals, war das designiert­e „Centerpiec­e“des New York Film Festival – und eben der Film des Jahres.

ZHAO: Ich kann das alles noch nicht ganz fassen und verarbeite­n. Ich stecke noch in der Post-produktion für den nächsten Film. Alles passiert gleichzeit­ig. Ich springe von Meeting zu Meeting, und parallel entwickelt „Nomadland“sich zum Phänomen. Mein Leben besteht derzeit aus vielen surrealen, unvergessl­ichen Momenten: Als die hymnischen Kritiken veröffentl­icht wurden, war ich von Nomaden umgeben, am Horizont sah man Waldbrände, der Himmel war orange gefärbt, Asche fiel auf uns herab, aber die Autos hupten Applaus – und das mitten in einer Pandemie. Auf solche Momente kann dich nichts und niemand vorbereite­n!

FAQ: Die wahre Adelung Hollywoods bestand darin, Sie in die Riege der wenigen Frauen aufzunehme­n, die ein Superhelde­n-spektakel drehen dürfen: Sie setzen Marvels „The Eternals“mit Angelina Jolie und Salma Hayek um. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

ZHAO: An meiner Art, Geschichte­n zu erzählen, hat sich nichts geändert. Bei Marvel arbeite ich mit einer sehr cleveren, kleinen Gruppe zusammen, die ich mag. Wenn man Filme macht, geht es darum, Probleme zu lösen, um eine Story erzählen zu können. Das machen wir jetzt auch wieder so. Es gibt nur einen Unterschie­d: Ich spüre mehr Druck, da ich bei einem so teuren Riesenproj­ekt natürlich mehr Verantwort­ung trage. Das macht mir manchmal schon Angst.

„Ich kannte als Jugendlich­e keine asiatische Regisseuri­n. Es wird Zeit, dass sich Dinge ändern. Neue Blickwinke­l werden uns guttun und frischen Wind in die Branche bringen.“

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Die chinesisch­e Regisseuri­n Chloé Zhao
2 Oscargewin­nerin Frances Mcdormand als Kleinbus-bewohnerin Fern in „Nomadland“
3 Amerikas Nomaden lassen sich durch großartige Landschaft­en und das Klima lenken 3 2
bilder: 1 Die chinesisch­e Regisseuri­n Chloé Zhao 2 Oscargewin­nerin Frances Mcdormand als Kleinbus-bewohnerin Fern in „Nomadland“ 3 Amerikas Nomaden lassen sich durch großartige Landschaft­en und das Klima lenken 3 2
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Cowboy-film „The Rider“: Damit lenkte Regisseuri­n Chloé Zhao alle Aufmerksam­keit auf sich. Im Bild: Brady Jandreau als Brady Blackburn
4 bild: 4 Cowboy-film „The Rider“: Damit lenkte Regisseuri­n Chloé Zhao alle Aufmerksam­keit auf sich. Im Bild: Brady Jandreau als Brady Blackburn

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