Frankfurter Allgemeine Quarterly
Q7—verändert Tiktok die Musik der jungen Künstler?
Wie verändert Tiktok die Musik der jungen Künstler?
Im Juli 2019, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag, stellte der neuseeländische Schüler Joshua Nanai in seinem Kinderzimmer in Auckland einen Beat auf Youtube. Seine Produktion nannte er „Laxed (Siren Beat)“, ein gutgelauntes Dancehall-instrumental, wie es auf den polynesischen Inseln aus Autoradios und aus auf Fahrrädern montierten Boxen schallt. Ein Dutzend ähnlicher Beats hatte Jawsh 685, so Nanais Künstlername in Anlehnung an die Telefonvorwahl von Samoa, schon früher hochgeladen. Der „Laxed (Siren Beat)“ging online. Fast ein Jahr lang passierte: nichts.
Im Spätsommer 2020 kletterte ein Lied namens „Savage Love (Laxed – Siren Beat)“auf Platz eins der Charts in zehn Ländern; in Deutschland war es der Sommerhit. Das Lied über eine unnahbare Geliebte, die „Savage Love“, machte den Highschool-absolventen Joshua Nanai schlagartig zum begehrten Produzenten mit Vertrag bei einem Major-label. Nebenbei erzählt sein Erfolg viel darüber, wie Künstler heute zu Stars werden und wie aus Liedern Hits.
Der Popstar Justin Bieber wurde als singender Teenager auf Youtube entdeckt, die Sängerin Billie Eilish und der Rapper X X Xtentacion sammelten auf der Streaming-plattform Soundcloud Millionen Fans, bevor Plattenlabel um sie buhlten. Der Produzent Jawsh 685 gehört zur ersten Generation, die auf und dank Tiktok groß geworden ist. Die Videoplattform hat Facebook, Instagram und Youtube als monatlich am häufigsten heruntergeladene App abgelöst; fast eine Milliarde Menschen nutzt Tiktok. Was hier als Hintergrundmusik der Videos beim jungen Publikum funktioniert, landet kurz darauf in den Bestenlisten der Streamingdienste und dann in den normalen Charts. Doch Tiktok bestimmt nicht nur, was ein Hit wird und wer zum Star – längst beeinflusst das soziale Netzwerk auch, wie populäre Musik klingt.
Der Erfolg des Streamings hatte schon vorher die Durchschnittslänge von Songs reduziert, sie von Intros und Soli befreit und den Refrain immer weiter an den Anfang geschoben, weil ein Lied auf Spotify erst nach dreißig Sekunden als gehört gilt und für die Vergütung gezählt wird. Kulturpessimistisch könnte man das als eine Verhunzung der Musik für kürzere Aufmerksamkeitsspannen bezeichnen. Die Methode an sich ist nicht neu, vergleichbar mit den kompakteren Radioversionen von Albumsongs in den achtziger Jahren – bloß, dass all die Zwei-minuten-hits jetzt die Originale sind.
Tiktok steigert die Verdichtung um ein Vielfaches. Obwohl die App inzwischen längere Beiträge erlaubt, bleibt ihre Basiseinheit das Minivideo: Fünfzehn Sekunden, länger durfte ein Clip ursprünglich nicht sein. Zum Bewegtbild wählen Nutzer aus der Tiktokbibliothek einen Songausschnitt aus oder laden ihre
eigene Musik hoch. Die fünfzehn Sekunden müssen also knallen, um im nie endenden Strom neuer Beiträge zu bestehen. Maximale Aufmerksamkeitserregung erobert den Algorithmus. Der plötzliche Beat-wechsel, die Ohrwurmmelodie, die prägnante Liedzeile, all das muss in fünfzehn Sekunden passen.
Vielleicht erwischte Jawsh 685 bloß den richtigen Zeitpunkt, als er im April dieses Jahres einen Ausschnitt seines „Laxed“-beats auf Tiktok verwendete. Corona, Lockdown, viele Leute waren zu Hause und online. Vielleicht traf Jawsh 685 eine Stimmung, als er im Video mit dem Moment des Beat-drops aus der Alltagskleidung in ein traditionelles polynesisches Gewand wechselte. Er verstand selbst nicht genau, was passierte – aber plötzlich machten Hunderttausende Tiktok-nutzer sein Video nach. Ein eigener Tanz entstand zu seinem Beat. Bis heute ist „Laxed (Siren Beat)“für mehr als 55 Millionen Tiktok-videos verwendet worden, von der Tiktok-königin Charli D’amelio bis zum Münchner Fußballer Robert Lewandowski tanzten Nutzer zu den immer gleichen vierzehn Sekunden aus dem Song. Der R&b-sänger Jason Derulo, selbst ein sehr aktiver Tiktok-nutzer, vereinbarte mit Jawsh 685 eine Kollaboration: Derulos Gesang machte „Savage Love (Laxed – Siren Beat)“vollends zum Spätsommerhit.
Tiktok ist zu einem mächtigen Analyse- und Werbemittel der Musikindustrie aufgestiegen. Hier suchen die Talentscouts der Firmen nach Trends und Künstlerinnen, zugleich bezahlen Plattenfirmen solche Tiktok-nutzer, die Millionen Fans beeinflussen können, damit sie die Songs des Labels in ihren Videos verwenden. Der Grammy-gewinner und frühere Influencer Lil Nas X landete 2019 einen Superhit mit „Old Town Road“, nachdem um den Rap-country-mix eine Tanzchallenge auf Tiktok entstanden war. Seither kommt kaum mehr ein Nummer-eins-hit ohne einen Tanz oder eine Challenge der Tiktok-gemeinschaft aus.
Basslastiger Rap funktioniert am besten. Die Bassläufe treiben zum Tanzen an, Drops erlauben plötzliche Wechsel, absurde Zeilen geben Komik. Von den zehn am häufigsten verwendeten Songs im Sommer passen sieben in das Genre: der fast melodiefreie Brutalo-rap eines Lil Darkie, dessen „Haha“(519 Millionen Aufrufe, Platz zehn) an die Aggressivität früherer Soundcloudrapper wie Xxxtentacion erinnert, genauso wie der genuschelte Singsang-rap von Dababy mit seinem Hit „Rockstar“(825 Millionen, Platz eins).
Stars wie die Sängerin Lizzo und die Rapperin Cardi B sind auch deshalb zu Meme-ikonen geworden, weil es ihnen immer wieder gelingt, einen TiktokMoment in ihre Songs einzubauen. Den einen Satz, den Millionen wiederholen wollen. Die Zeile „I just took a DNA test, turns out I’m 100 percent that bitch“schuf den Hashtag „Dnatest“mit mehr als 350 Millionen Einträgen auf Tiktok, der Satz machte Lizzo zum Star und ihr „Truth Hurts“zum Nummer-eins-hit.
Im Schatten solcher Stars, die verstanden haben, wie sie Tiktok als Promoinstrument für den großen Erfolg für sich nutzen, entsteht gerade eine Generation
Die neuen Musikstars werden auf Tiktok gemacht. Mit Songs, die in nur 15 Sekunden von extremen Bässen über die griffige Zeile bis zum Beat-wechsel so knallen müssen, dass alle sie immer wieder hören wollen. Das Genre heißt Tiktokrap.
junger Produzenten und Rapperinnen, die ihre kurzen Songs ausschließlich für Tiktok macht und überhaupt nicht mehr auf Youtube, Spotify oder gar so etwas wie das Radio zielt. Den Südstaatenrappern 10k.caash und Tisakorean, aufgewachsen mit der Tradition des basslastigen Dirty-south-raps, gelangen virale Hits mit Songs, die keine zwei Minuten lang sind, und sogar in der Zeit wiederholen sie ständig denselben Halbsatz. Ihr stumpfer Rap auf Krawallbeats wird innerhalb weniger Minuten unhörbar – für fünfzehn Sekunden aber fesselt das Geballere die Aufmerksamkeit. Klingen die Minitracks der beiden wie hingerotzte Songskizzen, die sie auf den Tiktok-algorithmus werfen, um zu testen, was haften bleibt, spielen Künstler wie Tokyo’s Revenge und bbno$ mit extremen Stimmungs- und Tempowechseln, wie sie die Tiktok-community liebt: Im Moment des abrupten Musikwechsels können die Nutzer in die nächste Szene schneiden – mit anderer Kleidung oder Persönlichkeit. Die Kunstfigur Lil Mayo, ein rappender Alien, stellte seinem viralen Hit „Be Gone Thot!“gezielt ein paar ruhigere Sekunden des Spannungsaufbaus voran, bevor mit Wucht Bass und Rap einsetzen und erlösen. Genau diesen Ausschnitt verwendeten dann Millionen Tiktok-nutzerinnen für ihre Videos.
Auf der Plattform ist so ein neues Subgenre entstanden, Tiktok-rap. Ihn kennzeichnen kurze, manchmal nur Sekunden lange Songs, extreme Bässe, aggressive Flows mit plötzlichen Wechseln und eigene, oft absurde Wortschöpfungen. Sogar Künstler, die nicht auf Tiktok sind, beeinflusst der Stil. In Deutschland den Kreuzberger Rapper Pashanim, der im Sommerhit 2019, „Shababs Botten“, in fünfundneunzig Sekunden all das vereinte. Obwohl er selbst nicht dort ist, schaffte er so dank seines viralen Hits auf Tiktok den Durchbruch: die ersten fünfzehn Sekunden Berühmtheit.