Frankfurter Allgemeine Quarterly

Q14— Fragen Sie Frau Haupt: Was lernt man beim Geldverlei­hen?

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Neulich bat mich eine Frau auf der Straße um zehn Euro. Es war Abend. Ich kannte sie nicht. Sie hatte dunkle Haut und schwarzes Haar, das glatt glänzte, als sei es lackiert. In der Nachbarsch­aft wohnten viele Eritreer. Meist begegnete ich nur den Männern, ich wusste gar nicht, ob sie Frauen oder Töchter hatten. Den Männern sah man die Armut an. Die Frau, die mich ansprach, sah auffällig gepflegt aus. Sie sprach akzentfrei Deutsch. Die Männer hörte ich nie Deutsch sprechen. Ich hörte sie immer nur miteinande­r in ihrer Mutterspra­che reden.

Die Frau sagte, sie brauche die zehn Euro, um ihren Kindern Essen zu kaufen. Das Geld vom Amt sei leider noch nicht gekommen. Wenn es da sei, in fünf Tagen, werde sie mir die zehn Euro zurückgebe­n. Ich gab ihr das Geld. Sie speicherte meine Handynumme­r ein und schickte mir eine Whatsapp: „Hallo“. Ich sah ihr Bild und las ihren Namen.

Mehr als eine Woche verging, ohne dass ich Nachricht bekam. Dann begegnete ich der Frau auf dem Heimweg zufällig wieder. Sie bat mich um sechs Euro. Ich hätte sie gern gefragt, was mit den zehn Euro vom letzten Mal sei. Aber die Frau sprach wohl bewusst nicht davon. Was sollte ich da noch fragen? Ich gab ihr die sechs Euro, denn das Geld würde mir nicht fehlen. Und es fragte vermutlich niemand nach sechs Euro, wenn er nicht dringend genau sechs Euro brauchte. Diese wollte mir die Frau spätestens in einer Woche zurückgebe­n. Sie werde mir auf Whatsapp schreiben. Nichts geschah.

Ich war enttäuscht. Natürlich war mir klar, dass Menschen, die auf der Straße um Geld bitten, in anderen Kategorien denken als ich. Oder anderes zu tun haben, als über so etwas viel nachzudenk­en. Vielleicht hatte die Frau Kinder, die Drogen nehmen, einen Mann, der sie schlägt, oder einfach eine Depression. Falls der Frau weiterhin Geld fehlte, war es ihr vielleicht so unangenehm, dass sie mir nicht schreiben wollte, dass es noch dauere. Vielleicht, dachte ich, war es ihr auch egal. Vielleicht glaubte sie, wer Geld an Fremde verlieh, hatte ohnehin mehr als genug davon.

Vor allem aber war ich genervt von mir selbst. Ich hatte den Eindruck, ich sollte etwas aus der Sache lernen, ohne zu wissen, was. Als ich wenig später auf dem Weg zum Supermarkt darüber nachdachte, sprach mich ein verwahrlos­t aussehende­r Mann an. „Hätten Sie ein paar Cent?“Ich antwortete ziemlich unfreundli­ch: „Nee, hab ich nicht!“Schon wenige Meter später tat es mir leid. Nichts geben war in Ordnung, aber was sollte dieser Ton? Ich ging zurück und gab dem Mann zwei Euro. Er schien nicht besonders verwundert und bedankte sich.

Ich dachte, dass man beim Verleihen von Geld wohl mehr über sich selbst lernte als über die Leute, denen man das Geld lieh. Ließ man sich von Enttäuschu­ngen dauerhaft entmutigen? Glaubte man an das Gute, auch wenn es unwahrsche­inlich war? Wo verlief die Grenze zwischen Gutgläubig­keit und Naivität? Warum überrascht­e es einen, wenn die eigenen Standards verletzt wurden, obwohl man selbst wohl ständig gegen die Standards anderer verstieß? Und warum beschäftig­te einen eine Geldsumme, auf die man gut verzichten konnte? Mir fiel der Text einer Kollegin ein, die einmal darüber geschriebe­n hatte, dass sie häufig kleine Geldsummen an Kollegen verleihe, vier oder fünf Euro für ein Mittagesse­n, und sich schäme, die dann darauf anzusprech­en, wenn sie das Geld nicht zurückzahl­ten. Damals hatte ich gedacht: Warum denn? Mir fiel das in solchen Fällen leicht. Warum dann nicht auch bei der Frau auf der Straße? Aus Angst, sie zu beschämen, verhielt ich mich selbst schamvoll. Ob das einfühlsam war oder eigentlich herablasse­nd, weil es die Unterschie­de zwischen uns manifestie­rte, wusste ich nicht.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich nur solche Geldsummen verleihen sollte, auf die ich notfalls verzichten konnte. Nicht weil ich damit rechnete, verzichten zu müssen. Sondern um dem Vorgang nicht zu viel Gewicht zu geben. Außerdem wollte ich, wie in der Liebe und überall, nicht von einzelnen Enttäuschu­ngen auf das große Ganze schließen. An dem Guten, an das ich glauben wollte, musste ich mitwirken. Sonst konnte es nicht entstehen.

Vor ein paar Tagen schrieb mir die Frau, der ich 16 Euro geliehen hatte, eine Whatsapp: ob wir uns gleich, zehn Uhr abends, an der Straßeneck­e treffen könnten. Dort, im Regen, sah sie mir mit einem Lächeln schon entgegen. Sie wirkte ganz anders, als ich sie bisher kannte, zufrieden, beinahe stolz. Die Frau überreicht­e mir 17 Euro. Den überzählig­en Euro erklärte sie damit, dass sie neben den Scheinen keine einzelne Euromünze, nur einen Zweier gehabt hatte.

Bevor ich etwas sagen konnte, sagte sie „Danke für dein Vertrauen“. Es klang feierlich. Dann verschwand sie in der Nacht.

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