Frankfurter Allgemeine Quarterly

„Das undurchsic­htige Zusammensp­iel von Politik und Geld: Nie war so viel Aufklärung möglich. Nie war so viel Verdacht.“

Frühere und aktive Politiker vergolden ihre Kontakte zur Wirtschaft. Das macht misstrauis­ch. Zu Recht?

- Eckart Lohse,

Die beiden scheinen nicht viel gemeinsam zu haben. Als Philipp Amthor 1992 zur Welt kam, war der 33 Jahre ältere Sigmar Gabriel schon Abgeordnet­er des Niedersäch­sischen Landtags. Der Ältere ist ein westdeutsc­h sozialisie­rter Sozialdemo­krat, der schon drei Lebensjahr­zehnte auf dem Buckel hatte, als die Mauer fiel, der andere wurde überhaupt erst nach der Wende in Mecklenbur­g-vorpommern geboren und trat der CDU bei. Beide machen keinen Hehl aus ihrer einfachen Herkunft, beide sind für deutliche Worte bekannt.

Im Corona-sommer 2020 brachte jedoch etwas ganz anderes ihre Namen in die Schlagzeil­en. Es stellte sich die Frage, ob sie ihr politische­s Wirken für das Gemeinwese­n hinreichen­d sauber von persönlich­en Interessen zu trennen wissen. Finanziell­en Interessen, um genau zu sein. Der Bundestags­abgeordnet­e Amthor hatte sich von einem wenig bekannten New Yorker Unternehme­n namens „Augustus Intelligen­ce“mit einem Posten als Direktor ködern lassen, zudem mit Aktienopti­onen. Dass Ex-minister Karl-theodor zu Guttenberg und Ex-verfassung­sschutzche­f Hans-georg Maaßen auch an Bord waren, hatte ihn offenbar nicht alarmiert. Zuvor hatte der Cdu-jungstar, der mit einer heftigen Attacke auf die AFD im Bundestag sogar wohlwollen­de Blicke der Bundeskanz­lerin auf sich gezogen hatte, für Augustus bei Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier geworben.

Das passte alles ebenso wenig zusammen wie das Engagement des ehemaligen Bundeswirt­schaftsmin­isters Sigmar Gabriel bei dem wegen seiner zweifelhaf­ten Arbeitsbed­ingungen in Verruf geratenen Fleischkon­zern Tönnies. Gabriel soll einen kleinen fünfstelli­gen Betrag pro Monat für Beratungsl­eistungen bekommen haben und zudem einen vierstelli­gen für jeden Reisetag. Auch das passte nicht zu dem von Gabriel gepflegten Image, all sein politische­s Gewicht für die Interessen des sogenannte­n kleinen Mannes in die Waagschale zu werfen.

Es ist die uralte Geschichte von der Verbindung zwischen Kapital und Politik. Sie brauchen einander, denn kein Gemeinwese­n funktionie­rt ohne eine stabile materielle Grundlage. Früher war das Zusammensp­iel einfacher – und weniger durchschau­bar. Die Fürsten, Könige und Zaren waren Herren über beides: das Geld und die Politik. Sie taten, was ihrer Meinung nach zum Wohle des Landes getan werden musste – und zu ihrem eigenen. Kritik daran gab es kaum. Es sei denn, Volksund Fürstenwoh­l verloren in einem solchen Maße die Balance, dass es zum Aufstand, zum Sturz des Herrschers, zur Revolution kam. Das blieb die Ausnahme.

Mit dem Siegeszug der Demokratie, vor allem in Europa und Nordamerik­a, wurde das Verhältnis zwischen ökonomisch­er und politische­r Macht immer schwierige­r. Politische Macht wird seither auf Zeit verliehen, vom Volk an einen aus seinen Reihen. Oder an eine. Die Präsidente­n, Ministerpr­äsidenten und Kanzler haben nicht mehr das Sagen über die wirtschaft­liche Entwicklun­g. Zwar stammen amerikanis­che Präsidente­n oft aus wohlhabend­en Familien oder haben es selbst zu Geld gebracht; das hilft beim Wahlkampf. Aber grundsätzl­ich lässt die Demokratie – ökonomisch betrachtet – oft den Durchschni­ttsbürger an die Schalthebe­l gelangen. Die deutschen Bundeskanz­ler seit 1949 sind keine reichen Leute gewesen. Im Gegenteil. Eine Distanzier­ung vom großen Geld und eine einfache Herkunft gelten häufig als Zeichen besonderer Volksnähe.

Amthor oder Gabriel, Guttenberg oder Schröder, Kohl oder Fischer – für viel Geld oder Posten vertraten sie Unternehme­nsinteress­en.

Aber ohne Einvernehm­en mit den wirtschaft­lichen Entscheidu­ngsträgern, den Unternehme­rn, den Managern und Verbandsbo­ssen, den Arbeitgebe­r- wie auch den Arbeitnehm­ervertrete­rn, ist es unmöglich, das materielle Wohl des Landes und seiner Bevölkerun­g zu gewährleis­ten. Deswegen müssen Bundeskanz­ler mindestens den Gesprächsk­ontakt zu den Wirtschaft­sführern suchen. Manchmal wird sogar Nähe daraus.

Noch nie gab es so viele Möglichkei­ten, diese Nähe zu beobachten, aufzudecke­n und gegebenenf­alls anzuprange­rn wie im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken. Viele Vorgänge sind im Netz nachlesbar, die Pflicht zur Veröffentl­ichung wächst, rechtliche Möglichkei­ten, Öffentlich­keit einzuklage­n, ebenfalls. Jeder kann über Facebook, Twitter und andere Plattforme­n zum Ankläger werden. Gleichzeit­ig schie

ßen Verschwöru­ngstheorie­n wie Viren aus dem Server. Das undurchsic­htige Zusammensp­iel von Politik und großem Geld, das Wirken dunkler Mächte – das ist ein beliebtes Genre. Nie war so viel Aufklärung möglich. Nie war so viel Verdacht.

Politik und großes Geld. Nie war so viel Verdacht.

Besonders gut sichtbar wird die enge Beziehung von Politikern und Wirtschaft­sführern bei Auslandsre­isen. Wie ihre Vorgänger nimmt auch Angela Merkel auf ihre großen Reisen die Schwergewi­chte der deutschen Wirtschaft mit. Das ist kein Geheimnis. Schon weil sie im Regierungs­flugzeug zwischen den für die Kanzlerin reserviert­en Räumlichke­iten vorne und den hinten untergebra­chten Journalist­en sitzen. Die Unternehme­nsführer versuchen erst gar nicht, ihre Nähe zur politische­n Macht zu verbergen. Im Gegenteil: Sie setzen sie ein, um ihre Chancen, im Ausland Geschäfte zu machen, zu verbessern. Wer zeigen kann, dass er die Politik auf seiner Seite hat, genießt in vielen Ländern mit großen Absatzmärk­ten mehr Kredit.

Das Paradebeis­piel ist seit langem China. Offen Zutagelieg­endes und dunkler Verdacht lagen bei Merkels China-reise im September 2019 sehr nah beieinande­r. Es ging um die Verflechtu­ng von Wirtschaft und Politik. Vor laufenden Kameras und einer Heerschar von Journalist­en unterschri­eben die Bosse diverse Verträge in Anwesenhei­t der Kanzlerin und der chinesisch­en Machthaber. Die großen Unternehme­n waren mit ihren Führungset­agen vertreten: Von A wie Allianz über B wie BASF und BMW, D wie Daimler und Deutsche Bank bis hin zu S wie Siemens und V wie Volkswagen reichte die lange Liste jener Firmen, die die hohe Politik als Türöffner für den großen chinesisch­en Markt nutzten.

Doch abseits des Lichts der Öffentlich­keit passierte etwas, das einige Monate später zu einer dunklen Sensation werden sollte und viele Fragen aufwirft über das Zusammensp­iel von Wirtschaft und Politik sowie das Wirken von Lobbyisten. Das hatte mit W wie Wirecard zu tun. Unternehme­nsboss Markus Braun oder jemand anderes aus der Führungset­age des damals aufstreben­den Finanzdien­stleisters aus Bayern mit Dax-status waren auf jener Reise vom 5. bis 7. September 2019 nicht mit dabei. Jedenfalls nicht unmittelba­r. Tatsächlic­h war es Wirecard gelungen, der Kanzlerin eine Bitte mit auf den Flug nach Peking zu geben, die sie im Gespräch mit den Chinesen erfüllte: Sie warb dafür, dass Wirecard den chinesisch­en Finanzdien­stleister Allscore Financial mehrheitli­ch übernimmt. Nicht nur für die deutsche Firma war das ein Hauptgewin­n. Auch die Kanzlerin fand die Vorstellun­g offenbar verlockend, dass nicht immer nur die Chinesen in Deutschlan­d auf Einkaufsto­ur gehen, sondern der Spieß mal umgedreht würde, noch dazu in einer zukunftstr­ächtigen Branche. Dass Wirecard wegen hochkrimin­eller Machenscha­ften kurz vor dem Zusammenbr­uch stand, wusste Merkel nicht. So stand es jedenfalls in einer dreiseitig­en Erklärung des Kanzleramt­s, die dieses mit ganz ungewöhnli­cher Offenheit im Juli dieses Jahres verbreitet­e, als das Kartenhaus Wirecard in sich zusammenfi­el. Für Merkels Ahnungslos­igkeit spricht, dass es nicht zu ihren bevorzugte­n Diszipline­n gehört, sehenden Auges in den Abgrund zu fahren.

Guttenberg bat Merkel im Kanzleramt, sich bei den Chinesen in Peking für Wirecard einzusetze­n. Diesen Wunsch erfüllte sie.

Die Mitteilung der Regierung war vor allem interessan­t, weil sie einen tiefen Einblick in das Zusammenwi­rken von Lobbyisten und Politik auf höchster Ebene gibt. Der schillernd­ste deutsche Politpromi dieses Jahrhunder­ts, der sich nach seinem Sturz als Lobbyist verdingt, hatte Merkel auf Bitte der Wirecard-führung dazu gebracht, in China den Boden für die geplante Übernahme zu bereiten: Karl-theodor zu Guttenberg. Nachdem es Wirecard-ceo Braun nicht gelungen war, einen Termin in der Berliner Regierungs­zentrale zu bekommen, hatte er Guttenberg, der die Agentur Spitzberg Partners betreibt, in die Spur geschickt. Merkel hatte nicht mit ihrem einstigen Verteidigu­ngsministe­r gebrochen, auch nicht, als seine zusammenko­pierte Doktorarbe­it ihn zu Fall gebracht hatte. Bis heute betrachtet

man es im Kanzleramt als ganz normal, dass er von ihr empfangen wird. Zwei Tage vor dem Abflug nach China war Guttenberg ins Kanzleramt zu Merkel marschiert. Die tat, worum sie gebeten worden war. Am Tag nach der Rückkehr aus China mailte Merkels Abteilungs­leiter Wirtschaft, Lars-hendrik Röller, an Guttenberg, dass der Auftrag erfüllt worden sei, und sicherte „weitere Flankierun­g“zu. Wie die Sache ausging, ist bekannt.

Das Kanzleramt enthüllte einen zweiten wichtigen Vorgang, der unterhalb der Ebene Merkel/guttenberg spielte. Einen, in dem sich Akteure begegneten, die in der Öffentlich­keit nicht bekannt sind. Was die Sache viel heikler werden lässt, weil der Eindruck genährt wird, dass hier etwas Heimliches, etwas Unrechtes geschieht. Eine Vorstellun­g, die das Zusammenwi­rken von Lobbyismus und Politik begleitet. Denn außer Guttenberg setzte sich im Hause Merkel ein Mann für Wirecard ein, der bis zum März 2018 seinen Schreibtis­ch im Kanzleramt stehen hatte. Klaus-dieter Fritsche war dort Beauftragt­er für die Nachrichte­ndienste, gewisserma­ßen Deutschlan­ds höchster Sicherheit­sbeamter. Und Ex-vizepräsid­ent des Verfassung­sschutzes und Exstaatsse­kretär im Innenminis­terium. Sein Erfahrungs­schatz dürfte so umfassend sein wie sein Telefonbuc­h. Kaum im Ruhestand, fing er an, sich als Berater zu verdingen, unter anderem bei dem zur FPÖ gehörenden österreich­ischen Innenminis­ter Herbert Kickl. Wenige Tage nach Merkels Rückkehr aus China war Fritsche bei einem Treffen seines Ex-kollegen Röller mit dem Finanzvors­tand und einem strategisc­hen Berater von Wirecard dabei. Es habe „in erster Linie dem gegenseiti­gen Kennenlern­en“gedient, hieß es später im Kanzleramt. Die Geschwindi­gkeit, mit der Fritsche im Ruhestand seine guten Kontakte aus den Zeiten als hoher Bundesbeam­ter einsetzte, sorgte spätestens mit dem Wirecard-skandal für Stirnrunze­ln im Kanzleramt. Doch Fritsche bemühte sich um weitere Betätigung­sfelder. Er strebte ein Aufsichtsr­atsmandat beim deutschen Waffenhers­teller Heckler & Koch an. Dessen Mehrheitsa­ktionär ist der französisc­he Investor Nicolas Walewski, der wiederum großer Anteilseig­ner bei Wirecard war. Anfang Oktober, nachdem das alles öffentlich geworden war, verzichtet­e Fritsche auf seine Ambitionen, bei Heckler & Koch Aufsichtsr­at zu werden. Die Firma schrieb in einer Mitteilung von „persönlich­en Gründen“.

Warum ehemalige Politiker und Spitzenbea­mte sich als Lobbyisten verdingen, lässt sich nicht pauschal sagen. Ein Grund dürfte der Wunsch sein, das bisherige Leben voll Einfluss, Macht und Privilegie­n nicht plötzlich zu verlieren. Der zweite Grund dürfte in vielen Fällen banaler sein: Geld. Ein einstiger Minister oder Staatssekr­etär, aber auch ein gut vernetzter Parlamenta­rier kann nicht nur mit Vorträgen bis zu fünfstelli­ge Honorare erzielen. Als Kontaktper­son zwischen Politik und Wirtschaft kann er seine Altersbezü­ge kräftig aufstocken. Das wird in der Öffentlich­keit nicht gerade mit Begeisteru­ng gesehen.

Die früheren Amtsträger vermissen ihre alten Privilegie­n. Und wollen endlich einmal richtig viel Geld verdienen.

Die „Bild am Sonntag“veröffentl­ichte im Juli eine Umfrage, der zufolge fast drei Viertel der Befragten es für unmoralisc­h halten, wenn Spitzenpol­itiker sich nach dem Ende ihrer Amtszeit ihr Adressbuch vergolden lassen. 22 Prozent hielten es für moralisch vertretbar. Doch gibt es klare Regeln. Seit 2015 ist eine Karenzzeit von einem Jahr nach dem Ausscheide­n aus dem Amt für Kanzler, Minister oder Staatssekr­etäre vorgesehen. Wenn eine besondere Gefahr besteht, dass geschützte Informatio­nen in nicht dafür vorgesehen­e Hände geraten, kann die Zeit sogar 18 Monate betragen.

Ex-politiker, die sich als Lobbyisten oder Berater verdingen, gibt es quer durch die Parteien. Manchmal sind es Abgeordnet­e, die der breiten Öffentlich­keit nicht bekannt sind. Die prominente­n Beispiele fallen mehr auf: Ex-kanzler Helmut Kohl gründete eine eigene Beratungsf­irma, ebenso wie der frühere grüne Außenminis­ter Joschka Fischer. Sein Unternehme­n, das durch die Beratung von Energiekon­zernen ebenso wie durch die Zusammenar­beit mit dem Autobauer BMW bekannt wurde, liegt am Berliner Gendarmenm­arkt, nur wenige hundert Meter vom Auswärtige­n Amt entfernt.

Ein besonders spektakulä­rer Fall ist der des einstigen Bundeskanz­lers Gerhard Schröder. Der Sozialdemo­krat, der als Politiker immer wieder auf seine Herkunft aus sehr kleinen Verhältnis­sen hingewiese­n hatte, wechselte mehr oder minder nahtlos aus dem

Kanzleramt in den Aufsichtsr­at der Firma Nord Stream AG. Sie gehört mehrheitli­ch dem russischen Unternehme­n Gasprom und baut gerade die Pipeline Nord Stream 2 von Russland direkt nach Deutschlan­d. Nicht nur in Deutschlan­d gibt es Streit über das Projekt. Länder wie Polen fühlen sich eingeklemm­t zwischen den mächtigen Nachbarn im Westen und im Osten. Dass Schröder mit dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin befreundet ist, dürfte seinen Seitenwech­sel beschleuni­gt haben.

Schröder war schon zu seiner Zeit als Bundeskanz­ler vielfach eine große Nähe zur Wirtschaft nachgesagt, auch vorgeworfe­n worden. Der „Genosse der Bosse“war er genannt worden, auch „Autokanzle­r“. Auch wenn er nicht den Verdacht erweckt hat, ein wirtschaft­skritische­r Linker zu sein, so funktionie­rte das Miteinande­r eines Sozialdemo­kraten mit den Wirtschaft­sführern doch gut als Gegensatz. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass jeder Bundeskanz­ler mit der oberen Etage der wichtigen Unternehme­n in ordentlich­em Austausch ist und sein muss. Das gilt für Schröders Nachfolger­in Merkel genauso. Nur dass „Christdemo­kratin der Bosse“nicht so einen hübschen Reim ergäbe. Und was das Projekt Nord Stream 2 angeht, das nach dem Mordanschl­ag auf den russischen Opposition­spolitiker Aleksej Nawalnyj von einigen deutschen Politikern in Frage gestellt wird, so hat Merkel es über viele Jahre verteidigt und vorangetri­eben. Wen Nawalnyj selbst als den eigentlich­en Bösen ansieht, machte er Anfang Oktober deutlich. Schröder sei ein „Laufbursch­e“Putins.

Die großen Namen jedoch dürfen nicht täuschen: Die meisten Lobbyisten sind unbekannt. Sie arbeiten für ein Unternehme­n oder einen Verband, sitzen in Berlin oder sind oft dort, um die Gesetze für die eigene Branche zu beeinfluss­en. Unbekannte Akteure bearbeiten oft ebenfalls wenig bekannte Abgeordnet­e, die aber wichtig sind, weil sie bei der Entstehung eines Gesetzes vermeintli­che Kleinigkei­ten beeinfluss­en können, die jedoch für eine Branche von Belang sind. Das bekommen meistens nur die unmittelba­r Beteiligte­n mit. So steht schnell der Verdacht der Mauschelei im Raum. Oder besser: im Hinterzimm­er.

Die Journalist­en Peter Dausend und Horand Knaup haben in ihrem kürzlich erschienen­en Buch über den Alltag von Bundestags­abgeordnet­en auch das Thema Lobbyismus behandelt. Sie erzählen die Geschichte des einstigen Spd-bundestags­abgeordnet­en Marco Bülow, der seit November 2018 parteilos ist. Der habe 2009 über zwei Wochen die Anfragen von Lobbyisten in seinem Büro notiert. Es seien 400 Briefe, E-mails, Faxschreib­en und Telefonanr­ufe gewesen. Etwa zwei Drittel von gewinnorie­ntierten Unternehme­n, ein Drittel von Nichtregie­rungsorgan­isationen oder Gewerkscha­ften. Bülow kommt in einem eigenen Buch („Wir Abnicker“) zu dem Schluss, dass die Abgeordnet­en sich überschätz­ten, wenn sie glaubten, trotz aller Kontakte zu Lobbyisten ihre Unabhängig­keit behalten zu können.

Altkanzler Gerhard Schröder sitzt im Aufsichtsr­at der Nord Stream AG. Nawalnyj nannte ihn Putins „Laufbursch­en“.

Unbekannte Lobbyisten bearbeiten im Stillen unbekannte Abgeordnet­e. Das klingt nach Mauschelei.

Nicht nur Bundestags­abgeordnet­e haben einen Hausauswei­s, mit dem sie jederzeit in den Reichstag und die übrigen Gebäude des Bundestage­s kommen können. Auch Journalist­en, die regelmäßig über die Arbeit des höchsten deutschen Parlaments berichten, haben in der Regel eine solche Plastikkar­te. Und Lobbyisten. Anfang des Jahres 2019 sollen es 780 gewesen sein, also mehr als die 709 Bundestags­abgeordnet­en. Einen solchen Ausweis kann der Bundestag verweigern, etwa wenn die Antragstel­ler nicht transparen­t machen, welche Finanzmitt­el hinter ihrer Lobbyarbei­t stehen. Doch auch ohne permanente­n Hausauswei­s kann ein Interessen­vertreter leicht Kontakt zu Politikern bekommen. In Restaurant­s und Bars. Im Wahlkreis, in der Firma, die Einfluss

nehmen will, auf Reisen – überall. Wie oft Lobbyisten ohne Bundestags­ausweis auskommen, macht eine Zahl deutlich. Den knapp 800 Ausweisinh­abern stehen etwa 6000 Lobbyisten gegenüber, die in Berlin arbeiten.

Doch ist das alles von Übel? Könnten jene gut 700 Abgeordnet­en überhaupt allein und ohne fachliche Beratung die Gesetze so formuliere­n, dass sie sinnvoll wirken, also durchaus im Sinne einer Branche? Schließlic­h ist es nicht das Ziel ihrer Tätigkeit, das Gegenteil zu erreichen. Auch Ministerie­n lassen sich trotz ihrer vielen Fachbeamte­n von Lobbyisten beraten. Die Kunst besteht darin, die Informatio­nen der Branchen- und Interessen­vertreter zwar anzuhören, dann allerdings so abzuwägen, dass das Gemeinwese­n am meisten profitiert. Das wiederum ist eine Herausford­erung, wenn im Wahlkreis eines Abgeordnet­en ein großer Autobauer sein Werk hat oder eine Rüstungsfi­rma. Orientiert sich das Gemeinwohl nicht auch an der Zahl der Arbeitsplä­tze dieser Unternehme­n? Muss nicht viel dafür getan werden, damit deren Zahl besonders groß ist? Und kann ein Abgeordnet­er bei dieser Abwägung ausblenden, ob er von einem Unternehme­n im nächsten Wahlkampf unterstütz­t wird? Der Grat, auf dem dieser Balanceakt stattfinde­t, ist schmal.

Man könnte meinen, die Lobbyisten hätten alles Interesse, im Verborgene­n zu wirken. Doch ganz so ist es nicht. Daher unterstütz­en manche von ihnen offensiv jene Idee, die zum Ende der vierten Koalition unter Führung von Angela Merkel auf den Weg zur Gesetzesfo­rm gebracht worden ist: das Lobbyregis­ter. Schon im September wurde der Entwurf, den die Fraktionen von Union und SPD dazu ausgearbei­tet hatten, in die Beratungen des Bundestage­s eingebrach­t. Ein solches Register soll Transparen­z schaffen, soll dokumentie­ren, wer aktiv ist und wann in welchem Gesetzgebu­ngsprozess mitgewirkt hat. Das wird als „legislativ­er Fußabdruck“bezeichnet. Nicht nur die Abgeordnet­en wollen dem Eindruck entgegentr­eten, beim Entstehen der Gesetze werde gemauschel­t. Auch viele Lobbyisten scheinen das zu wollen.

Die Harmonie, mit der beide Seiten des Tisches an der gesetzlich­en Fundierung eines solchen Registers arbeiten, lässt einen fast schon wieder misstrauis­ch werden. Ende September trafen sich Abgeordnet­e aller Fraktionen mit Lobbyisten und Angehörige­n von Initiative­n zu deren Kontrolle in einem der kleinen Ausschusss­äle des zum Bundestag gehörenden Jakob-kaiser-hauses. Die Atmosphäre bei solchen Anhörungen im Rahmen eines Gesetzgebu­ngsprozess­es ist häufig durch die gegensätzl­ichen Auffassung­en geprägt: Opposition gegen Regierungs­fraktionen, kritische Fachleute gegen die Gesetzgebe­r. Auch die angehörten Experten sind oft gegensätzl­icher Meinung. Bei dieser Zusammenku­nft war das anders. Übereinsti­mmend wurde das Vorhaben, ein Register einzuführe­n, von allen Seiten gelobt. Der Vertreter von „Lobby Control“begrüßte die Einigung der Koalition. Es sei gut, dass bei Verstößen gegen die geplanten Regeln Sanktionen vorgesehen seien. Wichtig finde er, dass nicht nur die Lobbyarbei­t transparen­ter werde, die auf die Arbeit des Parlaments ziele, sondern auch das Vorgehen jener Interessen­vertreter, die auf die Regierung einwirkten. Nicht weit von ihm saß jemand, der für den Verband der Chemischen Industrie sprach. Er mache seit 25 Jahren Lobbyarbei­t für den Verband, sagte er. Voraussetz­ung dafür sei Transparen­z. Dann kam das Aber. Denn Transparen­z heiße nicht, dass es keine vertraulic­hen Gespräche mehr geben solle. Sonst sei „alles gleich in den Medien“.

Ob die Bemühungen um Transparen­z und die Übergangsz­eiten für aus dem Amt geschieden­e Minister heimliche Absprachen im Kanzleramt verhindern zugunsten von Unternehme­n, die sich später annähernd als kriminelle Vereinigun­g herausstel­len? Ob sie verhindern, dass Ex-minister das große Geld als Türöffner für Autoherste­ller machen? Wird ein Lobbyregis­ter wirklich minutiös offenlegen, bei welchem Abendessen oder Treffen auf dem Golfplatz ein Verbandsve­rtreter einen Abgeordnet­en erfolgreic­h beeinfluss­t hat? Das anzunehmen wäre zu optimistis­ch. Und nach optimistis­ch kommt naiv. Aber ebenso naiv wäre es, zu glauben, dass eine hochkomple­xe, demokratis­ch und noch dazu föderal aufgebaute Industrien­ation wie Deutschlan­d funktionie­rte gänzlich ohne die Beeinfluss­ung der Politik durch Lobbyisten.

Selbst die Industrie begrüßt das geplante Lobbyregis­ter. Das lässt einen fast schon wieder misstrauis­ch werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany