Frankfurter Allgemeine Quarterly
„Das undurchsichtige Zusammenspiel von Politik und Geld: Nie war so viel Aufklärung möglich. Nie war so viel Verdacht.“
Frühere und aktive Politiker vergolden ihre Kontakte zur Wirtschaft. Das macht misstrauisch. Zu Recht?
Die beiden scheinen nicht viel gemeinsam zu haben. Als Philipp Amthor 1992 zur Welt kam, war der 33 Jahre ältere Sigmar Gabriel schon Abgeordneter des Niedersächsischen Landtags. Der Ältere ist ein westdeutsch sozialisierter Sozialdemokrat, der schon drei Lebensjahrzehnte auf dem Buckel hatte, als die Mauer fiel, der andere wurde überhaupt erst nach der Wende in Mecklenburg-vorpommern geboren und trat der CDU bei. Beide machen keinen Hehl aus ihrer einfachen Herkunft, beide sind für deutliche Worte bekannt.
Im Corona-sommer 2020 brachte jedoch etwas ganz anderes ihre Namen in die Schlagzeilen. Es stellte sich die Frage, ob sie ihr politisches Wirken für das Gemeinwesen hinreichend sauber von persönlichen Interessen zu trennen wissen. Finanziellen Interessen, um genau zu sein. Der Bundestagsabgeordnete Amthor hatte sich von einem wenig bekannten New Yorker Unternehmen namens „Augustus Intelligence“mit einem Posten als Direktor ködern lassen, zudem mit Aktienoptionen. Dass Ex-minister Karl-theodor zu Guttenberg und Ex-verfassungsschutzchef Hans-georg Maaßen auch an Bord waren, hatte ihn offenbar nicht alarmiert. Zuvor hatte der Cdu-jungstar, der mit einer heftigen Attacke auf die AFD im Bundestag sogar wohlwollende Blicke der Bundeskanzlerin auf sich gezogen hatte, für Augustus bei Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier geworben.
Das passte alles ebenso wenig zusammen wie das Engagement des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Sigmar Gabriel bei dem wegen seiner zweifelhaften Arbeitsbedingungen in Verruf geratenen Fleischkonzern Tönnies. Gabriel soll einen kleinen fünfstelligen Betrag pro Monat für Beratungsleistungen bekommen haben und zudem einen vierstelligen für jeden Reisetag. Auch das passte nicht zu dem von Gabriel gepflegten Image, all sein politisches Gewicht für die Interessen des sogenannten kleinen Mannes in die Waagschale zu werfen.
Es ist die uralte Geschichte von der Verbindung zwischen Kapital und Politik. Sie brauchen einander, denn kein Gemeinwesen funktioniert ohne eine stabile materielle Grundlage. Früher war das Zusammenspiel einfacher – und weniger durchschaubar. Die Fürsten, Könige und Zaren waren Herren über beides: das Geld und die Politik. Sie taten, was ihrer Meinung nach zum Wohle des Landes getan werden musste – und zu ihrem eigenen. Kritik daran gab es kaum. Es sei denn, Volksund Fürstenwohl verloren in einem solchen Maße die Balance, dass es zum Aufstand, zum Sturz des Herrschers, zur Revolution kam. Das blieb die Ausnahme.
Mit dem Siegeszug der Demokratie, vor allem in Europa und Nordamerika, wurde das Verhältnis zwischen ökonomischer und politischer Macht immer schwieriger. Politische Macht wird seither auf Zeit verliehen, vom Volk an einen aus seinen Reihen. Oder an eine. Die Präsidenten, Ministerpräsidenten und Kanzler haben nicht mehr das Sagen über die wirtschaftliche Entwicklung. Zwar stammen amerikanische Präsidenten oft aus wohlhabenden Familien oder haben es selbst zu Geld gebracht; das hilft beim Wahlkampf. Aber grundsätzlich lässt die Demokratie – ökonomisch betrachtet – oft den Durchschnittsbürger an die Schalthebel gelangen. Die deutschen Bundeskanzler seit 1949 sind keine reichen Leute gewesen. Im Gegenteil. Eine Distanzierung vom großen Geld und eine einfache Herkunft gelten häufig als Zeichen besonderer Volksnähe.
Amthor oder Gabriel, Guttenberg oder Schröder, Kohl oder Fischer – für viel Geld oder Posten vertraten sie Unternehmensinteressen.
Aber ohne Einvernehmen mit den wirtschaftlichen Entscheidungsträgern, den Unternehmern, den Managern und Verbandsbossen, den Arbeitgeber- wie auch den Arbeitnehmervertretern, ist es unmöglich, das materielle Wohl des Landes und seiner Bevölkerung zu gewährleisten. Deswegen müssen Bundeskanzler mindestens den Gesprächskontakt zu den Wirtschaftsführern suchen. Manchmal wird sogar Nähe daraus.
Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, diese Nähe zu beobachten, aufzudecken und gegebenenfalls anzuprangern wie im Zeitalter von Internet und sozialen Netzwerken. Viele Vorgänge sind im Netz nachlesbar, die Pflicht zur Veröffentlichung wächst, rechtliche Möglichkeiten, Öffentlichkeit einzuklagen, ebenfalls. Jeder kann über Facebook, Twitter und andere Plattformen zum Ankläger werden. Gleichzeitig schie
ßen Verschwörungstheorien wie Viren aus dem Server. Das undurchsichtige Zusammenspiel von Politik und großem Geld, das Wirken dunkler Mächte – das ist ein beliebtes Genre. Nie war so viel Aufklärung möglich. Nie war so viel Verdacht.
Politik und großes Geld. Nie war so viel Verdacht.
Besonders gut sichtbar wird die enge Beziehung von Politikern und Wirtschaftsführern bei Auslandsreisen. Wie ihre Vorgänger nimmt auch Angela Merkel auf ihre großen Reisen die Schwergewichte der deutschen Wirtschaft mit. Das ist kein Geheimnis. Schon weil sie im Regierungsflugzeug zwischen den für die Kanzlerin reservierten Räumlichkeiten vorne und den hinten untergebrachten Journalisten sitzen. Die Unternehmensführer versuchen erst gar nicht, ihre Nähe zur politischen Macht zu verbergen. Im Gegenteil: Sie setzen sie ein, um ihre Chancen, im Ausland Geschäfte zu machen, zu verbessern. Wer zeigen kann, dass er die Politik auf seiner Seite hat, genießt in vielen Ländern mit großen Absatzmärkten mehr Kredit.
Das Paradebeispiel ist seit langem China. Offen Zutageliegendes und dunkler Verdacht lagen bei Merkels China-reise im September 2019 sehr nah beieinander. Es ging um die Verflechtung von Wirtschaft und Politik. Vor laufenden Kameras und einer Heerschar von Journalisten unterschrieben die Bosse diverse Verträge in Anwesenheit der Kanzlerin und der chinesischen Machthaber. Die großen Unternehmen waren mit ihren Führungsetagen vertreten: Von A wie Allianz über B wie BASF und BMW, D wie Daimler und Deutsche Bank bis hin zu S wie Siemens und V wie Volkswagen reichte die lange Liste jener Firmen, die die hohe Politik als Türöffner für den großen chinesischen Markt nutzten.
Doch abseits des Lichts der Öffentlichkeit passierte etwas, das einige Monate später zu einer dunklen Sensation werden sollte und viele Fragen aufwirft über das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik sowie das Wirken von Lobbyisten. Das hatte mit W wie Wirecard zu tun. Unternehmensboss Markus Braun oder jemand anderes aus der Führungsetage des damals aufstrebenden Finanzdienstleisters aus Bayern mit Dax-status waren auf jener Reise vom 5. bis 7. September 2019 nicht mit dabei. Jedenfalls nicht unmittelbar. Tatsächlich war es Wirecard gelungen, der Kanzlerin eine Bitte mit auf den Flug nach Peking zu geben, die sie im Gespräch mit den Chinesen erfüllte: Sie warb dafür, dass Wirecard den chinesischen Finanzdienstleister Allscore Financial mehrheitlich übernimmt. Nicht nur für die deutsche Firma war das ein Hauptgewinn. Auch die Kanzlerin fand die Vorstellung offenbar verlockend, dass nicht immer nur die Chinesen in Deutschland auf Einkaufstour gehen, sondern der Spieß mal umgedreht würde, noch dazu in einer zukunftsträchtigen Branche. Dass Wirecard wegen hochkrimineller Machenschaften kurz vor dem Zusammenbruch stand, wusste Merkel nicht. So stand es jedenfalls in einer dreiseitigen Erklärung des Kanzleramts, die dieses mit ganz ungewöhnlicher Offenheit im Juli dieses Jahres verbreitete, als das Kartenhaus Wirecard in sich zusammenfiel. Für Merkels Ahnungslosigkeit spricht, dass es nicht zu ihren bevorzugten Disziplinen gehört, sehenden Auges in den Abgrund zu fahren.
Guttenberg bat Merkel im Kanzleramt, sich bei den Chinesen in Peking für Wirecard einzusetzen. Diesen Wunsch erfüllte sie.
Die Mitteilung der Regierung war vor allem interessant, weil sie einen tiefen Einblick in das Zusammenwirken von Lobbyisten und Politik auf höchster Ebene gibt. Der schillerndste deutsche Politpromi dieses Jahrhunderts, der sich nach seinem Sturz als Lobbyist verdingt, hatte Merkel auf Bitte der Wirecard-führung dazu gebracht, in China den Boden für die geplante Übernahme zu bereiten: Karl-theodor zu Guttenberg. Nachdem es Wirecard-ceo Braun nicht gelungen war, einen Termin in der Berliner Regierungszentrale zu bekommen, hatte er Guttenberg, der die Agentur Spitzberg Partners betreibt, in die Spur geschickt. Merkel hatte nicht mit ihrem einstigen Verteidigungsminister gebrochen, auch nicht, als seine zusammenkopierte Doktorarbeit ihn zu Fall gebracht hatte. Bis heute betrachtet
man es im Kanzleramt als ganz normal, dass er von ihr empfangen wird. Zwei Tage vor dem Abflug nach China war Guttenberg ins Kanzleramt zu Merkel marschiert. Die tat, worum sie gebeten worden war. Am Tag nach der Rückkehr aus China mailte Merkels Abteilungsleiter Wirtschaft, Lars-hendrik Röller, an Guttenberg, dass der Auftrag erfüllt worden sei, und sicherte „weitere Flankierung“zu. Wie die Sache ausging, ist bekannt.
Das Kanzleramt enthüllte einen zweiten wichtigen Vorgang, der unterhalb der Ebene Merkel/guttenberg spielte. Einen, in dem sich Akteure begegneten, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind. Was die Sache viel heikler werden lässt, weil der Eindruck genährt wird, dass hier etwas Heimliches, etwas Unrechtes geschieht. Eine Vorstellung, die das Zusammenwirken von Lobbyismus und Politik begleitet. Denn außer Guttenberg setzte sich im Hause Merkel ein Mann für Wirecard ein, der bis zum März 2018 seinen Schreibtisch im Kanzleramt stehen hatte. Klaus-dieter Fritsche war dort Beauftragter für die Nachrichtendienste, gewissermaßen Deutschlands höchster Sicherheitsbeamter. Und Ex-vizepräsident des Verfassungsschutzes und Exstaatssekretär im Innenministerium. Sein Erfahrungsschatz dürfte so umfassend sein wie sein Telefonbuch. Kaum im Ruhestand, fing er an, sich als Berater zu verdingen, unter anderem bei dem zur FPÖ gehörenden österreichischen Innenminister Herbert Kickl. Wenige Tage nach Merkels Rückkehr aus China war Fritsche bei einem Treffen seines Ex-kollegen Röller mit dem Finanzvorstand und einem strategischen Berater von Wirecard dabei. Es habe „in erster Linie dem gegenseitigen Kennenlernen“gedient, hieß es später im Kanzleramt. Die Geschwindigkeit, mit der Fritsche im Ruhestand seine guten Kontakte aus den Zeiten als hoher Bundesbeamter einsetzte, sorgte spätestens mit dem Wirecard-skandal für Stirnrunzeln im Kanzleramt. Doch Fritsche bemühte sich um weitere Betätigungsfelder. Er strebte ein Aufsichtsratsmandat beim deutschen Waffenhersteller Heckler & Koch an. Dessen Mehrheitsaktionär ist der französische Investor Nicolas Walewski, der wiederum großer Anteilseigner bei Wirecard war. Anfang Oktober, nachdem das alles öffentlich geworden war, verzichtete Fritsche auf seine Ambitionen, bei Heckler & Koch Aufsichtsrat zu werden. Die Firma schrieb in einer Mitteilung von „persönlichen Gründen“.
Warum ehemalige Politiker und Spitzenbeamte sich als Lobbyisten verdingen, lässt sich nicht pauschal sagen. Ein Grund dürfte der Wunsch sein, das bisherige Leben voll Einfluss, Macht und Privilegien nicht plötzlich zu verlieren. Der zweite Grund dürfte in vielen Fällen banaler sein: Geld. Ein einstiger Minister oder Staatssekretär, aber auch ein gut vernetzter Parlamentarier kann nicht nur mit Vorträgen bis zu fünfstellige Honorare erzielen. Als Kontaktperson zwischen Politik und Wirtschaft kann er seine Altersbezüge kräftig aufstocken. Das wird in der Öffentlichkeit nicht gerade mit Begeisterung gesehen.
Die früheren Amtsträger vermissen ihre alten Privilegien. Und wollen endlich einmal richtig viel Geld verdienen.
Die „Bild am Sonntag“veröffentlichte im Juli eine Umfrage, der zufolge fast drei Viertel der Befragten es für unmoralisch halten, wenn Spitzenpolitiker sich nach dem Ende ihrer Amtszeit ihr Adressbuch vergolden lassen. 22 Prozent hielten es für moralisch vertretbar. Doch gibt es klare Regeln. Seit 2015 ist eine Karenzzeit von einem Jahr nach dem Ausscheiden aus dem Amt für Kanzler, Minister oder Staatssekretäre vorgesehen. Wenn eine besondere Gefahr besteht, dass geschützte Informationen in nicht dafür vorgesehene Hände geraten, kann die Zeit sogar 18 Monate betragen.
Ex-politiker, die sich als Lobbyisten oder Berater verdingen, gibt es quer durch die Parteien. Manchmal sind es Abgeordnete, die der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sind. Die prominenten Beispiele fallen mehr auf: Ex-kanzler Helmut Kohl gründete eine eigene Beratungsfirma, ebenso wie der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer. Sein Unternehmen, das durch die Beratung von Energiekonzernen ebenso wie durch die Zusammenarbeit mit dem Autobauer BMW bekannt wurde, liegt am Berliner Gendarmenmarkt, nur wenige hundert Meter vom Auswärtigen Amt entfernt.
Ein besonders spektakulärer Fall ist der des einstigen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Der Sozialdemokrat, der als Politiker immer wieder auf seine Herkunft aus sehr kleinen Verhältnissen hingewiesen hatte, wechselte mehr oder minder nahtlos aus dem
Kanzleramt in den Aufsichtsrat der Firma Nord Stream AG. Sie gehört mehrheitlich dem russischen Unternehmen Gasprom und baut gerade die Pipeline Nord Stream 2 von Russland direkt nach Deutschland. Nicht nur in Deutschland gibt es Streit über das Projekt. Länder wie Polen fühlen sich eingeklemmt zwischen den mächtigen Nachbarn im Westen und im Osten. Dass Schröder mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin befreundet ist, dürfte seinen Seitenwechsel beschleunigt haben.
Schröder war schon zu seiner Zeit als Bundeskanzler vielfach eine große Nähe zur Wirtschaft nachgesagt, auch vorgeworfen worden. Der „Genosse der Bosse“war er genannt worden, auch „Autokanzler“. Auch wenn er nicht den Verdacht erweckt hat, ein wirtschaftskritischer Linker zu sein, so funktionierte das Miteinander eines Sozialdemokraten mit den Wirtschaftsführern doch gut als Gegensatz. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass jeder Bundeskanzler mit der oberen Etage der wichtigen Unternehmen in ordentlichem Austausch ist und sein muss. Das gilt für Schröders Nachfolgerin Merkel genauso. Nur dass „Christdemokratin der Bosse“nicht so einen hübschen Reim ergäbe. Und was das Projekt Nord Stream 2 angeht, das nach dem Mordanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj von einigen deutschen Politikern in Frage gestellt wird, so hat Merkel es über viele Jahre verteidigt und vorangetrieben. Wen Nawalnyj selbst als den eigentlichen Bösen ansieht, machte er Anfang Oktober deutlich. Schröder sei ein „Laufbursche“Putins.
Die großen Namen jedoch dürfen nicht täuschen: Die meisten Lobbyisten sind unbekannt. Sie arbeiten für ein Unternehmen oder einen Verband, sitzen in Berlin oder sind oft dort, um die Gesetze für die eigene Branche zu beeinflussen. Unbekannte Akteure bearbeiten oft ebenfalls wenig bekannte Abgeordnete, die aber wichtig sind, weil sie bei der Entstehung eines Gesetzes vermeintliche Kleinigkeiten beeinflussen können, die jedoch für eine Branche von Belang sind. Das bekommen meistens nur die unmittelbar Beteiligten mit. So steht schnell der Verdacht der Mauschelei im Raum. Oder besser: im Hinterzimmer.
Die Journalisten Peter Dausend und Horand Knaup haben in ihrem kürzlich erschienenen Buch über den Alltag von Bundestagsabgeordneten auch das Thema Lobbyismus behandelt. Sie erzählen die Geschichte des einstigen Spd-bundestagsabgeordneten Marco Bülow, der seit November 2018 parteilos ist. Der habe 2009 über zwei Wochen die Anfragen von Lobbyisten in seinem Büro notiert. Es seien 400 Briefe, E-mails, Faxschreiben und Telefonanrufe gewesen. Etwa zwei Drittel von gewinnorientierten Unternehmen, ein Drittel von Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaften. Bülow kommt in einem eigenen Buch („Wir Abnicker“) zu dem Schluss, dass die Abgeordneten sich überschätzten, wenn sie glaubten, trotz aller Kontakte zu Lobbyisten ihre Unabhängigkeit behalten zu können.
Altkanzler Gerhard Schröder sitzt im Aufsichtsrat der Nord Stream AG. Nawalnyj nannte ihn Putins „Laufburschen“.
Unbekannte Lobbyisten bearbeiten im Stillen unbekannte Abgeordnete. Das klingt nach Mauschelei.
Nicht nur Bundestagsabgeordnete haben einen Hausausweis, mit dem sie jederzeit in den Reichstag und die übrigen Gebäude des Bundestages kommen können. Auch Journalisten, die regelmäßig über die Arbeit des höchsten deutschen Parlaments berichten, haben in der Regel eine solche Plastikkarte. Und Lobbyisten. Anfang des Jahres 2019 sollen es 780 gewesen sein, also mehr als die 709 Bundestagsabgeordneten. Einen solchen Ausweis kann der Bundestag verweigern, etwa wenn die Antragsteller nicht transparent machen, welche Finanzmittel hinter ihrer Lobbyarbeit stehen. Doch auch ohne permanenten Hausausweis kann ein Interessenvertreter leicht Kontakt zu Politikern bekommen. In Restaurants und Bars. Im Wahlkreis, in der Firma, die Einfluss
nehmen will, auf Reisen – überall. Wie oft Lobbyisten ohne Bundestagsausweis auskommen, macht eine Zahl deutlich. Den knapp 800 Ausweisinhabern stehen etwa 6000 Lobbyisten gegenüber, die in Berlin arbeiten.
Doch ist das alles von Übel? Könnten jene gut 700 Abgeordneten überhaupt allein und ohne fachliche Beratung die Gesetze so formulieren, dass sie sinnvoll wirken, also durchaus im Sinne einer Branche? Schließlich ist es nicht das Ziel ihrer Tätigkeit, das Gegenteil zu erreichen. Auch Ministerien lassen sich trotz ihrer vielen Fachbeamten von Lobbyisten beraten. Die Kunst besteht darin, die Informationen der Branchen- und Interessenvertreter zwar anzuhören, dann allerdings so abzuwägen, dass das Gemeinwesen am meisten profitiert. Das wiederum ist eine Herausforderung, wenn im Wahlkreis eines Abgeordneten ein großer Autobauer sein Werk hat oder eine Rüstungsfirma. Orientiert sich das Gemeinwohl nicht auch an der Zahl der Arbeitsplätze dieser Unternehmen? Muss nicht viel dafür getan werden, damit deren Zahl besonders groß ist? Und kann ein Abgeordneter bei dieser Abwägung ausblenden, ob er von einem Unternehmen im nächsten Wahlkampf unterstützt wird? Der Grat, auf dem dieser Balanceakt stattfindet, ist schmal.
Man könnte meinen, die Lobbyisten hätten alles Interesse, im Verborgenen zu wirken. Doch ganz so ist es nicht. Daher unterstützen manche von ihnen offensiv jene Idee, die zum Ende der vierten Koalition unter Führung von Angela Merkel auf den Weg zur Gesetzesform gebracht worden ist: das Lobbyregister. Schon im September wurde der Entwurf, den die Fraktionen von Union und SPD dazu ausgearbeitet hatten, in die Beratungen des Bundestages eingebracht. Ein solches Register soll Transparenz schaffen, soll dokumentieren, wer aktiv ist und wann in welchem Gesetzgebungsprozess mitgewirkt hat. Das wird als „legislativer Fußabdruck“bezeichnet. Nicht nur die Abgeordneten wollen dem Eindruck entgegentreten, beim Entstehen der Gesetze werde gemauschelt. Auch viele Lobbyisten scheinen das zu wollen.
Die Harmonie, mit der beide Seiten des Tisches an der gesetzlichen Fundierung eines solchen Registers arbeiten, lässt einen fast schon wieder misstrauisch werden. Ende September trafen sich Abgeordnete aller Fraktionen mit Lobbyisten und Angehörigen von Initiativen zu deren Kontrolle in einem der kleinen Ausschusssäle des zum Bundestag gehörenden Jakob-kaiser-hauses. Die Atmosphäre bei solchen Anhörungen im Rahmen eines Gesetzgebungsprozesses ist häufig durch die gegensätzlichen Auffassungen geprägt: Opposition gegen Regierungsfraktionen, kritische Fachleute gegen die Gesetzgeber. Auch die angehörten Experten sind oft gegensätzlicher Meinung. Bei dieser Zusammenkunft war das anders. Übereinstimmend wurde das Vorhaben, ein Register einzuführen, von allen Seiten gelobt. Der Vertreter von „Lobby Control“begrüßte die Einigung der Koalition. Es sei gut, dass bei Verstößen gegen die geplanten Regeln Sanktionen vorgesehen seien. Wichtig finde er, dass nicht nur die Lobbyarbeit transparenter werde, die auf die Arbeit des Parlaments ziele, sondern auch das Vorgehen jener Interessenvertreter, die auf die Regierung einwirkten. Nicht weit von ihm saß jemand, der für den Verband der Chemischen Industrie sprach. Er mache seit 25 Jahren Lobbyarbeit für den Verband, sagte er. Voraussetzung dafür sei Transparenz. Dann kam das Aber. Denn Transparenz heiße nicht, dass es keine vertraulichen Gespräche mehr geben solle. Sonst sei „alles gleich in den Medien“.
Ob die Bemühungen um Transparenz und die Übergangszeiten für aus dem Amt geschiedene Minister heimliche Absprachen im Kanzleramt verhindern zugunsten von Unternehmen, die sich später annähernd als kriminelle Vereinigung herausstellen? Ob sie verhindern, dass Ex-minister das große Geld als Türöffner für Autohersteller machen? Wird ein Lobbyregister wirklich minutiös offenlegen, bei welchem Abendessen oder Treffen auf dem Golfplatz ein Verbandsvertreter einen Abgeordneten erfolgreich beeinflusst hat? Das anzunehmen wäre zu optimistisch. Und nach optimistisch kommt naiv. Aber ebenso naiv wäre es, zu glauben, dass eine hochkomplexe, demokratisch und noch dazu föderal aufgebaute Industrienation wie Deutschland funktionierte gänzlich ohne die Beeinflussung der Politik durch Lobbyisten.
Selbst die Industrie begrüßt das geplante Lobbyregister. Das lässt einen fast schon wieder misstrauisch werden.