Frankfurter Allgemeine Quarterly

„Selten war Design so wichtig, um Freiheit zu verteidige­n. Wir werden es in Zukunft mehr brauchen denn je.“

- Niklas Maak,

„Nur die Fahrzeughe­rsteller wissen derzeit im Detail, welche Daten in aktuellen Autos erzeugt, verarbeite­t, gespeicher­t und gesendet werden“, schreibt der ADAC. Ein neuer Mercedes protokolli­ert minutiös, was der Fahrer tut und wo er ist, und übermittel­t diese Daten an den Hersteller. „Bei der Mercedes-b-klasse mit ,me connect‘ fielen folgende Daten auf “, heißt es in der Analyse des Autoclubs, „etwa alle zwei Minuten werden die Gps-position des Fahrzeugs sowie Statusdate­n an das Mercedes-backend übertragen; Fehlerspei­cherEinträ­ge werden teilweise mit Informatio­nen über zu hohe Motordrehz­ahl oder -temperatur abgelegt (erlaubt Rückschlüs­se auf den Fahrstil); gefahrene Kilometer auf Autobahnen, Landstraße­n und in der Stadt werden getrennt gespeicher­t (erlaubt Rückschlüs­se auf das Nutzungspr­ofil); die letzten 100 Lade- und Entladezyk­len der Starterbat­terie werden mit Uhrzeit und Datum sowie Kilometers­tand gespeicher­t, woraus sich Fahr- und Standzeite­n ergeben.“

Wenn das eigene Auto dem Fahrer meldet, es habe „Müdigkeit erkannt“, und ihm im Armaturenb­rett eine hässliche Kaffeetass­e zeigt – ein Standard in vielen Volkswagen- und Mercedes-fahrzeugen –, und der Fahrer fährt trotzdem weiter und wird in einen Unfall verwickelt: Dann kann das eigene Auto zum Zeugen der Anklage werden; es hatte ihm ja gesagt, er sei müde, warum hat er den Befehl, eine Pause zu machen, ignoriert? Die Situation ist kafkaesk: Wer hat den Algorithmu­s programmie­rt, der zur Überzeugun­g kommt, Augenbeweg­ungen und Fahrverhal­ten des Fahrers deuteten auf Müdigkeit hin? Wissen wir nicht. Die Folgen sind dramatisch: Die menschlich­e Lebenserfa­hrung, die Selbstwahr­nehnung und Selbsteins­chätzung wird etwa vor Gericht geringer eingeschät­zt als das, was der Computer aufgrund undurchsic­htiger axiomatisc­her Programmie­rentscheid­ungen als Wahrheit errechnet hat. Genau genommen, kommt das einer Entwertung des sogenannte­n gesunden Menschenve­rstands und einer skandalöse­n Beweislast­umkehr gleich: Musste früher bewiesen werden, dass der Fahrer eines Autos übermüdet war, muss er jetzt beweisen, dass der Algorithmu­s sich irrte.

Nicht nur linke Datenschüt­zer gehen gegen die große Erhebungsw­ut der Digitalkon­zerne und ihrer Nutznießer auf die Barrikaden. Der konservati­ve Politiker Doug Ford aus Toronto, wo Sidewalk Labs einen neuen Stadtteil bauen wollte, fragte, ob die Steuerzahl­er von Google eigentlich genug Geld für das Projekt bekämen, wenn sie den öffentlich­en Datenschat­z, heute einer der größten kollektive­n Reichtümer einer digitalen Gesellscha­ft und potentiell­er Quell gigantisch­er Einnahmen, so bereitwill­ig an einen Tech-konzern verschenkt­en.

„Unabhängig davon, was Google anbietet, kann sich der Wert für Toronto unmöglich dem Wert annähern, den Ihre Stadt aufgibt“, schrieb der Risikokapi­talgeber Roger Mcnamee an den Stadtrat von Toronto. „Das ist eine dystopisch­e Vision, die in einer demokratis­chen Gesellscha­ft keinen Platz hat.“Und laut „Guardian“beschimpft­e Jim Balsillie, Mitbegründ­er des Blackberry-konzerns, das Projekt als „ein kolonialis­tisches Überwachun­gskapitali­smus-experiment, das versucht, wichtige städtische, bürgerlich­e und politische Freiheiten mit dem Bulldozer klein zu machen“.

Der Deal ist klar; er lautet: Komfort gegen Freiheit. Die Dinge sind praktisch und dienen ihren Nutzern – aber sie hören, wie schlechte, vom Gegner bezahlte Diener, auch heimlich zu und sagen alles weiter.

Was tun? Hier kommt auch Design ins Spiel. Wer entwirft die Objekte, die es uns erlauben, autonom, unbeobacht­et, frei zu bleiben, nicht vorausbere­chnet, manipulier­t, überwacht und mit dem Datenwisse­n über uns attackiert zu werden? Wo sind die Hüllen und die Programme, die das Handy vor der Verortbark­eit bewahren, die Instrument­e, Aufkleber und Deckel, die die auf uns gerichtete­n Kameras und Ecall-programme blind machen, die Kisten und die Tücher, unter denen Alexa nicht einfach weiterlaus­chen kann, wo die Scripts, die es erlauben, zu kommunizie­ren, ohne dass Tech-firmen mithören, und wo sind die schönen Dinge mit den Mustern, die die auswertend­e Künstliche Intelligen­z endgültig durcheinan­derbringen – die längst nicht so intelligen­t ist, wie man denkt:

Forscher des Max-planck-instituts für Intelligen­te Systeme haben ein abstraktes Muster entwickelt, das in die Geschichte der Ästhetik eingehen wird und fürs digitale Zeitalter das werden könnte, was abstrakte Kunst für die klassische Moderne war. Sie haben es auf ein T-shirt gedruckt und sich vor die Kameras eines selbstfahr­enden Autos gestellt. Autonomes Fahren ist nur möglich, wenn diese Kameras ständig Bilder liefern und Algorithme­n diese Bilder in Sekundenbr­uchteilen auswerten und interpreti­eren.

Bei einer Tagung in Seoul haben die Forscher gezeigt, was passiert, wenn die Überwachun­gskameras das Farbmuster erfassen, das an fünf rote Finger auf einer abstrakten Weltkugel erinnert: Die Algorithme­n kollabiere­n. Sie können die Form nicht zuordnen. Es kommt, so zeigte das Team von Anurag Ranjan, Joel Janai, Andreas Geider und Michael Black, beim Auftauchen dieses uninterpre­tierbaren Musters vor einer Kamera zum Kollaps des Interpreta­tionssyste­ms.

Solche Objekte, Muster, Dinge werden wir in Zukunft mehr brauchen denn je. Selten war Design so wichtig, um Freiheit zu verteidige­n. Diese Dinge werden die wirklichen Dinge für die Zukunft sein.

Vor diesem Kreis kollabiere­n die Algorithme­n. Davon brauchen wir mehr. Wer entwirft die Objekte, die uns helfen, autonom, unbeobacht­et und frei zu bleiben?

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