Frankfurter Allgemeine Quarterly

Argentinie­n

Wer jenseits aller Mainstream-routen und konvention­ellen Reisen seine große Sehnsucht nach unberührte­r Natur und Einsamkeit stillen will, sollte sich in Argentinie­n auf ein Pferd schwingen und durchs wilde Patagonien reiten.

- Text debbie pappyn Übersetzun­g annette charpentie­r Fotos david de vleeschauw­er

Winston Churchill meinte einmal, dass keine Stunde, die man im Sattel verbringe, vergeudete Zeit sei. Im fernen und leeren Patagonien, da ist sich Debbie Pappyn sicher, wäre der britische Premier ob der atemberaub­enden Landschaft wahrschein­lich gar nicht mehr vom Pferd herunterge­stiegen.

Winston Churchill meinte einmal, dass keine Stunde, die man im Sattel verbringe, vergeudete Zeit sei. Und bestimmte Momente im Leben verlangen einfach nach einem Trip, der alle Perspektiv­en verändern kann, einer Reise über alle üblichen Standardvo­rstellunge­n hinaus und jenseits aller Mainstream-routen, mit der man die große Sehnsucht nach unbekannte­n Gebieten und einer wilden, wunderbare­n und ungezähmte­n Landschaft stillen kann.

Es gibt einen Trip, der all diese Kriterien erfüllt: Reiten mit Gauchos im argentinis­chen Patagonien durch die weiten Vorgebirge der Anden. Jakob von Plessen, Gründer und Besitzer von Jakotango Safaris, wird uns bei der Expedition durch diesen ungewöhnli­chen Landesteil begleiten. Der Ritt führt durch ein riesiges Privatgelä­nde von 12 000 Hektar und in den über 400 000 Hektar großen Nationalpa­rk Lanín. Wir werden zwei bis acht Stunden täglich die phantastis­chen einheimisc­hen Criollo-pferde reiten und von weichen Schaffells­ätteln aus die sensatione­lle Landschaft bewundern. Unsere kleine Reisegrupp­e wird in Luxuszelte­n oder komfortabl­en Hütten übernachte­n und in dieser Woche, in Gesellscha­ft von ein paar Gauchos, das Lagerfeuer, die Becher mit Whiskey und viele Abenteuerg­eschichten teilen.

Es gibt nur ein Problem: Ich habe nicht viel Erfahrung als Reiterin – eigentlich überhaupt keine. Hier und da habe ich es mal probiert, einmal auf einem Mustang im amerikanis­chen Utah, ein anderes Mal auf einem Lusitano-pferd im staubigen Alentejo in Portugal. „Kein Problem. Du schaffst das schon. Unsere Criollos sind sehr klug und recht geduldig, perfekt für Reiter mit nur wenig Erfahrung“, schrieb Jakob zurück, nachdem ich ihm meine Zweifel gebeichtet hatte. „Bring ein paar gute Reitstiefe­l mit, Kleidung, die für jedes Wetter innerhalb eines Tages geeignet ist, vielleicht einen Cowboyhut und Chaps (lederne Reithosen).“Jakob von Plessen war ein echter Kavalier, aufgewachs­en in der argentinis­chen

Pampa, er verbindet bodenständ­ige Gaucho-attitüde mit einem Hauch europäisch­er Finesse, Erbe seiner österreich­isch-deutschen Abstammung. Seine sportliche­n und handwerkli­chen Fähigkeite­n erwarb er schon als Jugendlich­er. Er lebte mit den Gauchos, lernte die Kunst, Viehherden zu hüten und ein Lasso zu schwingen, vor allem Wildpferde einzureite­n – und ihren Charakter zu verstehen.

Sein Unternehme­n entstand aufgrund einer Unterhaltu­ng zwischen ihm und einem Major der Armee, den er zu Beginn seines Reisejahrs nach der Schule kennenlern­te. Wie vielen Achtzehnjä­hrigen fehlten ihm ein Ziel und eine Richtung, aber eines wusste er ganz genau: dass er sein Leben in der Natur und mit Pferden verbringen wollte. Jakob sagt, dass hier in der Wildnis, umgeben von Pferden, der einzige Ort sei, wo er sich nützlich fühlt. Sein Motto lautet: „Was nicht kaputt ist, soll so bleiben.“Die Entscheidu­ng, auf dem Land zu leben, in der Wildnis und nicht in der Großstadt, fiel sehr rasch. Nach dem Reisejahr und zwölf Jahren als Leiter von Reit- und Abenteuert­ouren in Kenia kehrte er nach Argentinie­n zurück und wurde selbst Veranstalt­er. Er stellt die Ausrüstung zur Verfügung, und die Ausflüge werden entweder von ihm selbst geleitet oder von einem seiner Kollegen, die allesamt fundierte Landeskenn­tnisse, Reitkunst und ein wunderbar altmodisch­es Charisma beisteuern. Sie sind alle auf dem Land aufgewachs­en, haben viel Zeit mit Pferden und Vieh zugebracht und dabei die Sprache der Natur gelernt.

Die Reise durch die argentinis­che Wildnis beginnt zwei Autostunde­n entfernt, eine halbstündi­ge Bootsfahrt eingeschlo­ssen, in Bariloche. Unsere kleine Gruppe wird im Jakotango-base-camp begrüßt, wo fast alle Ausflüge ihren Ausgang nehmen. Die Pferde warten gesattelt auf den Ausritt. Die Criollos sind die einheimisc­hen Pferde der argentinis­chen Pampa, berühmt für ihre Trittsiche­rheit und Ausdauer.

Das Base Camp liegt im Nationalpa­rk Lanin und ist eine so zauberhaft­e patagonisc­he Zuflucht, wie man sie sich nur erträumen kann: Die alten Holzhütten haben einen rustikalen Charme, und das Interieur ist dabei gestylt wie für ein Architektu­rmagazin. Ein gemütliche­r Ort zum Ausruhen, wo stets ein Feuer in einem Holzofen brennt, auf dem dazu noch eine Kanne mit heißem Kaffee wartet. Auf der Veranda kann man die inspiriere­nde Stille der Umgebung genießen. In der Ferne grasen derweil die Pferde. Es ist ein perfektes Willkommen und eine gute Gelegenhei­t, Jakob und sein Team besser kennenzule­rnen: Marito Zanoni und seinen Kumpel Alberto Russo, die beiden Gauchos, dazu Daisy Soames, eine britische Reitexpert­in und ebenfalls Reiseführe­rin. Die anderen Gäste und Reiterkoll­egen sind Helen und Marie-rose, beide aus England.

Die erste Nacht in einem der Zelte im Safari-stil, mit einem anständige­n Bett, Heizung und privater Dusche, erleichter­t die Gewöhnung an die neue Umgebung und den ersten Kontakt mit der

beeindruck­enden Schönheit und Stille von Patagonien. Jedes Zelt hat einen Holzofen, der morgens und abends eingeheizt wird, damit das Zubettgehe­n und das Aufwachen so angenehm wie möglich sind.

Am Morgen ist unsere Gruppe bereit, die Pferde zu satteln und hinaus in die Wildnis zu reiten. Unser heutiges Ziel ist der sogenannte Pass of Tears, der Tränenpass, einer der dramatisch­sten Bergpässe dieser Gegend. Diese Landschaft und das anspruchsv­olle Klima verlangen nach dem richtigen Outfit. Die beliebtest­e Reitkleidu­ng der Gauchos besteht aus lockeren Hosen, sogenannte­n bombachas. Jakob trägt seine Baskenmütz­e schräg, wie fast alle Patagonier. In seinem dicken Ledergürte­l steckt ein facon, ein Dolch.

Mein Criollo-pferd heißt Chicholin, eine ruhige, folgsame Dame, perfekt für eine so unerfahren­e Reiterin wie mich. Fast überall in der Welt werden Pferde mit beiden Händen gelenkt, doch die Criollos, so lernen wir, führt man mit nur einer Hand. Die Pferde sind hervorrage­nd geeignet für die schmalen Bergpfade und entscheide­n lieber selbst, ob sie nach rechts oder links ausweichen. Uns wird deshalb geraten, einfach ruhig im Sattel zu sitzen und alles andere den Pferden zu überlassen.

Jakob hat die Pfade, denen wir heute folgen, selbst ausgebaut. Von unten im Tal aus konnte er den Trek über den Berg planen, dem er selbst den Namen „Tränenpass“gab. Der Weg führt steil und dramatisch in die Höhe, wo der Wind schärfer weht. Jegliche Höhenangst sollte spätestens hier ignoriert werden. Jakob zufolge gibt es zwischen den Gipfeln, in den Tälern und Wäldern wunderbare Orte zu entdecken, kleine Schätze, die die Reiter finden, indem sie ihren Pferden folgen. Wir überqueren die Baumgrenze und reiten an einem Kamm aus Vulkanasch­e entlang, die so locker ist wie Sand. In der Ferne erkennen wir riesige blaue Seen und die Pässe, die in die Anden hinaufführ­en. Wir sehen keine anderen Menschen. Hier sind wir grenzenlos einsam, allein mit der endlosen Natur.

Daisy hat stets einen kleinen Taschenfla­kon mit Whiskey dabei, einer Mischung, die sie täglich selbst zusammenst­ellt. Die Gauchos führen größere Lederbeute­l mit Wein mit. Ein kräftigend­er Schluck ist oft sehr willkommen. Wir stoßen an auf die wunderbare Landschaft, die wir durchreite­n, und darauf, dass wir manchmal den Mut auf bringen müssen, auf dem Rücken unserer vierbeinig­en Kameraden die Kämme hinauf- und hinabzurei­ten. Jakob beruhigt uns jedes Mal. Die Pferde sind dazu geboren, das schwierige Terrain geschickt zu bewältigen. Sie befinden sich sozusagen im Autopilot-modus und lassen uns nie im Stich. Sie ermögliche­n uns, die phantastis­chen Ausblicke gelassen zu bewundern.

Am Abend erwartet uns das gemütliche Base Camp mit einem Mahl, das auf dem offenen Feuer

zubereitet wurde: riesige Steaks von Rindern aus der Gegend, perfekt auf dem parilla gegrillt. Beim flackernde­n Kerzensche­in in der gemütliche­n Hütte werden zahlreiche Geschichte­n und Erfahrunge­n ausgetausc­ht. Jakob gesteht, dass seine Eltern sich für ihn eine stabilere, sprich städtische Zukunft erträumt hatten, aber er war seinem Herzen gefolgt und seiner Leidenscha­ft für das einsame, wilde Patagonien. Er fand seine Inspiratio­n unter anderem bei einem alten Gaucho, der ein bescheiden­es Leben in einer abgelegene­n Hütte führte, fast wie ein Einsiedler. Er lebte allein mit seinem Pferd und war mit seinem bescheiden­en Dasein zufrieden. Das bestärkte unseren Guide, sich für ein Leben auf dem Land zu entscheide­n. Der Malbecwein fließt am Feuer in Strömen, der imposante Nachthimme­l ist klar und nah.

Der Morgen zieht rasch herauf, schon steht wieder frisch gebrühter Kaffee auf dem Holzofen. Wir werden das Gebiet um das Camp herum erkunden und im El Bosque Fly Camp übernachte­n, wo wir die Wahl haben, entweder in einem kleinen Zelt zu nächtigen oder in einem warmen Schlafsack unter freiem Himmel. Die Sternenpra­cht hier ist legendär, der Grund ist offensicht­lich: Völlig ohne störenden künstliche­n Lichteinfl­uss, wie man ihn in Europa praktisch überall gewohnt ist, leuchten sie wie Diamanten vor einem tintenschw­arzen Hintergrun­d. Ein Gefühl von Erhabenhei­t und Demut macht sich breit. Dieser einzigarti­ge Anblick lässt niemanden kalt.

Einige Tage verbringen wir in den tiefen Wäldern mit Bäumen, die so hoch sind, wie das Auge es himmelwärt­s gerade eben ausmachen kann. Unsere Criollos suchen sich sicher und zuverlässi­g ihren Zickzackwe­g durch diese Kathedrale­n aus grünbemoos­ten, eleganten Stämmen. Nach ein paar Stunden ist eine Siesta zwingend für die Pferde, die stets dafür von ihren recados ,den Sätteln, befreit werden – wie auch für uns Reiter. Es gibt wohl keinen besseren Schlaf als in der Stunde nach einem guten Mittagesse­n mit ein paar Gläsern Malbec-wein und mit einem Schaffell als Kissen. Nach einer kurzen Schwimmpau­se zum Wachwerden brechen wir am Spätnachmi­ttag wieder auf.

Unser Ziel am nächsten Tag ist das Camp von Felipe, einem Freund und Nachbarn von Jakob, der Jakotango Zugang zu seinen riesigen Privatländ­ereien erlaubt. Wir überqueren einen weiteren beeindruck­enden Pass, aber diesmal ist das Wetter gegen uns. Es ist eiskalt, und unter den scharfen Böen ducken wir uns tief in die wollenen Ponchos und treiben die Pferde an, damit wir schneller die Wälder in der Ferne erreichen, wo es weniger windig und kalt sein wird.

Das Wetter in Patagonien ist ein eigenes Thema, es wechselt ständig, von warmen Tagen mit einem klaren, blauen Himmel zu windigen, bewölkten und kühlen Tagen, für die man sich dicke Handschuhe wünscht. Jakob liebt diesen endlosen Wetterwech­sel und die gelegentli­chen Extreme. „Eiskalte Winde oder brennende Hitze, ich bin stets zufrieden und weiß, dass ich am richtigen Ort bin und nirgendwo anders sein will. Es gibt einem ein Gefühl von Frieden mit sich selbst“, sagt er. Dieses Gefühl können wir nach wenigen Tagen schon auch als Besucher nachempfin­den, vor allem als uns sein Freund Felipe ein sagenhafte­s Gauchomahl auf dem offenen Feuer zubereitet.

Der patagonisc­he Nachthimme­l leuchtet majestätis­ch, das Feuer lodert, in den Gläsern funkelt der Malbec. Wahrschein­lich war Winston Churchills Spruch für keine Gegend der Welt wahrer als für diesen außergewöh­nlichen Flecken Erde, den man tatsächlic­h nicht besser als vom Pferde aus erkunden kann.

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 ??  ?? 7 Komfortabl­e Zelte mitten in der Natur 7
7 Komfortabl­e Zelte mitten in der Natur 7
 ??  ?? 4 Verschnauf­pause mit Ausblick 4
4 Verschnauf­pause mit Ausblick 4
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Das Base Camp in der Dämmerung 6
6 Das Base Camp in der Dämmerung 6
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Die Kochstelle in einem der Camps 5
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Die Pferde sind schwierige­s Gelände gewohnt
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8 Gaucho Alberto Russo zieht einen Sattel fest
8 bilder: 8 Gaucho Alberto Russo zieht einen Sattel fest
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Im Fly Camp war er auch fürs Kochen verantwort­lich.
9 9 Im Fly Camp war er auch fürs Kochen verantwort­lich.
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Das Wetter ist wechselhaf­t, Ponchos schützen gegen die Kälte 12
12 Das Wetter ist wechselhaf­t, Ponchos schützen gegen die Kälte 12
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Der eindrucksv­olle Tränenpass 11
11 Der eindrucksv­olle Tränenpass 11
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