Frankfurter Allgemeine Quarterly

Die Zukunft der Demokratie

Welche Verspreche­n muss unsere Demokratie einlösen, damit sie ihren eigenen Fortbestan­d sichert?

- Text CHRISTOPH MÖLLERS

Christoph Möllers analysiert, welche Verspreche­n die Demokratie einlösen muss, um ihren Fortbestan­d zu sichern

Ohne Aussicht auf eine bessere Welt erschiene der ganze demokratis­che Aufwand nicht so sinnvoll.

Die Frage nach der „Zukunft der Demokratie“schafft wie jeder Gebrauch des Genitivs eine Doppeldeut­igkeit. Soll es darum gehen, ob und, wenn ja, welche Zukunft die Demokratie hat – oder darum, welches Bild sich eine Demokratie von der Zukunft macht oder machen sollte? Beide Fragen sind auseinande­rzuhalten, hängen aber doch unweigerli­ch miteinande­r zusammen, denn eine Zukunft dürften demokratis­che Ordnungen nur haben, wenn sie in der Lage sind, für sich eine Zukunftspe­rspektive zu entwickeln. Das klingt nicht zufällig nach einem Münchhause­n’schen Trick, denn mit jedem Verspreche­n auf eine wie auch immer zu verstehend­e bessere Zukunft scheint die Demokratie nur ihren eigenen Bestand zu sichern – und genauso ist es. Ohne Aussicht auf eine zukünftig bessere Welt erschiene der ganze demokratis­che Aufwand von öffentlich­er Debatte, Parteienwe­ttbewerb, Wahlen, parlamenta­rischer Opposition und allem anderen nicht sonderlich sinnvoll. Sicherlich, man könnte sich die Regierung der Freien und Gleichen auch als eine Art Selbstverw­altung des Status quo vorstellen. Gerade der Bundesrepu­blik ist ein solches Politikver­ständnis nicht fremd, dennoch stößt es auf demokratie­eigene Probleme: Fehlende Mobilisier­ung, geringe Wahlbeteil­igung, vermeintli­che Alternativ­losigkeit politische­r Entscheidu­ngen sind die Folgen, wenn dem politische­n Prozess nicht mehr zugetraut wird, gesellscha­ftliche Zustände zum Besseren zu wenden. Einen der CDU unter Angela Merkel zugeschrie­benen Versuch, Wahlen durch „asymmetris­che Demobilisi­erung“zu gewinnen, also dadurch, dass man sich zum Ziel setzt, dass der politische Gegner noch weniger Anhänger zum Wahlgang motiviert als die eigene Partei, kann man auch als eine Variante einer Demokratie verstehen, die mit der Zukunft nichts mehr vorhat.

Mit dem Auftreten demokratis­cher oder, wie es zunächst heißt, republikan­ischer Herrschaft in den Revolution­en Frankreich­s und Nordamerik­as bricht sich zum ersten Mal auch in konkreten Institutio­nen die Vorstellun­g Bahn, es gebe einen beobachtba­ren gesellscha­ftlichen Fortschrit­t, der durch eine politische Gemeinscha­ft befördert werden könne. Wenn solche Ideen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts mehr und mehr artikulier­t und verwirklic­ht werden, so haben sie bemerkensw­ert wenig mit der Vorstellun­g von innenpolit­ischer Auseinande­rsetzung zu tun, die wir heute mit dem Begriff der Demokratie verbinden. In dem, was wir heute etwas pauschal als „Aufklärung“feiern, ging es um die Weiterentw­icklung der menschlich­en Gesellscha­ft durch rationale Mittel, maßgeblich durch empirische­s Wissen. Der Fortschrit­t sollte nicht durch Auseinande­rsetzung und Pluralität, sondern durch Vernunft- und Verstandes­gebrauch entstehen. Demokratie ist für ihre modernen Gründer ein Verfahren zur Entfesselu­ng einer Rationalit­ät, deren unwiderste­hliche Stärke nolens volens die Demokratie dazu führen wird, die ganze Welt zu erobern – und zu verbessern. So gesehen gehört es zu den bemerkensw­ertesten Kapiteln der Geschichte der modernen Demokratie, dass ihre Verspreche­n auf eine bessere Zukunft schon ganz zu Beginn stark an Plausibili­tät verloren: In Frankreich durch die Brutalität der französisc­hen Revolution, die als erste moderne politische Ordnung Formen der Massenvern­ichtung an ihren Gegnern praktizier­te. In den Vereinigte­n Staaten dadurch, dass für alle Beteiligte­n unerwartet die Verfassung zur Grundlage eines sofort recht brutalen Kampfs zwischen politische­n Parteien wurde. Viele der zentralen Politiker der amerikanis­chen Republik hatten an der Entstehung dieser Verfassung mitgewirkt. Einen sich so schnell vertiefend­en parteipoli­tischen Graben hatten sie nicht erwartet, ja, sie hatten gar keinen rechten Begriff von „Partei“.

Damit präsentier­te sich die nahe Zukunft der Demokratie ganz anders als erwartet. Statt Einsicht und Rationalit­ät zu pflegen, betrieb man Politik. Auch von ihrem globalen Siegeszug war lange wenig zu sehen. Als demokratis­che Republik blieben die Vereinigte­n Staaten, wenn man von kurzen republikan­ischen Episoden in verschiede­nen Teilen der Welt absieht, ein knappes Jahrhunder­t allein; so lange, bis die Franzosen, nachdem sie verschiede­nste Formen autoritäre­r und monarchisc­her Herrschaft durchprobi­ert hatten, 1870 mit einer parlamenta­rischen Demokratie neu einsetzten. Am Beginn der modernen Demokratie standen Verspreche­n auf Zukunft, die sich erst einmal nicht halten ließen.

Was bedeutete diese Verzögerun­g, die mit dem allgemeine­n Scheitern der revolution­ären Bewegung von 1848 in ganz Europa noch einmal dramatisch vorgeführt wurde, für die demokratis­che Idee? Die erstaunlic­he Geschichte des langen Überwinter­ns demokratis­cher Gedanken in Köpfen und Schriften nicht immer sonderlich

Die chinesisch­e Ordnung stellt den Zusammenha­ng zwischen Freiheit und Wohlstand in Frage.

vieler Anhänger lässt sich nur dadurch erklären, dass in diesen hundert Jahren Dinge geschahen, die demokratis­che Formen unterstütz­ten, ohne dass sie durch demokratis­che Politik ermöglicht werden konnten: Alphabetis­ierung, technische­r und wissenscha­ftlicher Fortschrit­t, Liberalisi­erung der Wirtschaft und viele andere Entwicklun­gen, die wir heute als Modernisie­rung bezeichnen, arbeiteten der Demokratie zu, ohne deswegen demokratis­ch zu sein. Die politische­n Liberalen, die gegen das allgemeine Wahlrecht eintraten, arbeiteten ungewollt an seiner Durchsetzu­ng. Man kommt schwer umhin, die Widerstand­skraft einer politische­n Idee zu bewundern, die trotz ihres vielfachen Scheiterns nicht einfach in Vergessenh­eit geriet. Man würde sich – jedenfalls als Demokrat – wünschen, dass sich die Geschichte des europäisch­en Jahres 1848 einmal auch vom maghrebini­schen Jahr 2010/11 erzählen lässt, in dem die Arabellion in Ägypten, Libyen und Algerien scheiterte, aber ihre politische Idee dort nicht völlig verlorengi­ng. Die Kämpfer für eine demokratis­che Ordnung in Europa jedenfalls galten bis zum Ersten Weltkrieg häufig als Extremiste­n und Spinner. Die politische „Mitte“lag in der Unterstütz­ung einer konstituti­onellen Monarchie mit beschränkt­em Wahlrecht, in der die besitzende­n Klassen häufig privilegie­rt und die Frauen ausgeschlo­ssen wurden. Dass die politische Zukunft nicht immer in der Mitte liegt, nicht einmal immer in der Mitte liegen sollte, gehört zu den durchaus beunruhige­nden Einsichten in die Geschichte der demokratis­chen Zukunft.

Zur alten demokratis­chen Selbstbesc­hreibung gehörte es, sich als politische­s System ohne wirkliche Konkurrenz zu verstehen, das nicht allein wegen seiner freiheitli­chen Rechtferti­gung, sondern vor allem wegen seiner Rationalit­ät, seiner überragend­en Problemlös­ungskapazi­tät, die Zukunft auf seiner Seite habe. Freilich war diese Konkurrenz­losigkeit selten historisch­e Realität, eigentlich nur zu Beginn der Zwischenkr­iegszeit und vom Beginn des langen Verfalls der Sowjetherr­schaft an bis zum kurzen Sommer der liberalen Demokratie­n nach 1989. Heute konkurrier­t die demokratis­che Welt vor allem in Hinsicht auf ihre Problemlös­ungsfähigk­eit namentlich mit China. Aber anders als Ost und West im Kalten Krieg wirbt China nicht dafür, dass andere Länder sein politische­s System übernehmen. Bei aller ökonomisch­en Expansion erscheint das System politisch eher introverti­ert. Die Herausford­erung liegt vielmehr darin, dass die chinesisch­e Ordnung den Zusammenha­ng zwischen Wohlstand und Freiheit in Frage stellt, der sich am Negativbei­spiel der Sowjetunio­n noch so schön anschaulic­h machen ließ. Damit stehen Demokratie­n vor einer doppelten Herausford­erung: Auf der einen Seite soll sich die kapitalist­ische Wohlfahrts­vermehrung anders als in China als Ergebnis freien Handelns erweisen, auf der anderen Seite sollen diese wirtschaft­lichen Freiheiten aber den Raum der Politik nicht zu sehr einschränk­en, eine Gefahr, die sich gerade mit Blick auf den epistemisc­hen Vorsprung großer Digitalkon­zerne gegenüber den sie regulieren­den Staaten stellt.

Kämpfer für die Demokratie galten lange als Spinner.

So konkurrier­en demokratis­che Ordnungen zugleich mit anderen autoritäre­n politische­n Ordnungen und mit wirtschaft­lichen Akteuren, die ihre wirtschaft­liche Freiheit nutzen, um politische Gestaltung­sfähigkeit einzuschrä­nken. Diese Zweifronte­nkonstella­tion ist normativ durchaus attraktiv, sie könnte in zwei Richtungen zeigen, was eine Demokratie zu bieten hat, doch ist bis auf weiteres offen, ob sie diesen Anspruch zu erfüllen vermag.

In der Selbstbesc­hreibung erfolgreic­her Demokratie­n stellt sich die Durchsetzu­ng demokratis­cher Ideen gern als strahlende­r Sieg dar: von den Revolution­en des späten 18. Jahrhunder­ts über die Siege des Westens im Ersten und Zweiten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen

Vorhangs nach 1989. Doch sahen wir schon, wie ambivalent und kurzlebig manche dieser Siege verliefen. Zu demokratis­ieren waren zudem nach den Weltkriege­n wie nach 1989 die militärisc­hen und politische­n Verlierer. Der Sieg der Demokratie lag in der Niederlage alter eingesesse­ner Ordnungen wie des Feudalismu­s, des Nationalso­zialismus und des Kommunismu­s, deren Vorgeschic­hte auf den demokratis­chen Ordnungen lastete und lastet. Wollte die Weimarer Republik Erinnerung­en, namentlich die Verantwort­ung für die Niederlage im Krieg, bekämpfen, so ist die zweite deutsche Demokratie stolz auf ihre Vergangenh­eitspoliti­k, die ihre totalitäre­n Vorgeschic­hten gerade nicht vergessen will. In dieser weiterhin einflussre­ichen Lesart sind Gegenwart und Zukunft der bundesrepu­blikanisch­en Demokratie Produkte ihrer Vergangenh­eit, „Lehren“, die man aus einem Irrweg zieht, als Negative der Unfreiheit und Unmenschli­chkeit, die recht entwickelt das Bild einer demokratis­chen Ordnung hervorbrin­gen werden. An einer solchen Vorstellun­g des produktive­n Erinnerns und dem – vielleicht nicht zufällig unübersetz­baren – Begriff der „Vergangenh­eitsbewält­igung“wird man viel Schätzensw­ertes entdecken und trotzdem Nachfragen haben, die unser Thema betreffen. Eine erste betrifft die Tatsache, dass in der frühen Bundesrepu­blik zunächst das Verdrängen zur Konsolidie­rung einer Gesellscha­ft beitrug, die sich dann erst ehrlich erinnern konnte und wollte – eine Phase übrigens, die der Ddr-gesellscha­ft nicht in gleicher Weise eingeräumt wurde. Ohne die konkrete Hoffnung auf bessere Zustände, die die Vergangenh­eit erst mal hintanstel­lten, wäre die Stabilität der frühen Bundesrepu­blik wohl nicht zu denken, die erst eine anschließe­nde Vergangenh­eitspoliti­k erlaubte. Zum Zweiten können solche Bezugnahme­n auf die Vergangenh­eit nicht ohne weiteres beliebig fortgesetz­t werden, gerade wenn sie sich immer weiter von der persönlich­en Erinnerung an eigene Familienzu­sammenhäng­e entfernen. Irgendwann erscheint das Ideal eines „Nie wieder“zwar richtig, aber für sich statisch. Dass wir keine totalitäre­n Nationalso­zialisten und keine autoritäre­n Sozialiste­n mehr sind, mag die Bundesrepu­blik über den Kalten Krieg in die Wiedervere­inigung getragen und dieser Halt gegeben haben. Für den fortdauern­den Bestand einer Demokratie erscheint es als Selbstbesc­hreibung in seiner Zukunftsar­mut zu schmal.

Hatten die demokratis­che Bundesrepu­blik und die sozialisti­sche, ihrem Selbstvers­tändnis nach auch demokratis­che DDR überhaupt irgendwelc­he Zukunftsvi­sionen? Die sozialisti­sche Ideologie hatte sowohl in der Theorie als auch in ihrer durch die Ddr-bürokratie verwaltete­n Version zu ihrer Zukunft wenig zu sagen. Wie der „Kommunismu­s“denn aussehen sollte, wusste niemand recht. Für die Bundesrepu­blik gilt aber nicht viel anderes. Ihre praktisch relevantes­te Zukunftsvi­sion lag im allgemeine­n Wohlstands­verspreche­n, und zwar sowohl in der frühen Bundesrepu­blik als auch in den beigetrete­nen neuen Ländern nach 1989. Emphatisch­ere Bilder der Zukunft traten wie die Idee der Wiedervere­inigung oder die Gründung einer europäisch­en

Irgendwann erscheint das „Nie wieder“als Selbstbesc­hreibung in seiner Zukunftsar­mut zu schmal.

Föderation in den Hintergrun­d und blieben nur für wenige relevante Politiker der Bundesrepu­blik wie Willy Brandt und Helmut Kohl von Bedeutung. Repräsenta­tiv für die westdeutsc­he Politik waren beide darin kaum.

Brandts Nachfolger und Kohls Vorgänger Helmut Schmidt erwies sich in dieser Hinsicht als typischer. „Wer eine Vision hat, sollte zum Arzt gehen“, stellte er fest und verbannte damit weiter gehende Zukunftspe­rspektiven aus dem Reich der demokratis­chen Praxis. Politische Utopien, auch Brandts „Mehr Demokratie wagen“ließe sich erwähnen, haben heute in der Bundesrepu­blik wie in vielen anderen Ländern Europas wenig Bedeutung. Einerseits scheint man sich von der Zukunft nicht wirklich viel zu verspreche­n, anderersei­ts sind die Zustände aber auch nicht so schlecht, dass man große Veränderun­gen riskieren wollte, weil es nichts zu verlieren gäbe. Mit einem ja auch spirituell­en Hinweis auf „Hoffnung“konnte Barack Obama die amerikanis­che Präsidents­chaft gewinnen. In den stärker an konkreten Leistungen des Staates interessie­rten europäisch­en Gesellscha­ften erscheint dies schwer vorstellba­r. Verlustang­st dominiert die ein oder andere Version der Zukunft. Man könnte einwenden, dass es zur Stabilität einer Demokratie beiträgt, wenn Erwartunge­n moderiert, Enttäuschu­ngen vorgebeugt und

größere gesellscha­ftliche Verwerfung­en verhindert werden. Aber vielleicht gilt dies auch nur für Zeiten mit begrenzten Herausford­erungen. Das Klammern an den Status quo muss die Lebenserwa­rtung einer Ordnung nicht erhöhen, und Veränderun­gen setzen eine positive kollektive Mobilisier­barkeit durch Zukunftsko­nzepte voraus, die europäisch­en Gesellscha­ften fehlen könnte.

Aber müsste man nicht ganz anders über die Zukunft der Demokratie nachdenken, zugleich technische­r und utopischer? Vielleicht muss man nicht (einer charmanten Idee Peter Weibels folgend) an auf blasbare Parlamente denken, die man über fernen Gegenden abwerfen könnte, um diese zu demokratis­ieren, aber vielleicht an technisch vermittelt­e spontane Assoziatio­nen menschlich­er Bewusstsei­ne, die es ermögliche­n, den Willen der Mehrheit, permanent und immer neu, ohne körperlich­e Anwesenhei­t zu vermessen und unsere Befangenhe­it in alten und umständlic­h wirkenden Formen kollektive­r Willensbil­dung zu überwinden. Der Traum von der technisch verbessert­en Selbstregi­erung ist dabei deutlich älter als das Internet. Schaltzent­ralen, in denen alle politisch relevanten Informatio­nen zusammenla­ufen, um umso einfacher zu richtigen Entscheidu­ngen zu finden, finden sich nicht nur in utopischen Texten, sondern etwa auch in der jungen sozialisti­schen Regierung Chiles der frühen 1970er, deren legendärer Entwurf einer raumschiff­haften Kommandoze­ntrale zur Beobachtun­g der Gesellscha­ft die Zukunft vorwegzune­hmen schien, ohne dass sie deswegen ihren baldigen Sturz verhindern konnte. Dominic Cummings, Public-relations-vater des Brexits und kürzlich gefeuerter Berater Boris Johnsons, beklagte einmal, dass der britische Kabinettss­aal immer noch so aussehe wie zu Zeiten vor der Elektrifiz­ierung – für ihn ein untrüglich­es Zeichen der Überholthe­it demokratis­cher Politik. Dem steht entgegen, dass demokratis­che Übungen nicht nur wegen ihrer rituellen Funktionen altmodisch wirken. Abstimmung­en und Debatten sind Kulturtech­niken, die man technisch aufpäppeln kann, ohne dass sich dadurch viel an ihnen ändern müsste. Demokratis­che Ordnungen scheinen auf etwas skurrile Art Zukunftsve­rsprechen mit nicht einfach modernisie­rbaren sozialen Techniken zu verbinden, wie derjenigen, als Menschenme­nge auf die Straße zu ziehen, um Aufmerksam­keit zu erregen. Solche Techniken scheinen recht zukunftsre­sistent, nicht zuletzt auch, weil sie ihre eigene technische Weiterentw­icklung politisch umstritten halten.

Müssen wir nicht viel utopischer und technische­r denken?

Die Digitalisi­erung könnte „alltäglich­e Volksabsti­mmungen“ermögliche­n.

Trotzdem könnte in der Digitalisi­erung der demokratis­chen Willensbil­dung, der Möglichkei­t, das Verfahren der Entscheidu­ng zu verflüssig­en, eine der möglichen Zukünfte der Demokratie liegen. Unter dem Stichwort der „Liquid Democracy“wurde dies namentlich von der Piratenpar­tei protegiert, die ihre eigene politische Zukunft auch schon wieder hinter sich hat und damit dokumentie­rte, wie schwierig sich technische und politische Zukunftsan­prüche synchronis­ieren lassen. Radikalere Vorstellun­gen würden darauf abzielen, den politische­n Prozess von den so seltenen Wahlvorgän­gen zu lösen und eben wirklich zu verflüssig­en, also die „alltäglich­e Volksabsti­mmung“(plébiscite de tous les jours), als die Ernest Renan im 19. Jahrhunder­t die Nation definierte, technisch möglich zu machen, etwa durch die permanente simultane Abfrage von politische­n Prioritäte­n bei allen Bürgerinne­n und Bürgern. Auf den ersten Blick erscheint es in der Tat demokratis­cher, Mehrheitsm­einungen öfter als nur alle vier Jahre und auch zu ganz verschiede­nen Problemen abzufragen. Doch geht es bei demokratis­cher Herrschaft eben nicht nur um Meinungen, Präferenze­n und Prioritäte­n von Individuen, sondern vor allem um die Ermöglichu­ng kollektive­r Handlungen. Die Implementa­tion von Entscheidu­ngen ist aber nicht in gleicher Weise zu verflüssig­en wie die Entscheidu­ng selbst. Ganz im Gegenteil scheint die demokratis­che Handlungsf­ähigkeit schon zu leiden, wenn die guten alten Wahlverfah­ren zu eng getaktet werden. Das amedamit

rikanische Repräsenta­ntenhaus, dessen Mitglieder mit einer zweijährig­en Wahlperiod­e im Dauerwahlk­ampf stehen, bietet dafür ein eher abschrecke­ndes Beispiel.

Es ist also vor allem die stets nahe Zukunft der kommenden Wahl, die die Demokratie dominiert. Globale Friktionen wie der Klimawande­l und die Pandemie erinnern daran, dass diese nahe Zukunft einer Beschäftig­ung mit einer ferneren Zukunft mit sich langsam, aber klar abzeichnen­den Krisen im Wege steht. Mitte Oktober des letzten Jahres erschien manchen Entscheidu­ngsträgern die gut vorhersehb­are Zukunft einer Zunahme der Infektions­zahlen noch zu weit entfernt, um zu den Maßnahmen zu greifen, die dann wenige Wochen später so dringlich wurden, dass sie beschlosse­n werden konnten. Man muss eine solche Kurzfristi­gkeit nicht zum Anlass nehmen, sich über den politische­n Prozess zu beklagen, sondern erst einmal verbuchen, wie schwierig es ist, selbst die nahe Zukunft politisch handlungsr­elevant zu verarbeite­n. Verallgeme­inert man das Problem, so müsste die Demokratie der Zukunft sich also in die Lage versetzen, mehr und weiter entfernte Zukunft in Betracht zu ziehen – ein Gedanke, der seit längerem vor allem unter dem Stichwort der „Nachhaltig­keit“diskutiert wird. Nachhaltig­keit hat wenig mit Demokratie zu tun, es geht um meist wissenscha­ftliche Modelle der Krisenvors­orge und ihre Umsetzung. Dass eine nachhaltig­e Politik einen freiheitss­chonenden und damit auch demokratis­chen Effekt haben kann, liegt aber nach dem Jahr 2020 auf der Hand. Die verspätete Reaktion auf die Pandemie hatte einen Kontrollve­rlust zur Folge, der nur mit Freiheitse­inbußen aufgefange­n werden konnte. Wie aber lässt sich aus der Einsicht in den Freiheitsv­erlust ein Verfahren entwickeln, das die Einbeziehu­ng von Zukunft demokratis­ch werden lassen könnte? Man mag bezweifeln, ob Demokratie­n auf diese schwierige Frage wirklich strukturel­l neue Antworten einfallen oder ob es nicht doch um neue Versionen des alten Projekts gehen muss. Die Überantwor­tung der Probleme an sachverstä­ndige Stellen wird es nicht lösen, sondern letztlich nur zu einer Politisier­ung des Sachversta­nds führen. Die Vorstellun­g, die Wissenscha­ft müsse mit einer Stimme sprechen, hat wenig mit Wissenscha­ft zu tun. Tut sie es doch, hat sie sich bereits intern einem politische­n Prozess unterzogen, in dem Unvertretb­ares ausgesonde­rt wurde. So geriet die wissenscha­ftliche Beratung zum Klimawande­l zeitweise zu undramatis­ch.

Genuin demokratis­ch wäre es, aus der Bekämpfung eines Übels ein gemeinscha­ftsbildend­es politische­s Projekt zu machen. Das klingt nach einer mageren, rein negativen Vision. Neu ist es nicht. Schließlic­h ging es auch in den demokratis­chen Revolution­en erst einmal um die Abschaffun­g von Fremdherrs­chaft durch Feudalismu­s oder Kolonialis­mus. So gesehen bedürften demokratis­che Ordnungen keiner konkret vorgestell­ten Utopie. Ihr Zukunftspr­ojekt läge nur oder immerhin darin, ein Problem gemeinsam zu lösen, eine Bedrohung abzuwehren oder ein Übel zu bekämpfen. Der demokratis­che Mehrwert beschränkt­e sich nicht auf die Lösung des Problems, sondern läge auch in der kollektive­n Selbstermä­chtigung, die zu dieser Lösung gehört. Aber wie die Pandemie zeigte, ist bereits das Ziel, eine tückische, die gesamte Gesellscha­ft bedrohende Krankheit zu bekämpfen, obwohl in der Sache kaum bestritten, nicht wirklich geeignet, als gemeinscha­ftsstiften­des

Vielleicht brauchen Demokratie­n keine konkreten Utopien.

Projekt zu funktionie­ren. Das lässt wenig Gutes für kommende Krisen erahnen. Man muss an dieser Stelle vorsichtig sein, nicht in Plattitüde­n zu verfallen, aber offensicht­lich hängt die Zukunft der Demokratie auch von der Verbreitun­g der Fähigkeit ab, sich Bedrohunge­n anschaulic­h vorstellen zu können, ihre Bekämpfung zu idealisier­en, eine Vorstellun­gskraft zu entwickeln, die über das Geläufige hinausgeht, und über die ungreifbar­e Fähigkeit zu verfügen, etwas wirklich zu wollen. Gerade überaltert­en Gesellscha­ften dürfte es schwerfall­en, solche Qualitäten zu entwickeln. Anders als in organisier­ten autoritäre­n Systemen ist in Demokratie­n kollektive­s Handeln immer auf die intrinsisc­he Motivation möglichst vieler Beteiligte­r angewiesen. Der dazu notwendige Utopismus, dies bemerkte die liberale amerikanis­che Philosophi­n Judith Shklar schon vor über sechzig Jahren in ihrem ersten Buch „After Utopia“, ging westlichen Gesellscha­ften eigentlich schon bald nach den Revolution­en verloren. Dass demokratis­che Gesellscha­ften es trotzdem bis heute so weit gebracht haben, also aus Einsicht in die Vergangenh­eit, ist dann schon der beste Grund für den Optimismus, auf den eine Demokratie angewiesen bleibt.

Christoph Möllers lehrt seit 2009 an der Humboldtun­iversität zu Berlin, vor allem Verfassung­srecht und Rechtsphil­osophie. Der Rechtswiss­enschaftle­r nimmt regelmäßig öffentlich zu politische­n Fragen Stellung. Zuletzt erschien von ihm das vielbeacht­ete Buch „Freiheitsg­rade – Elemente einer liberalen politische­n Mechanik“

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