Frankfurter Allgemeine Quarterly
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Was „Klasse“in Deutschland heute bedeutet: Ein Gespräch über Armut, Chancen und Revolutionsromantik mit Christian Baron und Olivia Wenzel
Was „Klasse“heute in Deutschland bedeutet: Ein Gespräch über Armut, Chancen und Revolutionsromantik
Wie stark ist in Deutschland die Klassengesellschaft ausgeprägt? Mit literarischen Mitteln geben darauf 14 Autorinnen und Autoren wie Clemens Meyer, Olivia Wenzel oder Bov Bjerg in „Klasse und Kampf “(erscheint am 29. März im Claassen Verlag) sehr persönliche Antworten. Ihre auf eigenen Erfahrungen basierenden Erzählungen zeichnen eine Realität, die es nach allgemeiner Auffassung so eigentlich gar nicht geben dürfte und die viele nicht wahrhaben wollen. Über das Leben am unteren Ende der sozialen Skala und was daraus folgt sprachen wir mit Bestsellerautor Christian Baron, Mitherausgeber von „Klasse und Kampf “, aufgewachsen in Kaiserslautern, sowie der Theaterautorin und Schriftstellerin Olivia Wenzel, aufgewachsen bei Weimar.
FRANKFURTER ALLGEMEINE QUARTERLY: Wie oft müssen
Sie an Ihre Herkunft denken?
CHRISTIAN BARON: Jeden Tag, wenn ich mit meiner Tante telefoniere und wir Pfälzisch sprechen. Die Sprache ist seit Studientagen so eine Abgrenzungsmarkierung, da fing um mich herum das Gekicher an, wenn ich nicht Hochdeutsch geredet habe, obwohl ich das ja konnte. Unangenehm war auch das Gefühl in Redaktionskonferenzen, wenn ich mir unsicher war, ob ich überhaupt hier hingehöre, wenn andere so selbstbewusst über Politik- und Wirtschaftsfragen diskutierten. Da war diese Angst vor dem Ertapptwerden, auch in Uni-seminaren. Die Scham, die man erfährt, wenn man in Armut aufwächst, die wird man anscheinend nie los.
OLIVIA WENZEL: Die Angst, aufzufliegen, kenne ich auch. Ich komme aus einer Familie mit wenig Geld, aber mit Bildung, trotzdem gab es immer die Angst, in irgendeiner Form nicht gut genug zu sein. Was Herkunft angeht: Mir wird ja oft unterstellt, nicht deutsch zu sein, weil ich nicht weiß bin. Es gibt immer noch Leute, die fragen, wo ich denn eigentlich herkomme, warum ich so gut Deutsch spreche, das ist nervig, das beantworte ich mittlerweile nicht mehr. Mein Thüringisch habe ich mir abtrainiert, ohne es zu merken. Das war, als ich in Niedersachsen anfing zu studieren und damit konfrontiert war, dass Leute immer wieder irritiert auf meinen Dialekt reagierten. Dass es schwarze Ostdeutsche gibt, ging über die Vorstellungskraft vieler hinaus.
FAQ: Welche Rolle spielte Geld bei Ihnen?
BARON: Geld war in meiner Familie zentral. Jeden Tag musste man gucken, wie man über die Runden kommt. In meiner Familie weiß jeder, was ein Liter Milch oder ein Pfund Butter kostet. Und bei der Wunschvorstellung, wie man gerne leben will, war das auch ein wichtiger Punkt. Als mein Großvater hörte, dass ich als Journalist in Berlin weniger verdiene als er in seinen besten Zeiten als Zimmermann, hat er gefragt: Wofür dann das Studium und alles?
WENZEL: Dauernd über Preise sprechen, auf Preise achten, streng haushalten, das war bei uns normal. Mir hat mal jemand gesagt, du bist angekommen, wenn du beim Einkaufen nicht mehr auf jeden Preis schauen musst. Jetzt lege ich manchmal im Supermarkt einfach Sachen in meinen Korb und denke: Ich habe es geschafft. (lacht)
BARON: Später, als ich mal nachts Bekannten von der Uni mit Geld für einen Döner ausgeholfen habe und die fünf Euro ein paar Tage später zurückhaben wollte, wurde das als Pfennigfuchserei ausgelegt. Aber ich brauchte das Geld, weil ich mir sonst nichts mehr zu essen leisten konnte.
WENZEL: Das prägt. Ich bestelle mir perverserweise manchmal als Belohnung bei Zalando Pakete für Hunderte Euro, auch wenn ich nur was für 30 Euro behalte, aber da ist das Gefühl, ich kann das erst mal alles bei mir haben, ich kann das vorstrecken.
FAQ: Wenn es um Armut geht, ist sofort von Scham
die Rede. Warum?
WENZEL: Ich wusste als Kind manchmal nicht, schäme ich mich gerade dafür, dass meine Mutter zu Fuß mit so einem seltsamen Rucksack einkaufen geht, während alle anderen Kinder in Einfamilienhäusern wohnen und Autos haben, oder dafür, dass wir nicht genug Geld haben, damit ich mit den anderen ins Kino gehen kann, oder dafür, dass ich schwarz bin und dass das schwarze Kind nicht mit ins Kino kann? Heute bin ich immer noch leicht zu verunsichern, wenn ich in der Öffentlichkeit auf sehr eloquente Menschen treffe, aber es gibt keine Scham mehr für mein Aussehen oder Aufwachsen.
BARON: Die Scham kommt daher, dass es eine Beschämung von Armut gibt. Das zentrale Versprechen der Gesellschaft lautet: Du kannst „es“aus eigener Kraft schaffen, auch wenn alle Studien das Gegenteil beweisen. Der Umkehrschluss heißt: Wenn du arm bist, bist du selbst daran schuld. Nachsicht dürfen höchstens die erwarten, die, wie man sagt, „unverschuldet verarmt“sind. Armen Menschen wird eine Schuld eingeredet, die manche von ihnen annehmen, weil im Konzept der Schuld ein Rest an Aktivität drinsteckt, Scham dagegen erleide ich nur. Schuld und Scham sind das Duo, das Armut strukturiert.
FAQ: Haben Sie Erfahrungen mit „Klassismus“gemacht,
der Ausgrenzung wegen Ihrer sozialen Herkunft?
WENZEL: Ich bin nicht in der Lage, festzustellen, wann ich aufgrund meiner Klasse ausgegrenzt werde, weil meine Hautfarbe immer zuerst kommt, wenn es um Ausgrenzung geht.
FAQ: Sie beschreiben in „Klasse und Kampf “ein „Fremdsein, das nichts mit Hautfarbe zu tun hat, sondern mit Codes, mit unsichtbaren Grenzen und Geld“.
WENZEL: Das sind sehr feine, unsichtbare Trennlinien, wenn ich bestimmte Codes nicht kenne, etwa bei einer Einladung zu einem teuren Dinner nicht weiß, welche Gabel, welches Messer zuerst. Aber ich glaube nicht, dass die Leute mich deswegen nicht wieder einladen würden.
FAQ: Herr Baron, wann sind Sie zuletzt ausgegrenzt worden?
BARON: Ich gelte als Aufsteiger und habe eher das Gefühl, zumal ich mich meist in einer eher linken Blase bewege, positiv diskriminiert zu werden: Du bist unser Maskottchen, wir zeigen, dass wir auch Menschen, die „von unten“kommen, integrieren können. Aber das Unverständnis für die Verhältnisse, aus denen ich stamme, bleibt.
FAQ: Wen oder was meinen Sie, wenn Sie über Klasse sprechen? Das Proletariat nach Karl Marx? Oder nur Arme? Im Text von Francis Seeck heißt es: „Ich bezeichne meinen Hintergrund als Armutsklasse.“
WENZEL: Ich denke in diesen Zeiten vor allem an diejenigen, die nicht das Privileg haben, im Homeoffice arbeiten zu können, und die dazu schlecht bezahlt werden: also Menschen in Pflegeberufen, Paketboten, Busfahrer, Müllmänner, dazu all die Migranten, die etwa in der Fleischindustrie noch schlechter bezahlt werden als ihre deutschstämmigen Kollegen.
BARON: Der Begriff der Klasse ist uns wichtig, weil man nicht oft genug auf die Tatsache hinweisen kann, dass wir in einer Klassengesellschaft leben. Ich würde mich und jeden, der nichts zu verkaufen hat als seine Arbeitskraft, als Teil der Arbeiterklasse bezeichnen, also die Mehrheit der Bevölkerung. Innerhalb dieser Klasse gibt es Spaltungslinien und „feine Unterschiede“.
FAQ: Das Aufstiegsversprechen ist zentral in unserer Gesellschaft. Wenn man „von unten“kommt, was erwartet man am Ende der Leiter?
BARON: Für meine Familie war das Ziel immer ein Lebensstandard, bei dem man sich keine Sorgen mehr machen muss, dass man Reserven zur Seite legen kann, und keine Angst hat, Alltagsrechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Alle sollen heute etwas Besonderes sein, uns aber ging es darum, „normal“zu sein. Das utopische Ziel war, die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen.
WENZEL: Bei uns nicht. Ich wurde sehr links sozialisiert. Der Kapitalismus galt als scheiße, meine Mutter wollte, dass wir eine gute Zeit haben und uns nicht so abhängig machen von finanziellen Sachen. Wir haben lange Sozialhilfe bezogen, mit der sie sehr gut gewirtschaftet hat, dazu hat sie hier und da wohl noch getrickst.
FAQ: Sie beide könnte man auch als Bestätigung nehmen: Das Aufstiegssystem funktioniert, Sie haben es geschafft!
BARON: Diese Sicht macht mich wütend. Selbst wenn ich ein kleiner Einstein gewesen wäre,
hätte ich ohne die massive Hilfe von anderen den Weg aus der Armut nicht geschafft. Deswegen bin ich kein Beweis dafür, dass „es“jeder schaffen kann. Es ist wie beim Lotto: Die Gewinnchancen sind irrsinnig gering, aber trotzdem spielen Millionen mit, nur weil doch mal einer gewinnt. Genau so sind wir die Ausnahmen, die die Regel bestätigen.
WENZEL: Es gibt gerade Aufmerksamkeit, Anerkennung und Prestige, aber mein Einkommen ist im Vergleich zu einem Facharbeiter immer noch lachhaft. Und ich kenne nur sehr wenige nichtweiße Menschen, die von ihrer künstlerischen Arbeit leben können.
FAQ: Wie denken jene über Sie, deren Milieu Sie verlassen haben?
WENZEL: Wenn ich aus meiner Kulturblase nach Thüringen reise, merke ich, dass ich vieles von dem ablehne, was mir einmal nahe war. Da sind die Großeltern, die mich für arrogant halten, weil ich mit ihnen darüber diskutieren will, was man heute nicht mehr sagen sollte. Da prallen Welten und politische Haltungen aufeinander. Ich spüre manchmal, dass sie glauben, dass ich verrate, wo ich herkomme.
BARON: Lange Zeit galt ich als Verräter, weil ich in Berlin das Leben lebe, das ich leben will, wenn auch nicht mit dem Einkommen, das sich alle zu Hause vorgestellt haben, während mein Bruder, der nicht weniger schlau ist, mit seinem Hauptschulabschluss nicht den Beruf ergreifen und das Leben erreichen konnte, das er sich erträumt hat. „Dir wurde alles hinten reingesteckt“, wurde mir vorgeworfen. „Du machst dich aus dem Staub und lässt uns hier zurück.“Auf der anderen Seite äußert meine Familie auch immer wieder ganz großen Stolz auf mich. Das geht hin und her.
FAQ: Wie stolz macht das Gefühl, es geschafft zu haben?
WENZEL: Der richtige Aufstieg für mich war das Verlassen des Geburtsortes in Thüringen, in ein komplett anderes Milieu zu kommen. Als ich an der Uni im Westen merkte, hier kann ich alles ausprobieren, eine andere Person und frei sein. Mein damaliger Freund ist mitgezogen. Der saß mittags arbeitslos im Unterhemd beim Bier, wenn ich nach Hause kam, und sagte: Scheißstudenten, während ich ihm vom Brecht-seminar vorschwärmte. Das Ende dieser Beziehung war eine Befreiung und der letzte Bruch mit meiner sozialen Herkunft.
FAQ: Wie sicher fühlt sich heute Ihr Status an?
BARON: Wahnsinnig labil. Das ist auch eine
„Mir hat mal jemand gesagt, du bist angekommen, wenn du beim Einkaufen nicht mehr auf die Preise achten musst. Jetzt lege ich im Supermarkt manchmal Sachen in den Korb und denke: Du hast es geschafft!“
Generationenfrage, alle in meinem Alter erfahren heute weniger Sicherheit als die Älteren. Trotzdem: Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben, auch wenn die Abstiegsangst jeden Tag spürbar ist.
WENZEL: Dass ich irgendwann einen gravierenden Statusverlust erleben werde, fühlt sich nicht beängstigend an, sondern wie eine unumgängliche Tatsache. Gerade gibt es ein bisschen Öffentlichkeit, mein Buch läuft noch, aber klar werden auch wieder ganz andere Zeiten um die Ecke kommen.
FAQ: Viele haben es einfacher als Sie, weil sie geerbt haben oder in besser situierten Familien groß geworden sind. Was spüren Sie denen gegenüber?
WENZEL: Sozialneid ist natürlich ein Thema. Wenn man sieht, wer was erbt oder dass das oberste Zehntel in Deutschland gut zwei Drittel des Nettogesamtvermögens besitzt oder das reichste Prozent sogar mehr als ein Drittel, das kotzt mich schon an. Fast noch mehr regt mich auf, dass es so wenig Leute ärgert. Wegen ein paar armer Refugees bildet sich schnell irgendwo ein wütender Mob, aber nicht bei dieser existentiellen Ungerechtigkeit.
FAQ: Anscheinend finden die Leute die Verhältnisse
nicht so ungerecht wie Sie. Wie erklären Sie sich das?
WENZEL: Weil immer noch die Maxime gilt: Häufe so viel an, wie es geht, dann hast du es geschafft, das ist allen eingeimpft, auch vermeintlich aufgeklärteren Menschen. Und es gibt so viel Abstumpfung, Ermüdung und eine eigenartige Resignation, das führt zu mangelnder Empathie. Ich finde die Idee eines Vermögenslimits für alle gut, weil kein Mensch Millionen braucht und ausgeben kann.
BARON: Ich finde Sozialneid nach oben nicht verkehrt, er ist mir lieber als der Neid nach unten, wenn man Ärmeren nicht den Dreck unter den Fingernägeln gönnt. Sartre meinte mal sinngemäß: Um die Menschen zu lieben, muss man hassen, was sie unterdrückt, nicht, wer sie unterdrückt. Eine Vermögensabgabe für Superreiche fände ich gut, aber nur das obere Prozent zu attackieren ist sehr wohlfeil.
FAQ: Was meinen Sie?
BARON: Ich ecke immer stark an in meinem linken Freundeskreis, wenn ich frage, warum es überhaupt Erbschaften geben muss: Wieso soll das Zufallskonstrukt Familie entscheiden, welche Lebenschancen jemand hat? Ich würde ein Limit setzen und Erbschaften ab 100 000 Euro zu 100 Prozent besteuern, allerdings nur in einer Gesellschaft, in der diese Gelder auch
wirklich denen zugutekommen, die sie brauchen.
WENZEL: Hast du mal überlegt, in die Politik zu gehen?
BARON: Auf keinen Fall, ich hätte da bestimmt keinen Erfolg mit meinen Forderungen, aber sie liegen nun mal in meinem Klasseninteresse. (lacht)
FAQ: Erbschaften spielen auch eine Rolle in gutsituierten linksliberalen Milieus wie dem des Berliner Prenzlauer Bergs, das Schriftstellerin Anke Stelling in „Schäfchen im Trockenen“so böse beschrieben hat.
BARON: Sosehr ich jemand wie Friedrich Merz unangenehm finde: Der tut immerhin nicht so, als rede er für die ganz unten. Und dann gibt es Milieus, in denen eine linke Flüchtlingspolitik befürwortet wird, die ihre eigenen Kinder aber wegen der vielen Migrantenkinder lieber nicht in die Brennpunktschule schicken. Deren Moralismus stößt mich ab.
FAQ: „Klasse und Kampf“klingt nach alter Revolutionsromantik. Träumen Sie von einer Revolution?
WENZEL: Dafür habe ich während der Schulzeit und des Studiums lange gebrannt: Wir müssen was Grundsätzliches ändern, ganz radikal, aber mittlerweile bin ich in der Bürgerlichkeit angekommen und hab es mir bequem gemacht.
BARON: Wegen des starken Rechtspopulismus halte ich jede Revolutionsromantik aktuell für sehr gefährlich. Man muss Mehrheiten und wieder eine Sozialdemokratie auf die Beine stellen, die diesen Namen verdient. Und den Grundkonsens schaffen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, das leugnen noch immer erstaunlich viele.
WENZEL: Und im Kleinen Dinge verändern. Beim Theater darauf achten, dass nicht nur an weiße Leute gedacht wird. Oder wie Christian, der dafür gesorgt hat, dass alle Autor_innen der Anthologie gleichmäßig am möglichen Gewinn beteiligt werden.
BARON: Das sind Revolutiönchen, die uns vielleicht
auch weiterbringen.
FAQ: Schorsch Kamerun schreibt in Ihrer Anthologie „Klasse und Kampf“: „Das autoritäre Gegenüber ist jedoch längst gewandelt. So klar nicht mehr vorhanden.“Wer ist Ihr „Klassenfeind“oder Gegner?
BARON: Nicht Elon Musk oder Friedrich Merz als Personen sind Probleme für uns, sondern das, wofür sie stehen, die Klassengesellschaft. Der Feind ist die soziale Spaltung, auch wenn jetzt fünf Euro fürs Phrasenschwein fällig sind.
FAQ: Sie verstehen sich als links und stellen die Klasse in den Mittelpunkt. Viele Linke setzen derzeit andere Schwerpunkte. Die Schriftstellerin Zadie
„Die Linke ist so stark in die Defensive geraten, dass sie fast nur noch in der Identitätspolitik echte Erfolge erzielen kann. Diese Kämpfe werden deshalb überbetont. Sie sind wichtig, aber es muss immer auch um Verteilung gehen.“
Smith beklagte mal in der F.A.S., dass sie die Linke immer als Massenbewegung gesehen habe, die für alle eintrete, und sie nicht verstehe, wie man so viel Energie etwa in den Kampf um Toiletten für Transgender investieren könne, „die wahrscheinlich ein Prozent der Gesellschaft ausmachen“. Und Sahra Wagenknecht kritisiert in ihrem neuen Buch „Die Selbstgerechten“einen Linksliberalismus, der die Gesellschaft weiter spalte, weil er sich nur für das eigene Milieu interessiere – Stichwort etwa „Gendersternchen“– und die Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft ignoriere.
WENZEL: Das klingt nach Opferkonkurrenz, diesen Mechanismen darf man sich nicht hingeben, weil genau die zu Spaltung führen. Wenn wir darüber reden, ob es Toiletten für Transgender geben soll, müssen wir auch darüber reden, wer nachher die Toiletten putzt. Und für welchen Lohn. Für mich sind der Kampf für Transgender oder eine diskriminierungsfreie Sprache zwei medial überbetonte Spitzen desselben Eisberges. Ein anderer Eisberg ist die Armut. Diese Eisberge sollten nicht konkurrieren. Manche Menschen sind von beidem betroffen, von Diskriminierung als Minderheit und von Armut.
BARON: Die Linke ist so stark in die Defensive geraten, dass sie fast nur noch in der Identitätspolitik echte Erfolge erzielen kann. Diese Kämpfe werden deswegen überbetont. Das ist ein strategisches Problem, der Analyse stimme ich voll zu. Identitätspolitik ist wichtig, aber es geht immer auch um Verteilung.
FAQ: „Klasse und Kampf “– wohin soll die Reise gehen?
BARON: Mein Ziel ist eine klassenlose Gesellschaft, in der nicht der Zufall über Lebenschancen bestimmt. In der keine Angst vor Armut herrscht, weil es keine Armut mehr gibt. In der jeder die Möglichkeit hat, Abitur zu machen und danach Soziologin oder Altenpfleger zu werden, weil er in beiden Fällen angemessen bezahlt wird.
WENZEL: Ich war öfter an Schulen und habe gesehen, dass viele Kids nicht mehr daran glauben, aufsteigen zu können. Bildung ist der Schlüssel, und es fließt immer noch viel zu wenig Geld dorthin. Man könnte über Quoten nachdenken, damit Leute aus anderen sozialen Schichten bessere Chancen bekommen. Aber ich habe keine Patentrezepte. Es geht um eine Gesellschaft, in der Arme nicht mehr verachtet und alle Menschen als gleichwertig betrachtet werden.
BARON: Wir wollen eine Gesellschaft, in der man Bücher
wie unseres nicht mehr braucht.