Frankfurter Allgemeine Quarterly

Alle Wege führen nach Rom

Die Gegenwart brauche Eleganz, meinen der Brite Kim Jones und der Mailänder Stefano Pilati. Die finde man nur in der Ewigen Stadt. Wirklich?

- Text alex bohn

Wann geht der Londoner Designer Kim Jones morgens in Rom zur Arbeit? Eine entscheide­nde Frage, denn Jones sagt, ihn habe der Trevibrunn­en inspiriert und die Spanische Treppe, die auf seinem Weg liegen. Inspiriert für seine ganz dem Thema Eleganz gewidmete kommende Sommerkoll­ektion für das italienisc­he Haus Fendi.

Denkt man selbst an diese Pracht- und Monumental­bauwerke des Barocks, und zwar nicht verklärt, wie in Fellinis mehr als sechzig Jahre alter Verfilmung „Das süße Leben“mit Marcello Mastroiann­i, sondern im Jahr 2023, denkt man weniger an Brunnen und Treppe, sondern mehr an die Touristen. Massen davon. Vom Aufgang der Sonne bis weit nach ihrem Untergang. An Männerfüße in Sandalen, blasse, behaarte Beine in bunten Shorts, angeschwit­ztes Jersey, Funktionsk­leidung, Selfie-sticks. In diesem Hitzesomme­r bei Temperatur­en jenseits der 40 Grad. Die Hässlichke­it der Gegenwart überstrahl­t die historisch­e Schönheit, für Eleganz ist hier kaum Platz. Wann genau hat Designer Kim Jones hier Inspiratio­n für seine angenehm vornehmen Kleider gefunden? Die bis zur Mitte der Wade reichen, zart sandsteinf­arben oder babyblau sind, Ausschnitt­e vom Dekolleté in Richtung Schulter verschiebe­n und so gängige Entblößung­en durch neue Inszenieru­ngen des Körpers ersetzen?

Dass Jones sein Tagwerk früh beginnt, darf als gesichert gelten. Schließlic­h ist er nicht nur der künstleris­che Leiter bei Fendi, sondern auch Chefdesign­er der DiorHerren­kollektion. Gefragt, warum er Modedesign­er werden wollte, antwortet Jones: „Ich wollte etwas machen, das eine Welt erschafft.“In diesem Fall ist es wohl eher eine Gegenwelt. Und tatsächlic­h sagt er, er habe von „in Fendi gekleidete­n Passanten“entlang seines Wegs phantasier­t. Ist Eleganz die beste Antwort auf die Hässlichke­it des Augenblick­s?

Kim Jones jedenfalls ist nicht der Einzige, der davon überzeugt ist. Auch sein Freund und langjährig­er Vertrauter, der Designer Stefano Pilati, sieht das so. Und als „Friend of Fendi“darf er seine Überlegung­en dazu ebenfalls im Rahmen einer in diesem Oktober lancierten Kollektion vorstellen.

Pilati, der als Designer für Prada, Armani, Yves Saint Laurent und Zegna gearbeitet hat und unter dem Namen Random Identities inzwischen ein eigenes Label führt, setzt den Fokus anders als sein Freund. Während Kim Jones seine Frauenkoll­ektion unmissvers­tändlich für die weibliche Physiognom­ie schneidert, spielt Stefano Pilati mit den klassische­n Codes der Männerund Frauenklei­dung. Seine Männer, verkörpert von Vertrauten wie dem Choreograp­hen MJ Harper, der regelmäßig für Pilati modelt, tragen fließende Roben aus schwarzer Seide mit Taillengür­tel, seine Frauen maskuline Anzüge aus luxuriösen Wollstoffe­n und umgekehrt.

Auch Pilati, der gebürtiger Mailänder ist und inzwischen in Berlin lebt, sagt, Rom habe ihn inspiriert: „Der römische Stil ist viel freier als der Mailänder.“Er sagt: „Alles hier ist mehr. Mehr Sonne, mehr Weiblichke­it, mehr Männlichke­it, mehr Exzentrik, weniger Konvention. Alles hier spricht mich an!“

Spannend ist das, weil beides, Eleganz und Rom, oft eher rückwärtsg­ewandt als zukunftswe­isend wirken. Roms Glanz speist sich aus der Vergangenh­eit, in die größte Stadt Italiens reist man eher wegen ihrer Geschichts­trächtigke­it. Filmklassi­ker wie „Ein Herz und eine Krone“(1953) mit Audrey Hepburn und Gregory Peck, „Drei Münzen im Brunnen“(1954) oder eben „Das süße Leben“(1960) mit Anita Ekberg und Marcello Mastroiann­i haben Rom zum Inbegriff einer Sehnsuchts­kulisse gemacht. Zeitgenöss­ische Kulturscha­ffende, so viel ist sicher, treten hier in große Fußstapfen.

Mit der Eleganz, zumal in der Mode, verhält es sich ähnlich. Hat sie nicht ihre besten Tage hinter sich? Sie war gegenwärti­g eben in der Person von Schauspiel­ern wie Marcello Mastroiann­i, der jährlich nicht einen Anzug, sondern gleich ein Dutzend Anzüge, allesamt aus britischen Wollstoffe­n, bei seinem römischen Schneider Vittorio Zenobi bestellte. Oder in Gestalt von Schauspiel­erin Sophia Loren, mit ihren figurnahen Kleidern und ausgesucht­em Schmuck – am liebsten von dem französisc­hen Juwelier Van Cleef & Arpels. Auch der in Turin geborene Gianni Agnelli, geschäftsf­ührender Gesellscha­fter von Fiat, passt hier. Er war nicht nur wegen seiner Maßanzüge bekannt, sondern auch für den stilistisc­hen Eigenwille­n, sowohl Krawatten als auch seine Uhr von Cartier über Weste, Sweatshirt und Hemdmansch­ette zu tragen. Oder die, übrigens in Rom geborene, Modedesign­erin Elsa Schiaparel­li, die die Kunst beherrscht­e, Frauen nicht mit ihren

Köpern sprechen zu lassen, sondern mit ihren exaltierte­n, von Surrealist­en wie Salvador Dalí inspiriert­en Kleidern.

Heute hingegen? Nichts gegen Personen des öffentlich­en Lebens wie die Influencer­in Chiara Ferragni, der allein auf Instagram knapp dreißig Millionen Menschen folgen. Sicher trägt sie in einem Jahr mehr luxuriöse Mode- und Schmuckmar­ken als Sophia Loren in den 89 Jahren ihres bisherigen Lebens. Bloß: Elegant ist sie deswegen nicht.

Eleganz, diese Mischung aus Vornehmhei­t und Geschmeidi­gkeit, ist im gleichen Maß aus der Mode gekommen, in dem Komfort das Maß aller Dinge wurde. Kleiderkon­ventionen spielen heute kaum noch eine Rolle, der Casual Friday, jener Tag, an dem man Anzug und Kostüm im Büro zugunsten von

bequemer Freizeitkl­eidung tauscht – initiiert übrigens um 1960 durch die amerikanis­che Firma HewlettPac­kard, um die Angestellt­en an neuen Ideen arbeiten zu lassen –, ist inzwischen an jedem Tag.

Eleganz nach altem Maß ist heute schlicht zu unkomforta­bel. Denn sie ist von jeher verknüpft mit Haltung und Anmut. Zur Zeit von Gianni Agnelli und Marcello Mastroiann­i schlüpften Menschen ihretwille­n in entspreche­nd konstruier­te Kleidung. Anzugjacke­n etwa, die durch Einlagen und Polster strukturie­rt aufgebaut waren und so die aristokrat­isch geprägte, klassische V-form akzentuier­ten. Das ist heute nicht mehr so, spätestens seit der Pandemie und dem damit einhergehe­nden kollektive­n Rückzug aus der gesellscha­ftlichen Sichtbarke­it muss Kleidung vornehmlic­h bequem sein. So sank beispielsw­eise 2020 der Absatz von Anzügen um 58 Prozent, während der von Jogginghos­en im gleichen Zeitraum um 43 Prozent zunahm. Mode und Kleidung dienen als eine Komfortzon­e gegen die Unzumutbar­keit des Alltags.

Womit man wieder am Trevibrunn­en in Rom wäre, wo man für den vorherrsch­enden Mangel an Eleganz in den vorbeidrän­genden Massen fast Verständni­s entwickeln muss. Eleganz ist hier auch eine Frage der Priorisier­ung. Denn in der sich schiebende­n, drängenden Masse, deren Teil man unweigerli­ch wird, bei dem Versuch eine Photo Opportunit­y zu erhaschen, mit Brunnen im Hintergrun­d, ist schlichtwe­g mehr Platz für dehnbares Mischgeweb­e, das hin- und hergequets­cht werden kann, waschbar bei mindestens 40 Grad, als für, sagen wir, formgebend­e, feine Wollstoffe oder gar Seide, die weder bügel- noch knitterfre­i ist.

Was wollen die Designer Kim Jones und Stefano Pilati uns sagen, wenn sie jetzt auf Rom setzen und auf Eleganz? Werben sie für eine Rückkehr zur Schönheit vergangene­r Tage? Nein, sie erkennen vielmehr die Realität an und bekennen sich zur Gegenwart.

Zunächst geht aller historisch­er Ballast über Bord. Sie legen jede Annahme ab, irgendwer würde sich aufgrund herrschend­er Konvention­en etwas überstreif­en wollen, das ihn oder sie strukturie­rt, in Form presst oder zum aufrechten Gang zwingt.

Vor allen Dingen Pilati wirft, so wie er es auch mit seinem eigenen Label Random Identities tut, alle Geschlecht­erzuschrei­bungen über Bord. Aber ohne als Alternativ­e jene

Art Unisexmode zu entwerfen, die vor allen Dingen latent zu groß aussieht und dabei Geschlecht­smerkmale wie Po, Brüste, Hüften einfach wegmodelli­ert.

Pilatis Mode ist wie eine Befreiung und funktionie­rt, weil er sich auf sein größtes Talent besinnt: Er ist ein ausgezeich­neter Schneider. Mit seiner Kleidung verleiht er den Eindruck von Geschmeidi­gkeit und Vornehmhei­t, wichtige Elemente der Eleganz, weil er die Physiognom­ie ihrer Träger versteht. Einlagen und Polster für Stand und Volumen braucht er nicht, sondern er entwickelt allein aufgrund seines genauen Blicks Kleidungss­tücke wie beispielsw­eise eine Anzughose mit farbig abgesetzte­m Bund, die so ermächtige­nd wirkt wie ein Power Suit aus den 80ern. Dass sie nicht starr ist, sondern sinnlich, liegt an seinem guten Auge für Stoffe. Während seiner Zeit bei Zegna erzählte Pilati einmal, dass für ihn jeder Entwurf mit der Haptik eines Stoffs beginne. Er setze sich an einen Tisch, auf dem unterschie­dliche Stoffe ausgebreit­et sind, schließe die Augen und fahre mit seinen Fingern über die Stoffe. Was ihn dann anspricht, so Pilati, verarbeite er.

Komfort ist King – und Queen – dieser Forderung des Augenblick­s begegnet Pilati, indem er den Menschen, die seine Mode tragen, nicht eine Idee überstülpt, sondern ihre eigenen Körper sprechen lässt. So sehen in einem schwarz-weiß und grau gestreifte­n, schulterfr­eien Seidentop aus gekreuzten Stoffbahne­n sowohl schmale weibliche als auch breitere männliche Schultern anmutig aus.

Kim Jones schließlic­h kombiniert ein genaues Auge mit einem cleveren Maß an Pragmatism­us. Viele seiner Kleider reichen zur Mitte der Wade, alle sind überkniela­ng. Sie umspielen die Silhouette figurnah, erlauben aber ausgreifen­de Schritte. Auch das wirkt befreiend. Und sie setzen auf ein zeitloses Gesetz: Dass nämlich eine Andeutung oft wirkungsvo­ller und eleganter ist als (halb)nackte Tatsachen. Wie die aussehen, sieht Kim Jones zu oft auf seinem Weg zur Arbeit.

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Anzug für Frauen wie Männer für eine starke Figur, ganz ohne Schulterpo­lster 2 Eleganz kombiniert Geschmeidi­gkeit und Vornehmhei­t. Choreograp­h MJ Harper strahlt in der Abendrobe von Stefano Pilati beides aus 3
Große Brille, Little Black Dress und anmutige Haltung sind das Rezept von Schauspiel­erin Sophia Loren. Hier am Flughafen in London, 1966 4 Handtasche­n, so groß und weiß wie eine Säule im antiken Rom – das Setting der aktuellen Fendi-schau
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Ein Look aus der Friends-offendi-kollektion 6 Stets elegant gekleidet: der Designer Stefano Pilati 2
bilder: 1 Anzug für Frauen wie Männer für eine starke Figur, ganz ohne Schulterpo­lster 2 Eleganz kombiniert Geschmeidi­gkeit und Vornehmhei­t. Choreograp­h MJ Harper strahlt in der Abendrobe von Stefano Pilati beides aus 3 Große Brille, Little Black Dress und anmutige Haltung sind das Rezept von Schauspiel­erin Sophia Loren. Hier am Flughafen in London, 1966 4 Handtasche­n, so groß und weiß wie eine Säule im antiken Rom – das Setting der aktuellen Fendi-schau 5 Ein Look aus der Friends-offendi-kollektion 6 Stets elegant gekleidet: der Designer Stefano Pilati 2
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Kein Little Black Dress, aber auch in Schwarz: Designer Kim Jones
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Mit Schirm, Charme und nie ohne: Schauspiel­er Marcello Mastroiann­i im italienisc­hen Maßanzug
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Eleganz gibt’s auch in Babyblau, solange sie das Knie bedeckt wie hier bei Fendi
7 bilder: 7 Kein Little Black Dress, aber auch in Schwarz: Designer Kim Jones 8 Mit Schirm, Charme und nie ohne: Schauspiel­er Marcello Mastroiann­i im italienisc­hen Maßanzug 9 Eleganz gibt’s auch in Babyblau, solange sie das Knie bedeckt wie hier bei Fendi
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