»DIE SEHNSUCHT NACH DER GROSSEN LIEBE IST UNGEBROCHEN«
Therapeut Ulrich Clement über das Ideal der Treue
HUlrich Clement: err Clement, Sie beschäftigen sich mit dem Thema Fremdgehen schon lange. Ist Treue überholt?
Die Sehnsucht nach der großen Liebe ist ungebrochen. Und das verbinden nach wie vor sehr viele mit dem Modell lebenslanger Treue. Das Problem ist, dass viele ihrem eigenen Ideal nicht gerecht werden. Es wäre also sinnvoll, sich mit den Beweggründen für eine außereheliche Beziehung zu beschäftigen.
Wie hilfreich ist es, sich selbst und dem Partner zu sagen: „Es war nur Sex!“?
Auch wenn es sich um einen einmaligen Seitensprung handelt, geht es oft um mehr als nur den körperlichen Akt. Um Autonomiewünsche, um die Suche nach Lebendigkeit, Bestätigung oder Trost.
Aktuelle Zahlen belegen, dass Frauen öfter fremdgehen als Männer.
Öfter nicht, aber aus anderen Gründen. Frauen sind in Partnerschaften meist beweglicher und aufgeschlossener und erwarten das auch von ihren Männern. Es gibt einen amüsanten Spruch dazu: Frauen heiraten Männer in der Annahme, dass sie sich ändern werden – aber das tun sie nicht. Männer heiraten Frauen in der Annahme, dass sie sich nicht ändern werden – aber sie ändern sich. Anders gesagt: Frauen wünschen sich Entwicklung in ihrer Beziehung. Eine mögliche
Konsequenz dieser widersprüchlichen Interessen ist es, dem Mann mit ihren Wünschen auf die Nerven zu gehen oder sie woanders zu suchen und fremdzugehen. Oder – die trostloseste Variante: Sie bleiben zusammen in der quälenden Gewissheit, dass der andere schuld am nicht gelebten Leben ist.
Was raten Sie, wenn so ein resigniertes Paar zu Ihnen kommt?
Wenn es überhaupt kommt, ist noch nicht alles verloren. Ich sage ihnen, dass sie Kandidaten für eine langfristige, verbitterte Ehe sind. Die Aussicht darauf kann dazu führen, dass sie sich dann doch darauf einlassen, sich mit einem neuen Blick zu begegnen, und versuchen, einander verständlich zu machen, was ihnen fehlt.
Wenn es sexuelle Abwechslung geht, ist dann Polyamorie eine Lösung?
Wenn das für beide Partner eine Option ist, dann ja. Polyamorie – jedenfalls das Reden darüber – hat gerade in den letzten Jahren unglaublich zugenommen! Ich stelle meistens fest, dass diese Paare im Kern eine sehr stabile Beziehung haben. Polyamorie ist aber mehr als ein Weg, um aus der erotischen Langeweile herauszukommen, sondern eine ganz neue Lebensperspektive.
Das empfiehlt Ulrich Clement jedem Paar:
Ich rate gerne zu einer Methode, die der verstorbene Psychotherapeut Michael Lukas Moeller erfunden hat: das Zwiegespräch. Einmal pro Woche verabredet sich ein Paar dazu. Erst redet ein Partner 15 Minuten lang darüber, was ihn gerade beschäftigt. Der andere Partner hört nur zu, unterbricht auf keinen Fall den Redefluss. Dann wird gewechselt.