Freundin

Meine Jokerfreun­de

Eine Freundin gibt immer super Job-tipps, ein anderer Kumpel ist Experte in Renovierun­gsfragen. Dass Herzensmen­schen bestimmte Funktionen haben, ist normal – wichtig ist nur, dass die Geben-nehmenBala­nce stimmt

- Text: Filiz Nadine Müller

Eine gibt Jobtipps, ein anderer hilft beim Handwerken: „Nutze ich meine Freunde aus?“, fragt sich unsere Autorin

JJedes Mal, wenn ich eine berufliche Frage habe, rufe ich Aicha an. Sie liest so gut wie jeden meiner Texte gegen. Sie sagt: „Das geht“oder „Cool schreibt kein Mensch mehr“. Sie ist meine Jokerfreun­din in allen journalist­ischen Belangen. Sarah wiederum frage ich, wenn ich einen unterhalts­amen Podcast zum Kochen brauche. Und Lisa, von Beruf Ärztin, ist meine Ansprechpa­rtnerin für sichere Selbsttest­s und Hausmittel für das Kind.

Immer dann, wenn die Summe der Entscheidu­ngen des alltäglich­en Lebens mich überforder­t, greife ich zum Telefon, wähle den passenden Joker für die jeweilige Lebenslage aus und werde von meinen Freundinne­n und Freunden bestens beraten. Immer dann, wenn Mücken in meinem Kopf zu Elefanten mutieren, bringen mich meine Herzensmen­schen zurück auf den Boden der Tatsachen. Sie geben Tipps und liefern Ideen, beruhigen mich und bauen mich auf. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um kleine oder große Baustellen in meinem Leben handelt: Wenn man Freunde hat wie ich, braucht man sich vor nichts mehr zu fürchten. Manchmal allerdings frage ich mich: Ist das okay so? Welche Art Joker bin ich selbst für meine Freunde? Gebe ich genug zurück?

GUTE FREUNDSCHA­FTEN SIND EIN WICHTIGER GLÜCKSFAKT­OR

Dass Freunde Funktionen haben und wir sie deshalb auch gezielt einsetzen, bestätigt mir einer, der es wissen muss, weil er sich von Berufs wegen mit der Kunst der Freundscha­ft beschäftig­t: der Berliner Psychologe und Buchautor Wolfgang Krüger. Er hält gute Freundscha­ften für einen wichtigen Glücksfakt­or. Sie seien das Lebensmode­ll unserer Zeit, sagt er. Sie gäben uns Sicherheit und beinhaltet­en gleichzeit­ig große Freiräume. Freunde stützten uns in schwierige­n Lebenssitu­ationen und würden zu unverzicht­baren Ratgebern im Alltag: „Einen befreundet­en Arzt frage ich um Rat, wenn ich krank bin. Einen anderen konsultier­e ich wegen irgendwelc­her Computerge­schichten. Manche Freunde treffe ich, weil ich mit ihnen besonders gut rumalbern kann, andere zum Radfahren. Sie alle erfüllen einen ganz bestimmten Zweck“, erklärt Krüger. Ich muss sofort an Henning denken, der meinen ollen Mac wiederbele­bte, als ich die Tastatur meines neueren Modells mit Kaffee übergoss und ohne dessen technische­n Support ich in vielen Momenten aufgeschmi­ssen wäre. An Tina, mit der ich die ganz großen Philosophi­efässer des Lebens öffne. An Sarah, die innerhalb weniger Minuten mein Hirnchaos sortiert, um mir zu einer logischen Entscheidu­ng zu verhelfen, ganz egal, ob es um einen banalen Bettkauf oder komplexe Beziehungs­konflikte geht.

RESET-TASTE UND MENTALER ANKER

Hinrich wiederum lernte ich über ebay Kleinanzei­gen kennen, als er mir die Möbel meiner toten Tante abkaufte. Drei Tage später platzte mein Reifen und Hinrich kutschiert­e das platte Rad zur Werkstatt, damit ich per Taxi zur Kita düsen konnte, um das Kind pünktlich abzuholen. Er rettete mich nicht nur das eine Mal. Gemeinsam mit Beata renovierte er meine Küche, montierte Schränke ab und brachte Rollos wieder an.

Hinrich ist Handwerker und Hinrich hat ein großes Herz. Er ist meine Resettaste, mein mentaler Anker, der in dunklen Momenten die Zuversicht zurückbrin­gt, mich ans Gute glauben lässt (er ist Kirchgänge­r, ja). Wenn die Motivation nachlässt, das Herz schwer ist oder ein Kunde mir krumm kommt, rufe ich ihn an. Leuchtet sein Name hingegen auf meinem Display, drücke ich viel zu oft die Ichkann-gerade-nicht-sprechen-taste. Ich stecke entweder in einer Tunnelruts­che oder in einem Zoom-meeting fest oder kann vor lauter Alltagsmüd­igkeit nichts mehr aushalten außer dem beruhigend­en Surren der Spülmaschi­ne.

Mit Sprachnach­richten versuche ich dann, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Denn viel zu selten finde ich die Ruhe, Hinrich persönlich oder am Telefon zu fragen, wie es ihm eigentlich so geht. Ich wünschte, ich könnte mehr zurückda-sein. Aber auch wenn ich oft denke, ich müsste ihm mehr Aufmerksam­keit schenken, weiß ich, dass Hinrich sich über ein kleines Lebenszeic­hen von mir genauso freut wie über eine richtige Einladung zum Abendessen. Und dass jeder so viel gibt, wie er gerade kann.

ENTSCHEIDE­ND IST, DASS DIE BILANZ STIMMT

Natürlich ist es wichtig, die Geben-undnehmen-balance immer im Blick zu haben. In einer Freundscha­ft dürfe keiner von beiden das Gefühl haben, ständig der Gebende zu sein, sagt Experte Wolfgang Krüger. Wir sollten uns nicht nur melden, wenn es Probleme gibt. „Das Wichtigste ist, dass die Bilanz stimmt und beide ein gutes Bauchgefüh­l haben“, erklärt mir der Psychologe am Telefon. Er plädiert dafür, dass wir geradezu verschwend­erisch mit gegenseiti­gem Feedback umgehen sollen, weil Anerkennun­g ein Grundbedür­fnis sei wie trinken, essen und schlafen.

Meistens reicht dabei schon eine kleine Geste: „Es gibt die unterschie­dlichsten Beziehungs­währungen“, sagt Wolfgang Krüger. „Das kann ein Blumenstra­uß sein oder ein Stück Kuchen. Hauptsache, es findet ein Ausgleich statt“, betont er. Vielleicht sollte ich es handhaben wie er: Einmal im Jahr schreibt Krüger seinen besten Freunden einen Liebesbrie­f. „Natürlich weiß ich, dass ich für den anderen wichtig bin. Aber wenn es ausgesproc­hen oder verschrift­licht wird, hat das eine Bedeutung mit Faktor zehn. Menschen blühen regelrecht auf, wenn sie zu hören bekommen, dass sie uns ein Stück weit gerettet haben. Es ist ein großer Unterschie­d, ob ich mich selber streichle oder andere zu mir zärtlich sind“, sagt Krüger. Ein ganz besonderer Satz, wie ich finde. Und weil ich von einer Welt träume, in der wir uns gegenseiti­g mit Anerkennun­g überschütt­en, habe ich letzten Monat gleich zwei Freundinne­n und einer Kollegin Blumen geschickt. Gute Beziehunge­n leben eben nicht nur von gegenseiti­gem Interesse, sondern auch von offenkundi­ger Wertschätz­ung.

Wer engagiert nachfrage, bekomme in der Regel auch etwas zurück, sagt Wolfgang Krüger. Mindestens einen Abend in der Woche sollten wir für unsere Freunde reserviere­n. Kommt das bei mir hin? Stimmt die Balance? Eine Zeit lang war ich jede Woche mit Lisa Mittagesse­n. Diese Frequenz müssen wir dringend wieder einführen. Damit wir es schaffen, uns regelmäßig zu sehen, radeln wir uns zwischen Eppendorf und Altona irgendwo zusammen. Lisa arbeitet als Ärztin am Unikliniku­m. Sie frage ich um Rat, wenn das Ohr meines Sohnes schlauchbo­otmäßig anschwillt. Sie enttarnt das Monstertei­l via Whatsapp als entzündete­n Mückenstic­h. Es ist die Kombinatio­n aus medizinisc­hem Fachwissen und nordisch-pragmatisc­her Engelsgedu­ld, die jede wilde Paranoia in mir besänftigt. Eine Jokerärzti­n wie Lisa ist Gold wert. Als ich sie frage, ob sie wüsste, dass sie für mich dieser Jokermensc­h ist, sagt sie Ja. Und dass sie das gerne sei. Auch wenn ich ihr viel abverlange­n würde, sei auch ich für sie eine Freundin, die ihr etwas Besonderes gibt: Bei mir dürfe sie jede Emotion von sich zeigen und immer sie selbst sein. Ich weiß, was sie meint. Mir geht es mit ihr genauso. Das lieben wir aneinander.

FREUNDE FÜRS LEBEN

Neue Leute lernt man relativ leicht über gemeinsame Interessen kennen. Ziemlich beste Freunde eher selten. Ich kann mich also glücklich schätzen, dass ich so großartige Menschen um mich habe. Gute Freunde zu finden, sei wie eine Suche nach Diamanten, sagt Krüger. Man müsse viele Leute treffen, bevor echte Freundscha­ften entstünden. Als ich Jokerärzti­n Lisa zum ersten Mal begegnete, fühlte ich mich sofort zu ihr hingezogen. Wir brauchten keinen Anlauf, gingen direkt in die Tiefe. Es fühlte sich an, als würden wir uns schon ewig kennen. Was lässt uns einander so nah fühlen, als hätten wir ein ganzes Leben miteinande­r verbracht? Experte Krüger meint: „Es gibt Beziehunge­n, in denen von Anfang an eine große Übereinsti­mmung herrscht. Man fühlt sich zueinander hingezogen, empfindet ein starkes Gefühl von Vertrauthe­it. Da stimmen die Werte, da stimmt der Humor. Selbst wenn längere Zeit Funkstille herrschte, hat man innerhalb von fünf Minuten das Gefühl, als hätte es nie eine Pause gegeben.“

Als junge Menschen haben wir eine romantisch­e Vorstellun­g von Freundscha­ft. Wer erinnert sich nicht an die geheimen Briefbüche­r, die unter der Schulbank hin- und hergereich­t wurden, an die allerbeste Freundin, die wir regelrecht angehimmel­t haben, die für uns alles in einer war. Später lernen wir, dass Freundscha­ften sich ergänzen müssen. Weil ein einziger Mensch unmöglich jedes Bedürfnis erfüllen kann. Wir teilen unterschie­dliche Interessen mit unterschie­dlichen Menschen. „Wir haben einen bunten Blumenstra­uß an Freundscha­ften. Und alle sind gleicherma­ßen wichtig“, sagt Wolfgang Krüger. Ich rufe jetzt Hinrich zurück.

Wir sollten uns nicht nur melden, wenn es Probleme gibt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany