Wenn die Stadt zur Galerie wird
Von buntem Graffiti bis zur atemberaubenden Outdoor-ausstellung: Was man alles entdecken kann, wenn man mit offenen Augen durch die Stadt läuft, erklärt uns Street-art-experte Sebastian Pohl
Was man bei einem Spaziergang durchs Viertel alles entdecken kann
EEin hässlicher Schriftzug prangt an meiner Hauswand. „Bubu“steht da, hingesprüht in blauer Farbe. Laufe ich nur ein paar Schritte weiter, stehe ich vor einem gigantischen Fassadengemälde mit irrer Fantasie-städtelandschaft, die den Protagonisten der Münchner Räterepublik von 1918/19 huldigt. Schmiererei hier, Staunenswertes da, überall in München stoße ich auf diese beiden Pole der Streetart. Brückenpfeiler, Fassaden, Unterführungen, Stromkästen, alles wird bunt, die Straße zur Galerie. Streetart ist angesagt, das merkt man nicht nur im medialen Rummel um die Nacht-und-nebel-aktionen des britischen Künstlers Banksy. Aber was davon ist Kunst, was kann weg?
„Street-art ist eine Bewegung – wie in den 70ern der Punk“, sagt Sebastian Pohl. „Sie setzt gesellschaftsrelevante Statements. Es geht darum, sich den öffentlichen Raum zurückzuerobern!“Pohl, der sich seit 1999 für die Graffiti-szene engagiert, ist künstlerischer Leiter des Kunstvereins Positive Propaganda e. V. Der Verein macht es möglich, die wichtigsten Akteure der Street-art-bewegung nach München zu holen, setzt mit ihnen „großformatige Denkanstöße“im öffentlichen Raum um. Dafür kämpft Sebastian Pohl oft jahrelang, auch gegen die Ignoranz der Verwaltung. „Es ist eine Kunst für alle“, schwärmt er im Gespräch. „Da geht es um Themen, die uns alle betreffen.“Man muss nur genau hinsehen.
Das erste Bild, zu dem mich Sebastian Pohl auf unserem Spaziergang durch München führt, hätte ich nicht mal bemerkt. In Schwarzweiß erstreckt es sich entlang einer Häuserwand. Das Motiv: Ungeziefer verwächst mit Autokarosserien, es ist ein Kommentar zur Vorherrschaft des Automobils, geschaffen vom spanischen Künstler Liqen.
„Dürft ihr das? Habt ihr eine Genehmigung?“Sobald eine Person mit einer Spraydose an einer – legalen – Wand steht, sei das eine häufige Reaktion der Leute, erzählt Pohl. Immer noch bestehen Vorurteile gegen Sprayer, wir wissen viel zu wenig. Fängt bereits damit an, dass ich Graffiti sage, wenn ich StreetArt meine. Oder andersherum.
Kleiner Exkurs: Graffiti kommt aus dem Griechischen und bedeutet „kratzen, zeichnen, schreiben“. Botschaften gekratzt haben wohl schon die alten Ägypter. Doch die moderne Variante entstand in New York, als 1971 ein Typ mit der gerade erfundenen Farbspraydose überall „Taki183“hinkrakelte. Ein Startschuss, bald prangten Schriftzüge an Häusern, Zügen, sogar auf einem Zirkuselefanten. Alles illegal, und wer die ausgefallensten Orte mit den kreativsten
»Street-art kann viel mehr sein als bunte Bildchen auf einer Wand«
Buchstaben verzierte, war King der Szene. Der Stil dabei war neu, bahnbrechend. „Mich hat es von den Socken gehauen, als ich das als Jugendlicher zum ersten Mal entlang der S-bahn-stammstrecke gesehen habe“, erinnert sich Sebastian Pohl. Was kaum einer weiß: München war damals Vorreiter in Europa, noch heute raunt man vom berühmten „Geltendorf Train“, der 1985 über Nacht komplett bemalt wurde. Heute sind diese Sprayer etabliert, damals hagelte es Strafanzeigen. Die eigens eingerichtete Polizei-soko „Graffiti“ fand ihre Telefonnummer an einen S-bahn-zug gesprüht, unter der Bezeichnung „Sexhotline“. Sie musste die Nummer wechseln.
Was trieb diese Jungs an? „Viele hatten ein Problem mit Autorität, mit der Polizei und ihren Eltern. Aber vor allem wollten sie ausdrücken: Ich war hier, ich existiere“, sagt Pohl, der viele Sprayer persönlich kennt. „Eine andere Botschaft gab es nicht.
Ein Egoding.“Viele der Sachen waren einfallsreich, sagt er, typografisch ausgefallen. „Aber diese Art von klassischem Graffiti ist stehengeblieben. Sie sagt nichts aus, ist austauschbare Deko.“Street-art, zeigt Pohl auf, kann viel mehr sein als bunte Bildchen auf einer Wand.
Viele Graffiti-künstler entwickelten sich weiter. Die Pseudonyme, die sie sich als Sprayer zugelegt haben, blieben: Herakut, L.E.T., WON. Obwohl man ihre echten Namen inzwischen kennt. Vor allem politisch aktive Künstler verschleiern nach wie vor ihre Identität, das unerlaubte Bemalen von Fassaden steht immer noch unter Strafe. Auch wenn die Bereitschaft der Städte wächst, Flächen freizugeben. Vor allem, seit Banksy mit seinen Aktionen für Furore sorgt, tritt Street-art immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. „Diese Kunst ist visionär, sie ist hochaktuell“, schwärmt auch Stephanie Utz, Mitbegründerin des MUCA in München – dem ersten Museum in Deutschland, das sich der StreetArt verschrieben hat, Touren anbietet, Ausstellungen organisiert. „Sie ist dort, wo man sie nicht erwartet. Sie baut Brücken.“Die Bandbreite ist enorm: Inzwischen wird nicht nur gesprayt, es wird fotorealistisch gemalt, mit Schablonen gearbeitet,
»Es ist, als würde ein Michelangelo an der Straße hängen. Und niemand merkt es«
mit Tape geklebt. Das alles lässt sich an den unmöglichsten Plätzen entdecken. Etwa in München am Candidplatz, unter einer vierspurigen Autostraße. Auch in Berlin, Hamburg, Düsseldorf und im Ruhrpott sind Hotspots entstanden.
Sebastian Pohl führt mich bei unserem Spaziergang zu einem weiteren Wandgemälde. „Von Anfang an waren Murals politische Statements, die auf Missstände hingewiesen haben“, erklärt er. Auch die Bilder, die er mit seinem Kunstverein umgesetzt hat, kritisieren etwa unsere Konsumlust oder Smartphonegier. So wie „Exhuman“von Liqen an der Dachauer Straße. Vor diesem Hieronymusboschwimmelbild könnte ich stundenlang stehen. Man versteht in dem Moment, wenn Pohl meint, das seien die bedeutendsten Künstler unserer Zeit. Es ist, als würde ein
Michelangelo an der Straße hängen. Und niemand merkt es. Immerhin: Früher wurden Meisterwerke übermalt. Heute ist es verpönt, wenn reiche Käufer etwa einen Banksy abtragen lassen, um ihn zu versteigern. Diese Kunst ist für uns alle. „Macht die Augen auf, seid neugierig!“, empfiehlt Pohl.
An einem Postgebäude aus den 1929erjahren plant er bereits das nächste bedeutende Mural (von Shepard Fairey). „Lediglich die Denkmalschutzbehörde macht wieder einmal Probleme“, sagt Pohl, während er mir das Foto der Gebäudewand zeigt. „Sie versucht, die Öffentlichkeit vor der Kunst zu schützen …“Illegal „getaggt“wurde es schon längst. Nur „Bubu“war noch nicht da.