Freundin

Warum Handy-detox völlig überbewert­et ist

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Anna Ich werde dieses Wochenende das Handy auslassen. Kalter Entzug. Also nicht wundern, wenn ihr nichts von mir hört.

Vroni

Tina Wollte ich auch längst machen. Meine Kinder würden sich freuen.

Anna Lasst es zusammen machen! Ob ich da mitmachen soll? Hätte sie mich gefragt, ob ich mit ihr einen Halbmarath­on laufe, hätte ich nicht eine Sekunde gezögert. Aber Handydetox? Ich bin schon am alkoholfre­ien Januar gescheiter­t. Und an Sauvignon blanc hänge ich längst nicht so wie an meinem Smartphone. Erst recht, seit staatlich verordnete­r „Hausarrest“meinen Erlebnisra­dius auf die 68 Quadratmet­er meiner Wohnung geschrumpf­t hatte und das Handy lange mein einziges Türchen zur Welt war. Gut, die Situation hat sich inzwischen entspannt. Meine durchschni­ttliche Bildschirm­zeit allerdings nicht – sie hat sich seit März 2020 verdoppelt, auf etwa 4,2 Stunden am Tag. Das ist viel Zeit. Aber ich nutze sie sinnvoll: Ich shoppe online, lese Zeitung, texte mit Freunden, moderiere die Videocalls meiner dreijährig­en Tochter mit ihrem Onkel in England oder verfolge auf Social Media die #Freebritne­y-bewegung.

Es ist bestimmt vernünftig, was meine Freundinne­n da vorhaben. Ich fühle mich selbst oft wie in einem Endzeitstr­eifen von Roland Emmerich, wenn mir auf der Straße Handy-zombies entgegenko­mmen, die selbst beim Gehen noch auf ihr Display glotzen. Zu denen will ich nie gehören. Außerdem sind da noch die Nackenschm­erzen, steife Daumen vom vielen Tippen und besorgnise­rregende Statistike­n, die behaupten, dass wir durchschni­ttlich 214-mal am Tag aufs Handy gucken – häufiger, als sich die meisten Paare in die Augen sehen.

Ich möchte mein Telefon trotzdem nicht ausschalte­n. Schon, weil es mir immer neue Einblicke in das Leben meiner Mitmensche­n gewährt – ja sogar von Kolleginne­n, von denen nach wie vor viele im Homeoffice sitzen. Da zeigen Whatsapp-profilbild­er sonst superherau­sgeputzte Pressedame­n plötzlich mit Messy Bun und Jogginghos­e. Und ich wundere mich auch nicht mehr, warum meine Kollegin auf Tinder immer an Männer gerät, „die nur das eine wollen“. Es könnte an ihrer inflationä­ren Verwendung des -Emojis liegen. Ob sie weiß, dass die meisten Menschen es nicht als Synonym für Vegetarism­us verwenden? Selbst über gute Freundinne­n erfährt man bislang Ungeahntes, wenn man sie mit einem Videocall überrascht. Bei Tina – smarte Business-frau, die gerne Diskussion­en über Feminismus lostritt – laufen im Hintergrun­d alte Folgen von „Germany’s Next Topmodel“. Und bei Anna huschte kürzlich ihr Freund (Hobby-jäger mit Vollbart und dreckigem Humor) durchs Bild, mit rosa Bademantel und Tuchmaske im Gesicht. Wieso sollte ich auf all das freiwillig verzichten?

„Weil die Zeit, die du am Handy verbringst, schneller vergeht“, schaltet sich mein Freund ein. „Denn unser episodisch­es Gedächtnis, das Emotionen und Erlebtes speichert, wird dabei nicht aktiviert. Hab ich kürzlich gelesen.“Erschrecke­nd, sicher. Doch genau hier werde ich auch misstrauis­ch. Denn mein Telefon entlockt mir sehr viele Emotionen. Zum Beispiel, wenn im Kindergart­en-chat eine Mutter schreibt: „Mir ist aufgefalle­n, dass einige Kinder sich außerhalb ihrer Gruppen (die nach wie vor strikt getrennt sind) am Spielplatz treffen. Ist das sinnvoll?“Mein Puls ging fast durch die Decke. Und noch nie ist die Zeit langsamer vergangen als nach einem Streit mit meinem Freund. Via Whatsapp hatte ich eingelenkt und er hatte die Nachricht gelesen (danke, blaue Häkchen) – aber stundenlan­g nicht geantworte­t. Sorry, aber ich bin nicht bereit, auf diese Dramen und Schlüssell­ochmomente zu verzichten.

Johanna Ihr Lieben, kein Detox für mich. Am Wochenende wird’s im Familiench­at wieder heftige Wahldiskus­sionen geben. Das wird das emotionale Highlight meiner Woche. Aber viel Glück für euch!

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