Freundin

»Geheimniss­e entstehen oft aus Scham oder Angst«

Die Psychologi­n und Familienth­erapeutin Sandra Konrad beschäftig­t sich damit, wie Konflikte, Verletzung­en und Tabuthemen über mehrere Generation­en weitergege­ben werden – und erklärt, warum sich die Aufarbeitu­ng lohnt

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Frau Dr. Konrad, wer in seinem Umfeld das Thema Familienge­heimnisse anspricht, kann damit rechnen, erstaunlic­h viele Geschichte­n erzählt zu bekommen. Haben wir womöglich mehr „Leichen im Keller“, als wir ahnen?

In nahezu jeder Familie gibt es Geheimniss­e, die leichter oder schwerer wiegen. Nicht jedes Geheimnis ist dunkel und bringt Leid mit sich. Es gibt auch existenzie­lle Geheimniss­e, die in den Bereich der Intim- oder Privatsphä­re fallen. Menschen, die fordern „Wir dürfen in unserer Familie keine Geheimniss­e voreinande­r haben“, bedenken die Konsequenz­en nicht. Wer möchte beispielsw­eise mit seinen Eltern alle Details ihres Sexlebens teilen? Das wäre nicht gesund, sondern grenzverle­tzend.

Etwas zu verschweig­en, ist also nicht unbedingt gleichzuse­tzen mit einer Lüge?

Ich finde diesen Vergleich generell nicht sinnvoll, weil dabei so eine starke moralische Wertung mitschwing­t. Die Frage ist doch eher, warum Menschen meinen, etwas verheimlic­hen zu müssen. Geheimniss­e entstehen oft aus Angst, Scham oder Schuld. Es gibt Geheimniss­e aus unverarbei­teter Trauer oder aufgrund traumatisc­her Erfahrunge­n, an denen man nicht mehr zu rühren wagt. Oder sie entstehen, weil man gegen eine Norm verstößt, an die man sich nicht halten kann.

Sollte man solche Geheimniss­e denn überhaupt aufdecken? Kann es nicht besser sein, wenn sie mit der Zeit in Vergessenh­eit geraten?

Das tun sie oftmals aber nicht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Trauer um ein verstorben­es Kind. Nach dem Verlust eines Kindes nehmen sich manche Eltern vor, dem nächstgebo­renen Kind nichts davon zu erzählen. Sie wollen es nicht belasten. Das nächstgebo­rene Kind spürt aber oft den Kummer der Eltern. Manche berichten dann später, dass sie immer das Gefühl gehabt hätten, nicht zu genügen. Die Intention hinter so einem Geheimnis ist also oft gut, aber es kommt dadurch ganz viel Schwere ins System. Es gibt Familienge­heimnisse und Traumata, die über mehrere Generation­en weitergege­ben werden, obwohl nie darüber geredet wird.

Traumata sind also in gewisser Weise ansteckend?

Hochanstec­kend! Alles, was in einer Generation nicht verarbeite­t werden kann, hat Auswirkung­en auf die folgenden Generation­en, weil die abgewehrte­n Gefühle vererbt werden. Ein Beispiel: In meiner Praxis habe ich ein junges Mädchen beraten, das mit Beginn der Pubertät schrecklic­he Angst bekam, vergewalti­gt zu werden. Sie hatte aber nie negative Erfahrunge­n gemacht. Ihre Mutter erinnerte sich dann, dass sie diese Sorgen im Alter ihrer Tochter auch gehabt hatte. Wir haben dann die Großmutter einbezogen und die offenbarte dann, dass sie in diesem Alter von russischen Soldaten vergewalti­gt worden war.

Raten Sie also generell dazu, das Unsagbare auszusprec­hen?

Das ist ein Schritt, der gut vorbereite­t und gegebenenf­alls begleitet werden sollte. In vielen Fällen wirkt eine Offenbarun­g aber auch erleichter­nd. Zum einen liegt das daran, dass einige Themen gar nicht mehr so schambeset­zt oder tabuisiert sind. Außerdem hilft es meist allen, wenn Licht ins Dunkel kommt. Dann kann man nämlich klarer sehen, was los ist und wie es weitergehe­n kann.

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