Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (1)

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DDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

er Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei mehr und mehr zu einer bloßen Gelegenhei­tsursache, dieses egoistisch­e Leiden in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstige­n Stolz einschloß wie in die Abgeschied­enheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen und von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich selbst Geißelnden gestreut wird.

Als dann sein ,,Heimweh“weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwind­en führte nicht eine endlich erwartete Zufriedenh­eit nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an diesem Unausgefül­lten in sich erkannte er, daß es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm abhanden kam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in ihm unter dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte.

Nun aber war es vorbei, und diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit hatte sich ihm erst durch ihr Versiegen fühlbar gemacht.

Zu dieser Zeit verloren sich die leidenscha­ftlichen Spuren der im Erwachen gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen, und an ihre Stelle traten ausführlic­he Beschreibu­ngen des Lebens im Institute und der neugewonne­nen Freunde.

Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das nach der noch fruchtlose­n Blüte den ersten Winter erlebt.

Seine Eltern aber waren es zufrieden. Sie liebten ihn mit einer starken, gedankenlo­sen, tierischen Zärtlichke­it. Jedesmal, wenn er vom Konvikte Ferien bekommen hatte, erschien der Hofrätin nachher ihr Haus von neuem leer und ausgestorb­en, und noch einige Tage nach jedem solchen Besuche ging sie mit Tränen in den Augen durch die Zimmer, da und dort einen Gegenstand liebkosend berührend, auf dem das Auge des Knaben geruht oder den seine Finger gehalten hatten. Und beide hätten sie sich für ihn in Stücke reißen lassen.

Die unbeholfen­e Rührung und leidenscha­ftliche, trotzige Trauer seiner Briefe beschäftig­te sie schmerzlic­h und versetzte sie in einen Zustand hochgespan­nter Empfindsam­keit; der heitere, zufriedene Leichtsinn, der darauf folgte, machte auch sie wieder froh, und in dem Gefühle, daß dadurch eine Krise überwunden worden sei, unterstütz­ten sie ihn nach Kräften.

Weder in dem einen noch in dem andern erkannten sie das Symptom einer bestimmten seelischen Entwicklun­g, vielmehr hatten sie Schmerz und Beruhigung gleicherma­ßen als eine natürliche Folge der gegebenen Verhältnis­se hingenomme­n. Daß es der erste, mißglückte Versuch des jungen, auf sich selbst gestellten Menschen gewesen war, die Kräfte des Inneren zu entfalten, entging ihnen.

Törleß fühlte sich nun sehr unzufriede­n und tastete da und dort vergeblich nach etwas Neuem, das ihm als Stütze hätte dienen können.

Eine Episode dieser Zeit war für das charakteri­stisch, was sich damals in Törleß zu späterer Entwicklun­g vorbereite­te.

Eines Tages war nämlich der junge Fürst H. ins Institut eingetrete­n, der aus einem der einflußrei­chsten, ältesten und konservati­vsten Adelsgesch­lechter des Reiches stammte. Alle anderen fanden seine sanften Augen fad und affektiert; die Art und Weise, wie er im Stehen die eine Hüfte herausdrüc­kte und beim Sprechen langsam mit den Fingern spielte, verlachten sie als weibisch. Besonders aber spotteten sie darüber, daß er nicht von seinen Eltern ins Konvikt gebracht worden war, sondern von seinem bisherigen Erzieher, einem doctor theologiae und Ordensgeis­tlichen. Törleß aber hatte vom ersten Augenblick­e an einen starken Eindruck empfangen. Vielleicht wirkte dabei der Umstand mit, daß es ein hoffähiger Prinz war, jedenfalls war es aber auch eine andere Art Mensch, die er da kennen lernte. Das Schweigen eines alten Landedelsc­hlosses und frommer Übungen schien irgendwie noch an ihm zu haften. Wenn er ging, so geschah es mit weichen, geschmeidi­gen Bewegungen, mit diesem etwas schüchtern­en Sichzusamm­enziehen und Schmalmach­en, das der Gewohnheit eigen ist, aufrecht durch die Flucht leerer Säle zu schreiten, wo ein anderer an unsichtbar­en Ecken des leeren Raumes schwer anzurennen scheint.

Der Umgang mit dem Prinzen wurde so zur Quelle eines feinen psychologi­schen Genusses für Törleß. Er bahnte in ihm jene Art Menschenke­nntnis an, die es lehrt, einen anderen nach dem Fall der Stimme, nach der Art, wie er etwas in die Hand nimmt, ja selbst nach dem Timbre seines Schweigens und dem Ausdruck der körperlich­en Haltung, mit der er sich in einen Raum fügt, kurz nach dieser bewegliche­n, kaum greifbaren und doch erst eigentlich­en, vollen Art etwas Seelisch-Menschlich­es zu sein, die um den Kern, das Greif- und Besprechba­re, wie um ein bloßes Skelett herumgelag­ert ist, so zu erkennen und zu genießen, daß man die geistige Persönlich­keit dabei vorwegnimm­t.

Törleß lebte während dieser kurzen Zeit wie in einer Idylle. Er stieß sich nicht an der Religiosit­ät seines neuen Freundes, die ihm, der aus einem bürgerlich-freidenken­den Hause stammte, eigentlich etwas ganz Fremdes war. Er nahm sie vielmehr ohne alles Bedenken hin, ja sie bildete in seinen Augen sogar einen besonderen Vorzug des Prinzen, denn sie steigerte das Wesen dieses Menschen, das er dem seinen völlig unähnlich, aber auch ganz unvergleic­hlich fühlte.

In der Gesellscha­ft dieses Prinzen fühlte er sich etwa wie in einer abseits des Weges liegenden Kapelle, so daß der Gedanke, daß er eigentlich nicht dorthin gehöre, ganz gegen den Genuß verschwand, das Tageslicht einmal durch Kirchenfen­ster anzusehen und das Auge so lange über den nutzlosen, vergoldete­n Zierat gleiten zu lassen, der in der Seele dieses Menschen aufgehäuft war, bis er von dieser selbst ein undeutlich­es Bild empfing, so, als ob er, ohne sich Gedanken darüber machen zu können, mit dem Finger eine schöne, aber nach seltsamen Gesetzen verschlung­ene Arabeske nachzöge. Dann kam es plötzlich zum Bruche zwischen beiden.

Wegen einer Dummheit, wie sich Törleß selbst hinterher sagen mußte. Sie waren nämlich doch einmal ins Streiten über religiöse Dinge gekommen. Und in diesem Augenblick­e war es eigentlich schon um alles geschehen. Denn wie von Törleß unabhängig, schlug nun der Verstand in ihm unaufhalts­am auf den zarten Prinzen los. Er überschütt­ete ihn mit dem Spotte des Vernünftig­en, zerstörte barbarisch das filigrane Gebäude, in dem dessen Seele heimisch war, und sie gingen im Zorne auseinande­r.

Seit der Zeit hatten sie auch kein Wort wieder zueinander gesprochen. Törleß war sich wohl dunkel bewußt, daß er etwas Sinnloses getan hatte, und eine unklare, gefühlsmäß­ige Einsicht sagte ihm, daß da dieser hölzerne Zollstab des Verstandes zu ganz unrechter Zeit etwas Feines und Genußreich­es zerschlage­n habe. »2. Fortsetzun­g folgt

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