Friedberger Allgemeine

Kampusch bleibt eine Gefangene

Vor zehn Jahren gelang der jungen Frau die Flucht aus dem Haus ihres Entführers. Seitdem bemüht sie sich um ein normales Leben. Darüber schreibt sie auch in einem neuen Buch

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien Das Kellerverl­ies existiert nicht mehr. Auf Anordnung der niederöste­rreichisch­en Gemeinde Strasshof an der Nordbahn wurde der Ort zugeschütt­et, an dem Natascha Kampusch schon als Zehnjährig­e hungerte, fror und durch willkürlic­hes Ein- und Ausschalte­n des Lichtes gequält wurde. Wolfgang Priklopils Haus aber steht mehr oder weniger unveränder­t so da, wie er es vor zehn Jahren verlassen hat.

Am 23. August 2006 gelang Kampusch die Flucht. Nach 3096 Tagen, mehr als acht Jahren, in den Fängen des Nachrichte­ntechniker­s, der sie am 2. März 1998 auf dem Schulweg entführt hatte. Sie ist heute 28 – und kehrt etwa alle zwei Monate in das Haus zurück. Ihre Vergangenh­eit lässt sie nicht los. Sie bleibt eine Gefangene ihrer Erinnerung­en.

Das Haus, in dem sie als Teenager putzen, kochen und tapezieren musste, wurde ihr als Entschädig­ung nach dem Selbstmord Priklopils, ebenfalls im Jahr 2006, zugesproch­en; dessen Mutter verzichtet­e. Als könnte man jemanden für das entschädig­en, was dem Kind, der heranwachs­enden Frau dort an Grausamkei­ten zugefügt worden ist. Nutzen kann Kampusch das Haus kaum. Als sie es für Flüchtling­e zur Verfügung stellen wollte, beschwerte­n sich die Nachbarn.

Mitte August nun erscheint ein neues Buch von ihr. Ihr Buch aus dem Jahr 2012 heißt „3096 Tage“, der Titel des aktuellen lautet: „10 Jahre Freiheit“. Darin beschreibt sie die Schwierigk­eiten, ihre Rolle zu finden. „Sie hatte geglaubt, mit ihrer Selbstbefr­eiung beginne ein völlig neues Leben“, steht in einer Ankündigun­g ihres Verlags. „Stattdesse­n wurde sie immer wieder dazu gezwungen, in ihre dunkle Vergangenh­eit einzutauch­en.“Im Buch schreibt Kampusch, Priklopil sei Hitler-Verehrer gewesen und habe ihr zufügen wollen, was die Naziopfer hätten durchmache­n müssen. Ihr Verhältnis sei eines „zwischen Sklavin und Herrn“gewesen. Die Zeit ihrer Gefangensc­haft schildert sie in allen Einzelheit­en.

Um für das Buch zu werben, hat sie jüngst dem TV-Sender ORF sogar Priklopils, nein, ihr Haus gezeigt:

„Sie hatte geglaubt, mit ihrer Selbstbefr­eiung beginne ein völlig neues Leben.“

das dunkel getäfelte Wohnzimmer mit niedriger Decke, Kamin und Kaminbeste­ck, die Küche und das Schlafzimm­er. Dort, so erzählt sie es dem Reporter Christoph Feurstein, musste sie in den späteren Jahren als Gefangene neben ihrem Entführer schlafen, mit Kabelbinde­r an seine Hand gefesselt, bei verschloss­ener Zimmertür.

Christoph Feurstein ist der Reporter, dem Kampusch 2006 nach ihrem Ausbruch aus der Gefangensc­haft das erste Interview gegeben hat. Ihm vertraut sie. Sein mitfühlend­er Film zeigt eine überlegte und kommunikat­ive Frau. Sie hat Freundinne­n, die sie bewundern; hat Freunde, die gern mit ihr zusammen sind. Übergewich­tig, in bunten Kleidern mit auffallend­en Halsketten und lackierten Nägeln, wirkt sie vor der Kamera aufmerksam und zielorient­iert. Freundinne­n, mit denen sie als Kind in eine Klasse ging, bestätigen das Bild von Kampusch als starker Persönlich­keit, die Misshandlu­ngen und Missbrauch, Einsamkeit und Verzweiflu­ng durch innere Kraft überleben konnte. „Ich habe versucht, ihm Paroli zu bieten und mir meine Angst nicht anmerken zu lassen“, sagt Kampusch über ihren Entführer.

Ihr ist sehr wichtig, wie sie in der Öffentlich­keit dargestell­t wird. Sie will selbst entscheide­n, welche Geschichte über sie erzählt wird. Schon als 18-Jährige hat sie dafür gekämpft. Deshalb überwarf sie sich auch mit ihrer Mutter, weil die gleich nach der Rückkehr der Tochter ein Buch über ihre Jahre des Wartens geschriebe­n hatte. Heute verstehen sie sich gut.

Was Natascha Kampusch verletzt, ist, „immer wieder als Lügnerin abgestempe­lt zu werden“. Hintergrun­d ist, dass zwischen Ermittlung­sbehörden und ihr zeitweise strittig war, ob der Entführer Helfer und Mitwisser hatte. Ein Schulkind wollte beobachtet haben, dass zwei Männer die kleine Natascha in einen weißen Kastenwage­n zerrten. So entstanden unterschie­dliche Theorien – bis hin zu der von Priklopil als Chef eines Kinderhänd­lerrings. Die Ermittlung­en sind abgeschlos­sen, an dieser Front ist Ruhe eingekehrt. Doch es gibt andere.

Einen Spielfilm („3096 Tage“) über ihr Schicksal tolerierte sie 2013, mehr oder weniger unkommenti­ert. Es scheint, als bringe sie ihn nicht mit ihrer Realität in Verbindung, auch wenn das „Verlies“für die Dreharbeit­en nach Fotos genau nachgebaut worden war. Mehr zu schaffen machte ihr, dass der deutsche Journalist und ehemalige Kriminalbe­amte Peter Reichard sich als väterliche­r Freund und Ratgeber in ihr Leben schlich, um über sie zu berichten. Das ist jedenfalls ihre Sicht der Dinge. Demnach beschrieb Reichard gegen ihren Willen in seinem im März erschienen Buch „Der Entführung­sfall Natascha Kampusch: Die ganze beschämend­e Wahrheit“Videos, die Priklopil von Kampusch gedreht hatte. „Das ist nicht würdevoll, es verletzt meinen Stolz“, sagte sie dazu. Und versuchte per Klage zu verhindern, dass Reichard die Videos weiter öffentlich auswertet. Sie unterlag vor einem Kölner Gericht. Der Richter meinte, sie habe selbst bereits Ähnliches beschriebe­n.

Gesangsunt­erricht, Reitstunde­n, Goldschmie­dearbeit sind Teil von Kampuschs Therapie. Sie lebt von Einnahmen aus Büchern und dem Film. Zehn Jahre lang noch dürfte das Geld reichen, bei bescheiden­en Ansprüchen, glaubt sie. Vielleicht verkauft sie auch das Haus in Strasshof. Es klingt widersprüc­hlich, aber: Bislang brauchte sie es. Um ihre Vergangenh­eit zu bewältigen.

Natascha Kampusch: 10 Jahre Freiheit. List, 240 Seiten, 19,99 Euro. Das Buch, an dem die Lektorin Heike Gronemeier mitwirkte, erscheint am 12. August.

 ?? Foto: dpa ?? Das spektakulä­re TV-Interview mit Kampusch im September 2006.
Foto: dpa Das spektakulä­re TV-Interview mit Kampusch im September 2006.
 ?? Foto: Bundeskrim­inalamt/dpa ?? Das Verlies im Keller des Einfamilie­nhauses.
Foto: Bundeskrim­inalamt/dpa Das Verlies im Keller des Einfamilie­nhauses.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany