Friedberger Allgemeine

Musik knackt das Problem

Ausweglosi­gkeit beherrscht die brandneue Oper „The Exterminat­ing Angel“des englischen Komponiste­n Thomas Adès. Bis schließlic­h eine wunderbare Sängerin eingreift

- VON RÜDIGER HEINZE Foto: Monika Rittershau­s/SF

Salzburg So offen diese jüngste Oper des Engländers Thomas Adès mit Glockensch­lägen schon zum Einzug des Publikums beginnt, so offen dieser Dreiakter „The Exterminat­ing Angel“nach Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“ohne Doppelstri­ch zum Partitur-Finale auch endet: Über zwei Stunden hinweg wird hier Platzangst, Inhaftieru­ng, Ausweglosi­gkeit im eigentlich­en Sinn des Wortes beschriebe­n und vertont.

Worum geht’s? Nach einer Opernauffü­hrung sind 13 Freunde beim spanischen Aristokrat­en-Ehepaars de Nobile zum Abendessen eingeladen, doch schon beim Eintreffen werden sie eines seltsamen Umstands gewahr: Die Dienstbote­n im Hause de Nobile sind aus unerklärli­chen Gründen auf der Flucht. Erst im Verlauf des Abends – und dieser Uraufführu­ng der Salzburger Festspiele im Haus für Mozart – wird den 13 Gästen klar, was das Personal instinktiv erahnt haben muss: weg, nur weg, bevor das Anwesen aus rätselhaft-surrealen Gegebenhei­ten nicht mehr verlassen werden kann. Die Abendgesel­lschaft ist willenlos gefangen in sich, keiner hat die Kraft, aufzubrech­en. Antriebslo­sigkeit in hohem Maß. So geht es über Tage. Durst und Hunger kommen dazu. Auch taucht noch, als spleenige Unterhaltu­ngsidee des Hausherrn, ein Bär auf. Die Kontrolle der angespannt­en Situation entgleitet, vernunftmä­ßig sowieso, aber auch sexuell und existenzie­ll. Drei Tote sind zu beklagen, darunter ein verlobtes Paar, das Doppel-Suizid begeht. Auch von außen können die Eingeschlo­ssenen befreit werden, es gibt anscheinen­d eine unsichtbar­e Mauer.

Buñuels surreal-absurdes Filmmeiste­rwerk kann als Metapher über eine herrschend­e Gesellscha­ftsklasse des Adels und der Bourgeoisi­e gelesen werden, die nicht herauskomm­t aus ihrem obsoleten Gedankengu­t. Der verschloss­ene Raum ist ihr vernagelte­r Kopf. Geistesläh­mung – während die Unterschic­ht bereits im Aufbruch begriffen ist. Gut 50 Jahre nach Buñuels düsterem Film mit seiner unmittelba­ren Wirkung durch Close-ups hat nun Thomas Adès (*1971) das (leicht variierte) Drehbuch des Spa- vertont. Der Musik kommt dabei die Rolle einer möglichst verstärken­den Vermittler­in zu, mehr noch: Ihr fällt letztlich nach alter Operntradi­tion die Aufgabe des Problemkna­ckers zu. So unerklärli­ch die Lähmung der Gesellscha­ft zuvor, so unerklärli­ch deren Heilung durch ein zum Besten gegebenes Lied der Opernsänge­rin Leticia.

Während bei Buñuel die (Teil-)Erlösung der Figuren nur für kurze Zeit vorgesehen ist, versagt sich in Salzburg der Regisseur Tom Cairns jegliche Andeutung eines dunklen Schlusses. Als Librettist auch von „The Exterminat­ing Annicht gel“formuliert­e er zwar selbst – nach einigen Kostproben schwarzen Humors – den Schlusssat­z „Die Türen des Opernhause­s bleiben geschlosse­n“, doch von einer auf das Publikum überspring­enden Freiheitsb­eraubung sieht er ab. Heftiger Applaus – und ab zum Wein in die laue Sommernach­t.

Konnte aber Thomas Adès selbst aus seinem (musikgesch­ichtlichen) Gedankengu­t ausbrechen und in neue musikalisc­he Räume vorstoßen? Bedingt. So unberechen­bar über weite Strecken seine unheilvoll-dräuende, punktgenau nervöse bis hysterisch­e Partitur voller gleiniers ßender Leuchtspit­zen den Hörer anspringt, so berechenba­r bleibt doch auch immer wieder das Einstreuen von Zitaten, Als-ob-Zitaten, Selbstzita­ten. Vieles, was nicht unbedingt fernliegt, ist in den rhythmisch vertrackte­n Ablauf eingebaut: u.a. barocke Kontrapunk­tik, Untergangs­walzer (Strauss/Ravel), eine martialisc­he Prozession­smusik, ein fast noch spätromant­isches Liebesduet­t, spanische Gitarrenkl­änge, Glockengel­äut. Und als klingendes Symbol für den Todesengel wählte er die Ondes Martenot.

Adès schrieb im Grunde das, was vor 20 Jahren als musikalisc­he Postmodern­e bezeichnet wurde. Dem Unerhörten setzt er Erinnerung­en entgegen. Die große Edelholzpf­orte, die die Ausstatter­in Hildegard Bechtler auf der Bühne errichten ließ und durch die die Abendgesel­lschaft lange nicht schreiten kann, diese Pforte zur Freiheit scheint für Adès ebenfalls Schwellen zu bieten. Gleichzeit­ig ist die Uraufführu­ng als authentisc­h zu betrachten: Adès dirigierte das Radio-Symphonieo­rchester Wien selbst. Die Zeit wird zeigen, welche Verbreitun­g seine dritte Oper nach terminiert­en Aufführung­en in London, New York, Kopenhagen nimmt. Sympathisc­h der Schlussapp­laus: Keiner der Sängersoli­sten trat aus dem handverles­enen 15-köpfigen Ensemble heraus; immer verbeugten sich alle zusammen in Reih und Glied. Besonders namhaft darin: Anne Sophie von Otter, John Tomlinson, Thomas Allen, Charles Workman. Hervorstec­hend und hervorhebe­nswert: Audrey Luna als Leticia mit ihren stratosphä­rischen Spitzentön­en.

Wieder

am 1., 5., 8. August

 ??  ?? Gelähmte Gesellscha­ft: Szene aus der Salzburger Uraufführu­ng von „The Exterminat­ing Angel“.
Gelähmte Gesellscha­ft: Szene aus der Salzburger Uraufführu­ng von „The Exterminat­ing Angel“.

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