Musik knackt das Problem
Ausweglosigkeit beherrscht die brandneue Oper „The Exterminating Angel“des englischen Komponisten Thomas Adès. Bis schließlich eine wunderbare Sängerin eingreift
Salzburg So offen diese jüngste Oper des Engländers Thomas Adès mit Glockenschlägen schon zum Einzug des Publikums beginnt, so offen dieser Dreiakter „The Exterminating Angel“nach Luis Buñuels Film „Der Würgeengel“ohne Doppelstrich zum Partitur-Finale auch endet: Über zwei Stunden hinweg wird hier Platzangst, Inhaftierung, Ausweglosigkeit im eigentlichen Sinn des Wortes beschrieben und vertont.
Worum geht’s? Nach einer Opernaufführung sind 13 Freunde beim spanischen Aristokraten-Ehepaars de Nobile zum Abendessen eingeladen, doch schon beim Eintreffen werden sie eines seltsamen Umstands gewahr: Die Dienstboten im Hause de Nobile sind aus unerklärlichen Gründen auf der Flucht. Erst im Verlauf des Abends – und dieser Uraufführung der Salzburger Festspiele im Haus für Mozart – wird den 13 Gästen klar, was das Personal instinktiv erahnt haben muss: weg, nur weg, bevor das Anwesen aus rätselhaft-surrealen Gegebenheiten nicht mehr verlassen werden kann. Die Abendgesellschaft ist willenlos gefangen in sich, keiner hat die Kraft, aufzubrechen. Antriebslosigkeit in hohem Maß. So geht es über Tage. Durst und Hunger kommen dazu. Auch taucht noch, als spleenige Unterhaltungsidee des Hausherrn, ein Bär auf. Die Kontrolle der angespannten Situation entgleitet, vernunftmäßig sowieso, aber auch sexuell und existenziell. Drei Tote sind zu beklagen, darunter ein verlobtes Paar, das Doppel-Suizid begeht. Auch von außen können die Eingeschlossenen befreit werden, es gibt anscheinend eine unsichtbare Mauer.
Buñuels surreal-absurdes Filmmeisterwerk kann als Metapher über eine herrschende Gesellschaftsklasse des Adels und der Bourgeoisie gelesen werden, die nicht herauskommt aus ihrem obsoleten Gedankengut. Der verschlossene Raum ist ihr vernagelter Kopf. Geisteslähmung – während die Unterschicht bereits im Aufbruch begriffen ist. Gut 50 Jahre nach Buñuels düsterem Film mit seiner unmittelbaren Wirkung durch Close-ups hat nun Thomas Adès (*1971) das (leicht variierte) Drehbuch des Spa- vertont. Der Musik kommt dabei die Rolle einer möglichst verstärkenden Vermittlerin zu, mehr noch: Ihr fällt letztlich nach alter Operntradition die Aufgabe des Problemknackers zu. So unerklärlich die Lähmung der Gesellschaft zuvor, so unerklärlich deren Heilung durch ein zum Besten gegebenes Lied der Opernsängerin Leticia.
Während bei Buñuel die (Teil-)Erlösung der Figuren nur für kurze Zeit vorgesehen ist, versagt sich in Salzburg der Regisseur Tom Cairns jegliche Andeutung eines dunklen Schlusses. Als Librettist auch von „The Exterminating Annicht gel“formulierte er zwar selbst – nach einigen Kostproben schwarzen Humors – den Schlusssatz „Die Türen des Opernhauses bleiben geschlossen“, doch von einer auf das Publikum überspringenden Freiheitsberaubung sieht er ab. Heftiger Applaus – und ab zum Wein in die laue Sommernacht.
Konnte aber Thomas Adès selbst aus seinem (musikgeschichtlichen) Gedankengut ausbrechen und in neue musikalische Räume vorstoßen? Bedingt. So unberechenbar über weite Strecken seine unheilvoll-dräuende, punktgenau nervöse bis hysterische Partitur voller gleiniers ßender Leuchtspitzen den Hörer anspringt, so berechenbar bleibt doch auch immer wieder das Einstreuen von Zitaten, Als-ob-Zitaten, Selbstzitaten. Vieles, was nicht unbedingt fernliegt, ist in den rhythmisch vertrackten Ablauf eingebaut: u.a. barocke Kontrapunktik, Untergangswalzer (Strauss/Ravel), eine martialische Prozessionsmusik, ein fast noch spätromantisches Liebesduett, spanische Gitarrenklänge, Glockengeläut. Und als klingendes Symbol für den Todesengel wählte er die Ondes Martenot.
Adès schrieb im Grunde das, was vor 20 Jahren als musikalische Postmoderne bezeichnet wurde. Dem Unerhörten setzt er Erinnerungen entgegen. Die große Edelholzpforte, die die Ausstatterin Hildegard Bechtler auf der Bühne errichten ließ und durch die die Abendgesellschaft lange nicht schreiten kann, diese Pforte zur Freiheit scheint für Adès ebenfalls Schwellen zu bieten. Gleichzeitig ist die Uraufführung als authentisch zu betrachten: Adès dirigierte das Radio-Symphonieorchester Wien selbst. Die Zeit wird zeigen, welche Verbreitung seine dritte Oper nach terminierten Aufführungen in London, New York, Kopenhagen nimmt. Sympathisch der Schlussapplaus: Keiner der Sängersolisten trat aus dem handverlesenen 15-köpfigen Ensemble heraus; immer verbeugten sich alle zusammen in Reih und Glied. Besonders namhaft darin: Anne Sophie von Otter, John Tomlinson, Thomas Allen, Charles Workman. Hervorstechend und hervorhebenswert: Audrey Luna als Leticia mit ihren stratosphärischen Spitzentönen.
Wieder
am 1., 5., 8. August