Das berühmteste Tor, das keines war
Vor 50 Jahren standen sich Deutschland und England im Londoner Wembley-Stadion gegenüber, als Geoff Hurst den Ball an die Unterseite der Torlatte schoss. Von dort sprang er ... darüber diskutiert die Welt noch heute
London 30. Juli 1966. Die 101. Minute im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft in England. 97 000 Zuschauer. Nachspielzeit. Im Londoner Wembley-Stadion steht es 2:2 zwischen dem Gastgeber und der deutschen Mannschaft. Nachspielzeit. Es folgt die umstrittenste Szene der Fußball-Geschichte. Englands Stürmer Geoffrey Hurst schießt den Ball aus der Drehung heraus auf das deutsche Tor. Hurst ist knappe acht Meter vom Ziel entfernt. Willi Schulz kann den Schuss nicht mehr abblocken. Am Boden liegend verfolgen Schulz und Hurst die Flugbahn des Balls.
Derweil reißt der deutsche Schlussmann Hans Tilkowski die Arme hoch. Er berührt den Ball mit den Fingerspitzen. Zu wenig, um die Situation klar zu entscheiden. Der Ball knallt an die Unterseite der damals noch vierkantigen Querlatte. Von dort springt er ... ja, wohin? Auf, vor oder hinter die Torlinie? Alle schauen auf Schiedsrichter Gottfried Dienst aus Basel, der aber leider auch nichts gesehen hat. Der Schweizer läuft zum Linienrichter. Tofiq Bahramov, Aserbaidschaner aus der Sowjetunion. Die beiden besprechen sich kurz. In welcher Sprache, weiß niemand. Uwe Seeler, der deutsche Mittelstürmer: „Der Russe sprach kein Wort Englisch oder Deutsch, und Dienst kannte keine russische Vokabel.“Trotzdem fällt eine Entscheidung. Bahramov will den Ball hinter der Linie gesehen haben – Tor also. In seinen Memoiren schrieb der Linienrichter, er sei sicher gewesen, dass der Ball im Tor war, weil er das Netz berührt habe. Das aber stimmt nachweislich nicht, auch wenn der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke Bahramovs Sicht teilte: „Es war ein Tor. Ich habe es genau gesehen. Ich habe genau gesehen, wie der Ball im Netz zappelte.“Die Proteste der deutschen Spieler fielen, verglichen mit zeitgenössischer Rudelbildung und vergleichbaren Fällen, harmlos aus. Es blieb dabei. England führte 3:2.
50 Jahre später wird Geoff Hurst noch immer die Frage gestellt. War der Ball vor oder hinter der Linie? Überraschenderweise variiert seine Antwort. Das könnte erstens daran liegen, dass er sich nicht selbst langweilen möchte. Oder aber er will eben das seinem Publikum ersparen. Der Grund könnte jedoch auch sein, dass er für ein Interview eine Summe im Bereich von 4000 Pfund (ca 4700 Euro) verlangt. Immerhin sei er „extremely busy“, wie sein Management auf Anfrage schreibt. Wer will für dieses Geld schon immer dieselbe Geschichte hören? Manchmal, wenn auch selten und eher in früheren Jahren, zeigte sich der Fußballer nicht ganz sicher. Zuletzt aber war keine Spur von Zweifeln erkennbar: Der Ball war drin, verlautbarte er diese Woche in englischen Medien.
So schafft es der heute 74-Jährige seit fünf Jahrzehnten regelmäßig in die Schlagzeilen. Schließlich geht es um das wohl berühmteste Tor der Fußball-Geschichte, das die Träume von Helmut Haller, Hans Tilkowski, Franz Beckenbauer, Siggi Held, Uwe Seeler und Co. platzen ließ. Aus deutscher Sicht war es natürlich kein Tor. Im Mutterland des Fußballs wurde es jahrzehntelang zwar heiß diskutiert, aber wer will schon den letzten großen Titel der Three Lions infrage stellen? Erst im Januar will der TV-Sender Sky mit einer besonderen Technologie bewiesen haben, dass der Ball die Linie überschritten hat. Die Deutschen können sich nie wieder beklagen, sagte daraufhin der Sky-Experte und Ex-Kicker Jamie Carragher. Das war nicht mal knapp. Zugegeben, auf den Sky-Bildern sieht es tatsächlich aus, als wäre der Ball nicht „meilenweit“hinter der Linie, wie Hursts Ehefrau meinte, aber doch deutlich. Andere Untersuchungen, wissenschaftlich fundierte Untersuchungen, ergaben das genaue Gegenteil. In den 1990er Jahren war eine von der Universität Oxford erarbeitete Studie zu dem Schluss gekommen, der Ball sei nicht im Tor gewesen. Auch andere Studien zeigten anhand von Fotos und Filmaufnahmen, dass der Ball auf der Torlinie aufsprang, da man hochgeschleuderten Kalk der Torlinie sehen kann. Eine Aufbereitung eines 35-mm-Films, der während des Spiels 1966 aufgenommen wurde, zeigt zweifelsfrei, dass der Ball weder während des Auftreffens an die Latte noch während seiner Flugphase vollständig die Torlinie überschritten hat. Die Kamera, die diese Bilder aufgenommen hatte, befand sich fast auf Höhe der Torauslinie, sodass zu erkennen ist, dass der Ball den kürzesten Weg zwischen Torlatte und Linie genommen hatte und auf dieser aufsprang.
Das Wembley-Tor war aber nicht die einzige außergewöhnliche Geschichte um dieses bislang letzte WM-Finale mit englischer Beteiligung. Dass der WM-Pokal im Vorfeld des Turniers aus Westminster gestohlen und von Mischlingshund Pickles wiedergefunden, ausgebuddelt und zurückgebracht wurde, ist eine weitere Anekdote. „Wir haben World Cup verloren, bevor wir überhaupt angefangen haben zu spielen“, erinnert sich ein ehemaliger Spieler mit britischer Humorigkeit.
Bei alledem ging unter, dass auch das vierte Tor der Engländer zum 4:2-Endstand irregulär war. Während Geoff Hurst, verfolgt von Wolfgang Overath, auf das deutsche Tor zusprintet, tauchen plötzlich Zuschauer am Spielfeldrand auf. „Da sind einige Leute auf dem Platz“, ruft der englische Kommentator Kenneth Wolstenholme in sein Mikrofon. Dann die berühmten Worte, die auf der Insel Kultstatus haben: „They think it’s all over ... It is now.“Der Ball landet im Netz, das Spiel wird abgepfiffen und England steht an der Spitze des weltweiten Fußballs.
Kurioserweise beschwert sich keiner der deutschen Kicker über den irregulä- ren Treffer und auch im britischen Fernsehen wird galant übergangen, dass das Tor niemals hätte zählen dürfen. Obwohl der Reporter Sekunden zuvor noch festgestellt hat, dass sich Fans auf dem Platz befinden. Im Nachhinein ist es stets das Wembley-Nichttor, das für Furore sorgt – und ein Glücksfall für Sir Geoff Hurst darstellt, der deshalb sowohl geadelt wurde als auch vom Ruhm seiner drei Endspiel-Treffer leben kann. Ein Tor erzielte er bereits in den ersten 90 Spielminuten. Doch der Heldenstatus scheint zu verblassen. Erst kürzlich sollte sein Trikot mit der Rückennummer 10 beim Londoner Auktionshaus Sotheby’s einen neuen Besitzer finden. Vor 16 Jahren hatte es Hurst für rund 90000 Pfund (107 000 Euro) verkauft, weil den Weltmeister nach eigener Aussage die Sorge umtrieb, es könnte gestohlen werden. Die WM-Medaille hat er im Übrigen, wie fast alle seine Mannschaftskollegen, ebenfalls schon veräußert. Bei Sotheby’s hatte man erwartet, dass für das rote Stück Stoff zwischen 300 000 und 500000 Pfund (355000 bis 590000 Euro) geboten würde. Doch das Hurst’sche Heldenhemd erreichte nicht einmal den Mindestpreis – zur Schadenfreude der Deutschen.
Nicht alle deutschen Spieler hatten an diesem 30. Juli 1966 das Wembley-Stadion mit leeren Händen verlassen. Der Augsburger Helmut Haller hielt den Spielball noch unter dem Arm, als er auf der Ehrentribüne vor die englische Königin trat. Er gab ihn auch nicht mehr her, als er die Arena verließ. Haller, der 2012 gestorben ist, nahm den Ball mit nach Hause. Vor der EM 1996 in England erinnerten sich die Gastgeber plötzlich wieder des Balles, mit dem sie Weltmeister geworden waren. Sie wollten das rote Leder, das noch immer im Hause Haller lag, zurück. Die Boulevard-Zeitungen The Sun und der Daily Mirror ließen journalistische Emissäre ausschwärmen, die dann geschlosden sen in Hallers Neusässer Lieblingsrestaurant einfielen, wo ein heftiges Ringen und Feilschen stattfand. Am Ende flog die alte Kugel damals für angeblich 150000 Mark (heute ca. 75 000 Euro) in ihre Heimat zurück. Dort ruht der Ball in einer Glasvitrine. Geholfen hat er England nur einmal – im Finale 1966. Danach hat das Mutterland des Fußballs bei Welt- und Europameisterschaften meistens enttäuscht.