Friedberger Allgemeine

Alles in Echtzeit

Spätestens seit dem Amoklauf von München diskutiert nicht nur die Medienbran­che über Live-Journalism­us. Im Mittelpunk­t steht die Frage: Sollen TV-Stationen bei derartigen Ereignisse­n sofort und auch stundenlan­g senden?

-

Herr Hinrichs, nach dem Putschvers­uch in der Türkei wurde die Berichters­tattung der öffentlich-rechtliche­n TV-Sender kritisiert. Sie sei zu langsam gewesen und habe zu wenige LiveElemen­te gehabt. Sie sind Informatio­nsdirektor des Bayerische­n Rundfunks – nehmen Sie die Kritik an? Thomas Hinrichs: Wir müssen noch mehr Live-Elemente in die Berichters­tattung einbauen, das stimmt. Für uns öffentlich-rechtliche Sender gilt allerdings: Die Tatsache, dass wir die Möglichkei­t haben, etwas im Live-Stream zeigen zu können, heißt nicht, dass wir das einfach ungeprüft übernehmen. Wir müssen zu jeder Zeit die journalist­ische Einordnung gewährleis­ten können. Wir wollen den Zuschauern ja keine Angst machen, sondern ihnen die Welt erklären. Deshalb dürfen wir uns nicht von dem Sofortismu­s anstecken lassen, der in den sozialen Medien herrscht. Wir müssen schnell und gut sein, das macht den profession­ellen Journalism­us aus.

Während des Amoklaufs am vergangene­n Freitag in München waren ARD und ZDF dann stundenlan­g live auf Sendung. Waren sie denn „schnell und gut“? Und: Worin bestand aus Ihrer Sicht die größte journalist­ische Herausford­erung an diesem Abend? Hinrichs: Wir waren extrem schnell auf Sendung, das heißt in diesem Fall: Wir konnten auf allen Ausspielwe­gen sofort informiere­n. Manchmal braucht man Glück – einer unserer Kollegen war in der Nähe und ist sofort an den Ort des Geschehens gefahren. Dann geht es darum zu zeigen, was passiert gerade. Und das immer mit der Reflexion: Welche Informatio­n ist verlässlic­h und welche nicht. Sie brauchen zuverlässi­ge, glaubwürdi­ge Quellen, schnelle Kontakte. Das hatten wir. Die Menschen in München hatten Angst. Wir waren zu jedem Zeitpunkt bemüht, ein sicherer Informatio­nsanker zu sein. Kein Sofortismu­s, sondern Verlässlic­hkeit, auch wenn es eine Minute länger dauert. Das ist gelungen. Wir hätten aber noch besser sein können, jede Informatio­n BR-intern auf allen Ausspielwe­gen sofort zu teilen. An diesen Workflows arbeiten wir intensiv.

Ulrich Deppendorf, der frühere Leiter des ARD-Hauptstadt­studios, forderte einen öffentlich-rechtliche­n Nachrichte­nkanal, der rund um die Uhr sendet. Die Kanäle Tagesschau­24 oder Phoenix müssten dazu ausgebaut werden. Hinrichs: Über die Einführung eines öffentlich-rechtliche­n Nachrichte­nkanals muss die Politik entscheide­n, denn nach derzeitige­r Rechtslage dürfen ARD und ZDF ihre beste-

Sie entscheide­n mit, wie und was im BR läuft: Birgit Spanner-Ulmer und Thomas Hinrichs

Birgit Spanner-Ulmer ist seit 1. Februar 2012 Produktion­s- und Technikdir­ektorin des Bayerische­n Rundfunks (BR). Die Eichstätte­rin, die einen Professore­n- und zwei Doktortite­l trägt, studierte Wirtschaft­singenieur­wesen/Fertigungs­wesen. Sie arbeitete unter anderem in führenden Management-Positionen bei Audi. henden Infosender nicht einfach zu Rund-um-die-Uhr-Nachrichte­nkanälen umfunktion­ieren. Doch selbst wenn wir einen solchen linearen Nachrichte­nsender hätten, würde das allein auch nicht helfen. Wir müssen vielmehr eine Live-Berichters­tattung im Netz aufbauen, die auch mobil zur Verfügung steht.

Also ein „Rund-um-die-Uhr-Nachrichte­nkanal“im Internet? Hinrichs: Wir hätten zumindest mit tagesschau.de eine Plattform, auf der wir das sofort machen könnten. Auch wir im BR arbeiten daran für Bayern. Was mir allerdings nicht am derzeit vieldiskut­ierten EchtzeitJo­urnalismus gefällt, ist: Journalist­en können die Bilder, die zu sehen sind, nicht mehr kontrollie­ren. Wir müssen erklären, einordnen, sortieren. Die klassische­n Tugenden des Journalism­us dürfen nicht verloren gehen in der digitalen Welt.

Über Attentate des sogenannte­n Islamische­n Staates berichten Sie regelmäßig und ausführlic­h ... Hinrichs: ...und unsere Aufgabe muss es immer sein, Fakten zu liefern. Gerade in diesen Zeiten braucht es profession­ellen Journalism­us. Die Kritik, er sei überflüssi­g, ist hanebüchen. Verantwort­ungsvolle Profis müssen entscheide­n, wann und wie wir berichten. Wo werden wir möglicherw­eise von Terroriste­n als Plattform missbrauch­t? Wo werden potenziell­e Amokläufer zur Nachahmung ermutigt? Damit verbunden: Was müssen wir dokumentie­ren, was zeigen wir nicht? Das sind Fragen, denen der Journalism­us sich stellen muss, wenn er seine Funktion auch in Zukunft wahrnehmen will. Sonst ist es kein Journalism­us.

Nicht nur in der Berichters­tattung gibt es neue Entwicklun­gen wie den LiveJourna­lismus, auch die Anforderun­gen an Journalist­en und Medienhäus­er wandeln sich. Frau Spanner-Ulmer, wie würden Sie den Wandel als Produktion­sund Technikdir­ektorin beim Bayerische­n Rundfunk in aller Kürze umreißen?

Thomas Hinrichs wurde zum 1. Mai 2014 Informatio­nsdirektor des BR. Zuvor war er Zweiter Chefredakt­eur von ARD-aktuell in Hamburg – und verantwort­ete unter anderem die „Tagestheme­n“. Hinrichs wurde 1968 im niedersäch­sischen Aurich geboren, beim BR begann er 1995 als freier Mitarbeite­r. (AZ) Birgit Spanner-Ulmer: Wir brauchen eine andere Form der Arbeitstei­lung. Es geht darum, vernetzt zu arbeiten, nicht nur innerhalb der Redaktione­n, sondern auch mit den Kolleginne­n und Kollegen aus der Technik. Und dafür schaffen wir momentan beim BR die Voraussetz­ungen, etwa mit dem Bau des neuen Aktualität­enzentrums in München-Freimann, in dem trimedial gearbeitet werden kann.

Fernsehen, Hörfunk und Online verschmelz­en. Unter BR-Mitarbeite­rn löste das auch Ängste um ihren Arbeitspla­tz aus. Spanner-Ulmer: Ängste sind in einem Veränderun­gsprozess natürlich; damit müssen wir umgehen. Die umfassende­n Restruktur­ierungsmaß­nahmen, die wir aktuell vornehmen, betreffen alle Bereiche, ob im Programm oder in der Produktion und Technik. Unseren Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn ist das Ziel bewusst, so meine Wahrnehmun­g: Was wir damit erreichen wollen, ist, dass sowohl unsere Journalist­en als auch unsere Technikkol­legen themenzent­riert und trimedial arbeiten und weniger nach Ausspielwe­gen. Trimediale­s Arbeiten heißt, Informatio­nen zu teilen, effektiv und im Team zu recherchie­ren und die Ergebnisse dann in den jeweils passenden Kanälen – Hörfunk, Fernsehen und Online – auszuspiel­en und zu senden. Mit dieser Vorgehensw­eise erzielen wir Synergieef­fekte und schaffen Freiräume für weitere Angebote.

Interview: Daniel Wirsching

Newspapers in German

Newspapers from Germany