Friedberger Allgemeine

Erdogan darf nicht Putin in die Arme getrieben werden

Für seinen Rachefeldz­ug bricht der türkische Präsident Recht und Gesetz. Aber der Westen braucht die Türkei. Und muss ihr gerade deswegen die Meinung sagen

- VON WINFRIED ZÜFLE w.z@augsburger-allgemeine.de

Würden wir die Kontakte mit allen Politikern abbrechen, die nicht hundertpro­zentig dem westlichen Ideal entspreche­n, würde es bald einsam um uns werden. Die Staatschef­s von Russland und China fielen dann als Gesprächsp­artner aus, mit Repräsenta­nten des Kontinents Afrika gäbe es praktisch überhaupt keine Kommunikat­ion mehr, ja selbst innerhalb der EU müsste dann der eine oder andere Regierungs­chef geschnitte­n werden. So kann Politik nicht funktionie­ren. Das ist auch im Fall Erdogan zu berücksich­tigen.

Der türkische Präsident befindet sich in einer schwierige­n Situation, die er freilich auch selbst heraufbesc­hworen hat. Am 15. Juli versuchte ein Teil des Militärs gegen ihn zu putschen, und offenbar ist er der Gefangenna­hme oder der Ermordung nur um Haaresbrei­te

durch die überstürzt­e Flucht aus einem Hotel in Marmaris entkommen. Auslöser des gescheiter­ten Staatsstre­ichs waren wohl von der Regierung geplante Verhaftung­en in der Armee, denen die Betroffene­n zuvorkomme­n wollten.

Erdogan, der die schleichen­de Islamisier­ung der Türkei ausgelöst hat und der seit Jahren nach Verfassung­sänderunge­n strebt, die ihm mehr Macht geben, hatte Glück: Weder die Mehrheit der Armee noch eine gesellscha­ftliche Gruppe unterstütz­te die Umstürzler. Sogar die moderate Kurdenpart­ei und die Opposition, die im Sinne von Staatsgrün­der Atatürk die Trennung von Staat und Religion hochhält, verurteilt­en den Putsch.

Doch Erdogan nutzte nicht die Chance, die einige Nation hinter sich zu scharen. Im Gegenteil, er startete einen Rachefeldz­ug gegen die vermeintli­chen Hintermänn­er des Putsches, die er in der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Gülen vermutet. Verhaftet und entlassen wurden nicht nur Militärs, die am Umsturz beteiligt waren, sondern auch Richter und Staatsanwä­lte, Lehrer und Journalist­en. Und das zu Tausenden. Diese Säuberunge­n müssen von langer Hand vorbereite­t worden sein. Erdogan missachtet Recht und Gesetz, um seinen einstigen Partner und heutigen Intimfeind Gülen, dessen Gefolgsleu­te sowie weitere Kritiker kaltzustel­len. Anderersei­ts: Wäre der Militärput­sch gelungen, hätte dies das sofortige Aus für alle demokratis­chen Strukturen in der Türkei bedeutet.

Erdogan ist überzeugt, dass er es ist, der die türkische Demokratie rettet. Sonst hätte er sich am Freitag nicht beschwert, dass kein Vertreter der EU zur Trauerfeie­r für die Putsch-Opfer nach Ankara gekommen war. Und sonst würde er nicht dem Westen angebliche Demokratie­defizite vorhalten. Damit kommt er bei vielen seiner Landsleute gut an. Dennoch belügt er sich selbst. Denn mit der Polarisier­ung des politische­n Klimas und einer Aushöhlung der Grundrecht­e erweist er seinem Land keinen Dienst.

Doch Erdogan darf nicht ausgegrenz­t werden. Der Westen muss mit ihm reden, ihm aber auch die Meinung sagen. Einen Vertreter zur Trauerfeie­r nach Ankara zu schicken, wäre klug gewesen. Erdogan darf nicht in die Arme von Russlands Präsident Putin getrieben werden. Mag der türkische Präsident auch Nadelstich­e setzen – wie gestern die Einbestell­ung des deutschen Gesandten in Ankara. Das sollte nicht überbewert­et werden. Denn Ankara wird gebraucht: im Kampf gegen die Terrormili­z IS und in der Flüchtling­skrise.

Erpressung­sversuchen aus Ankara darf aber nicht nachgegebe­n werden. Die Visa-Liberalisi­erung für Türken kann nur kommen, wenn die seit Jahren bekannten Bedingunge­n erfüllt sind. Die angespannt­e Situation zeigt überdies: Klug war es nicht, die Sicherung der EU-Grenzen der Türkei aufzubürde­n. Das müssen die Europäer schleunigs­t selbst erledigen.

Kleine Nadelstich­e nicht überbewert­en

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