„Einsätze von neuer Qualität“
Sicherheit Trotz zunehmender Gefahr erhalten Notärzte und Sanitäter bisher keine spezielle Ausbildung. Hilfsorganisationen und Politik sehen nun Handlungsbedarf. Was sich ändern soll
Oettingen Der Auftritt erinnert an Wahlkampf. Energischer Tonfall, übertriebenes Betonen von Worten, wildes Gestikulieren. Theo Zellner gibt alles. Die knapp 100 Zuhörer auf Bierbänken vor ihm sind verstummt, wohl etwas erstaunt. Eigentlich soll der Mann im schwarzen Anzug nur eine Rede zur Einweihung einer neuen Rettungswache in Oettingen (Landkreis Donau-Ries) halten. Alltagsgeschäft für den Präsidenten des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK). Doch was ist zurzeit schon Alltag. „Es liegen ganz, ganz große Herausforderungen hinter uns“, sagt Zellner und muss ein Stück zurücktreten, um das notdürftig eingepegelte Mikrofon nicht zu überfordern.
Nur wenige Tage nach dem Amoklauf von München, den Anschlägen von Würzburg und Ansbach, steht Zellner in der neu gebauten Garage in Nordschwaben. Der Funktionär nutzt die Chance, will die Basis mitreißen. „Wir müssen dankbar sein, dass sich unsere Mitarbeiter ohne Zögern in gefährliche Situationen begeben haben“, sagt Zellner.
Er weiß, welche Bedeutung diese Aussage hat. Denn: Notärzte und Sanitäter sind nicht explizit auf Terrorund Amoklagen vorbereitet. Ihre Regelausbildung klammert diesen Bereich bislang aus. Das bestätigen neben dem BRK die Johanniter sowie die Malteser auf Anfrage.
Es geht vor allem um das sogenannte taktische Retten: Strukturiertes Vorgehen trotz akuter Gefahrenlage, sich selbst und die Opfer in Sicherheit bringen, Erste Hilfe leisten, auch wenn hinter der nächsten Ecke ein Bewaffneter lauert. Für Bundeswehr-Sanitäter ist eine solche Ausbildung Standard. Zivilen Rettungskräften fehlt dieser Teil – sofern sie ihn nicht im Rahmen einer Fortbildung absolviert haben. Das soll sich nun ändern. „Wir müssen unsere Kräfte auf eine völlig andere Gefahrenlage vorbereiten“, sagt Zellner. „Auf uns warten Einsätze von neuer Qualität.“
Eine fiktive Szene auf dem Oktoberfest: Ein Attentäter schießt in einem Zelt um sich, Sanitäter mittendrin. Die können nun kein mobiles Versorgungszelt aufbauen, wie es sonst bei einem Unfall mit vielen Opfern üblich ist. Stattdessen „Load and Go“, also die Verletzten aufladen und schnell weg aus der Gefahrenzone, erklärt Zellner.
Schon seit April beschäftigt das BRK eine Arbeitsgruppe. Sie soll die Ausbildung der Retter an die Terrorgefahr anpassen. Dabei geht es auch um Verletzungen, die in Deutschland bislang nicht an der Tagesordnung waren: durch Bomben abgetrennte Extremitäten, Verwundungen durch Schusswaffen. Laut Zellner soll die Gruppe bis September Ergebnisse präsentieren.
Im Gegensatz zum BRK sehen die Johanniter keine Veranlassung, ihre Rettungskräfte speziell fortzubilden. „Wir wollen uns nicht in polizeiliche Aufgaben einmischen“, teilt eine Sprecherin mit. Es drohe eine „Überforderung“der Helfer. Die Malteser halten sich nach eigenen Angaben an die Vorgaben des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Das verweist darauf, dass die Ausbildung der Rettungskräfte in der Regel Ländersache sei, bekräftigt Mitarbeiterin Beate Coellen. Dennoch mache man sich auch in der Behörde Gedanken über neue Ausbildungskonzepte. „Mit Bomben und Schusswaffen waren Ärzte und Sanitäter bislang selten konfrontiert“,
BRK hat erst aus den Medien vom Terroralarm erfahren
sagt Coellen. Man müsse in der Ausbildung deshalb „nachsteuern“, damit das medizinische Personal auf solche Extremsituationen vorbereitet ist.
Auch das Bayerische Innenministerium hat eine Arbeitsgruppe für den Rettungsdienst eingerichtet. Die beschäftigt sich mit dem „Handeln in Terrorlagen“sowie dem „Umgang mit neuen Verletzungsmustern“, erklärt Sprecher Stefan Frey. In der Expertengruppe seien unter anderem auch Vertreter von Leitstellen und Feuerwehr.
Die Kommunikation mit den anderen Notfallhelfern ist ebenfalls ausbaufähig, sagt BRK-Präsident Zellner in ruhigem Ton, mittlerweile vor der Garage stehend. „Die Rettungssanitäter müssen Teil des Systems werden. Das sind sie bisher nur bedingt.“Er erzählt vom Terroralarm in der Münchner Silvesternacht. „Davon hat das BRK erst aus den Medien erfahren.“»Kommentar