Stück der Stunde
Uraufführung Bei der Irseer Kunstnacht wurde ein Chorwerk aus der Taufe gehoben, dem ungewollt Brisanz zuwuchs
Irsee Mit dieser Brisanz hatten sie wohl nicht gerechnet. Nicht Jean Goldenbaum, als er 2008 die „Ökumenische Suite“komponierte, und nicht Philipp Amelung, als er das Werk letztes Jahr für die Chorklasse beim Schwäbischen Kunstsommer 2016 in Irsee auswählte. Nun feierte die Komposition mit dem Untertitel „Im Namen des Friedens, der Freiheit und der Toleranz“Weltpremiere. Ein beklemmender, aber auch befreiender Auftakt zur öffentlichen Kunstnacht, die die inzwischen 29. Sommerakademie der schönen Künste in der ehemaligen Benediktinerabtei bei Kaufbeuren abschloss.
Amelung, Universitätsmusikdirektor in Tübingen, fiel die „Ökumenische Suite“in die Hände, als der Flüchtlingsandrang hierzulande gerade seinen Höhepunkt erreichte. „Das war durchaus ein Grund für diese Entscheidung“, berichtet der Schüler und frühere Mitarbeiter von Bruno Weil. Durch die jüngsten Anschläge in Deutschland habe das Werk, das in fünf Sätzen wichtige Gebete der Weltreligionen modern vertont, freilich noch an Brisanz und Bedeutung gewonnen. „Ich wusste, da müssen wir nichts mehr verändern“, sagt Amelung, der nun eine Woche Zeit hatte, zusammen mit seinem Meisterkurs aus Profis und ambitionierten Laien die Uraufführung vorzubereiten. Dabei ging es trotz des Zeitdrucks und des herausfordernden Stoffs durchaus humorvoll zu. Dies wurde etwa bei einem abendlichen Werkstatt-Gespräch vor den Teilnehmern der weiteren neun Meisterkurse beim Kunstsommer deutlich, die parallel in den Bereichen Tanz, Lyrik, Prosa, Malerei, Druckgrafik, Bildgeschichten, Fotografie und Textilkunst arbeiteten.
Diese Heiterkeit in der Chorklasse passt auch zu Goldenbaums Intention. Schließlich stellen etliche Kompositionen des 1982 in Brasilien geborenen Musikwissenschaftlers, der nun in Hannover tätig ist, die Hoffnung auf das Gute im Menschen in den Mittelpunkt. Auch seine Neuvertonung des „Vater unser“, des jüdischen Gebets „Shema Israel“, der ersten Koran-Sure „AlFatiha“, des hinduistischen Mantras „Gayatri“und des buddhistischen Mantras „Om mani padme hum“ist musikalisch entsprechend angelegt.
Bei der Aufführung in der Irseer Klosterkirche arbeiteten Amelung und sein Meisterkurs die „ökumenische“Grundkonzeption der Sätze schön heraus. Jede Gebetsvertonung enthält unüberhörbar charakteristische musikalische Elemente der jeweiligen Weltregion, die Stücke münden aber immer in eine universelle, zeitgenössische Klangsprache mit Reibungen und Dissonanzen, aber auch mit durchaus harmonischer Eingängigkeit. Dazu kommt das ganz akustische Repertoire moderner Chormusik: So trommeln sich die Sänger bei Passagen des „Vater unser“auf die Brust, sie pfeifen, flüstern Rezitative, schnaufen gut vernehmlich, stampfen und verändern immer wieder ihre Position und Gruppierung im weitläufigen Kirchenraum. Dabei geht es nie um den reinen Effekt, sondern immer um den Bezug zur Musik und letztlich zur religiösen Textvorlage. Stimmig eingebettet war das zeitgenössische Werk in das „Jauchzet dem Herrn, alle Welt“von Felix Mendelssohn Bartholdy und „Lobet den Herrn, alle Heiden“von Johann Sebastian Bach.
Eine Uraufführung und auch ein Umfeld, das den in Irsee anwesenden Komponisten jüdischen Glaubens sichtlich beeindruckte: „Hier wurde eine engagierte Arbeit gemacht. Das erfüllte alles, was ich erwartete habe – die Musik, aber auch die Spiritualität.“Mann müsse eben Geduld haben, „bis alles zusammenpasst“, der Raum, die Ausführenden, der Komponist. So könne sein Appell zu Frieden und Toleranz vielleicht etwas fruchten – auch wenn gerade in diesen Tagen vieles dagegenspricht.