Diese Welt ist nicht genug
Was hat Pokémon Go mit den Beatles zu tun? Was der Politikverdruss von heute mit einem Drogenpapst von einst? Eine Reise ins bahnbrechende Jahr 1966 führt zu den Wurzeln unserer heutigen Wirklichkeit
Es war das Jahr, in dem gleich zwei der Musikalben erschienen, die bis heute für die besten und wichtigsten der Popgeschichte gelten: „Revolver“von den Beatles und „Pet Sounds“von den Beach Boys. Gleichzeitig hatten die Rolling Stones mit „Aftermath“ihren Durchbruch. Und spätere Legenden wie Pink Floyd, die Doors und Jimi Hendrix erregten erstmals Aufmerksamkeit. Es war das Jahr, in dem sich in den USA durch die Proteste gegen den eskalierenden Vietnam-Krieg die Hippie-Bewegung gründete – und dann auch in ersten, autonomen Seminaren in Berliner Universitäten die linke Studentenrevolte ihren Ausgang nahm – der Zündfunke für die 68er. Es war das Jahr, in dem Walt Disney starb, Mao seine verheerende „Kulturrevolution“begann und das Raumschiff Enterprise erstmals in unendliche Weiten startete, während sich im Weltraum das wirkliche Rennen der Supermächte zum Mond zuspitzte… Es war 1966.
Eine hübsche Kulturgeschichte voller Ikonen. Aber was soll das abseits aller Nostalgie mit uns heute noch zu tun haben?
Damals, vor 50 Jahren hat alles begonnen, anders zu werden. Nur zum Beispiel: Das, was aktuell so viele Menschen weltweit spielerisch mitreißt, dass der japanische Konzern Nintendo damit 13 Millionen Dollar umsetzt pro Tag, dieses „Pokémon Go“-Spiel – das hat seine ideellen Wurzeln direkt im Damals. Denn 1966 war das Jahr, in dem das, was heute als Verschmelzung der digitalen und der unmittelbaren Wirklichkeit „Augmented Reality“heißt, geboren wurde. Nicht umsonst sangen die Doors in ihrem legendären Debüt genau damals „Break on Through to the Other Side“. Jene andere Seite jedenfalls ist seitdem zu einem bestimmenden Element unseres Lebens geworden. Nur dachte man damals noch, sie würde nur im Bewusstsein liegen…
Auf einen Nenner gebracht lautet der Schlüssel von damals Lysergsäurediethylamid. Nach dem berühmt und berüchtigt gewordenen Kürzel hieß auch ein Chart-Erfolg der Band Pretty Things dieses Jahres: „LSD“. Denn 1966 fand die stark halluzinogene Substanz den Weg aus den psychiatrischen Forschungen des Albert Hofmann in die Popkultur, Spitzname „Acid“. Mit Autor Ken Kesey („Einer flog übers Kuckucks- seinem „Psychedelic Shop“in San Francisco und seinen „Acid Test“-Partys – auf Bus-Tour mit den Merry Pranksters und bei Shows mit den Greatful Dead.
Aber auch bei der Zusammenarbeit des Künstlers Andy Warhol mit den Musikern von Velvet Underground. Auf dem Beatles-Album „Revolver“sind mindestens die Songs „Lucy in the Sky with Diamonds“und „Tomorrow never Knows“unter LSD-Einfluss entstanden. Auch dass Ober-BeachBoy Brian Wilson ein leidenschaftlicher Konsument war, ist kein Geheimnis („LSD hat mein Hirn zermatscht“, meinte er rückblickend 2012). Wie die Rolling Stones wiederum, was den Herren Jagger und Richards 1967 eine Verhaftung einhandelte und bei einer im Raum ste- Verurteilung von bis zu zehn Jahren Haft wohl das Ende der da erst richtig Fahrt aufnehmenden Karriere bedeutet hätte. 1966 jedenfalls ließ auch der Zunder LSD die Rockmusik in alle Richtungen ausgreifen. Was dort an sinnenüberwältigenden „Happenings“aus Sound, Licht und Bildern geboren wurde, prägt bis heute die Spektakel der Unterhaltungsindustrie.
Freudige Konsumenten der Substanzen waren aber auch die Pioniere des digitalen Zeitalters im heutigen Silicon Valley, die ersten Ingenieure des Personal Computers, darunter der Erfinder der Maus, Dounest“), glas Engelbart – und in der Folge auch ein Mann namens Steve Jobs. Und als der vom Harvard-Professor zum Papst der LSD-Bewegung gewordene Timothy Leary einst aus dem Gefängnis kam, in das ihn seine Verherrlichung einer schnell als Droge verbotenen Substanz gebracht hatte, sollte er prophezeien: Die virtuelle Wirklichkeit, die durch die Computer erahnbar wurde, sie werde dereinst die tatsächliche Erweiterung der Welt bringen.
Rückt uns das alles damit nicht schlagartig näher? Im Zeitalter von Pokémon Go, da von Japan aus ein erster rein digitaler Popstar auf Welttournee geht, ein Hologramm namens Hatsune Miku, da durch Brillen die Rundum-Erfahrung der virtuellen Realität marktreif ist?
Wer das kulturhistorisch betrachhenden ten will, ist mit Frank Schäfers Buch „1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte“(Residenz-Verlag) bestens aufgehoben. Und wer sich für die Drogengeschichte interessiert, dem sei „Neues von der anderen Seite: Die Wiederentdeckung des Psychedelischen“empfohlen (Suhrkamp). Darin erzählen die Autoren Paul-Philipp Hanske und Benedikt Sarreiter, wie LSD heute gerade in den USA wieder im Sinn des Erfinders Albert Hofmann eingesetzt wird – zur Vorbereitung einer Therapie bei unzugänglichen Traumatisierten, kriegsgeschädigten Soldaten etwa.
Neben dem Pop, der klinischen Arbeit und der virtuellen Welt ist das Bahnbrechende von 1966 heute aber noch in ganz anderer Weise präsent – und als Umkehrung der Verhältnisse sogar brisant. Die Umwälzungen durch LSD und die politische Revolte jener Jahre haben zu einem Kulturbruch geführt, der sich in einem Gesellschaftskonflikt verfestigte: die alte, rechts-konservative Ordnung gegen die junge, linksliberale Freiheit. In Deutschland beschleunigt durch die 20 Jahre nach Kriegsende aufbrechende Diskussion um das Erbe der Nazizeit. Das Verwalten der Welt war nicht mehr genug – es begann, weit über die Kommunen hinaus, ein Aufbegehren gegen herrschende Eliten.
50 Jahre später hat den sich ausbreitenden Unmut über die heutigen Eliten der AfD-Sprecher Jörg Meuthen formuliert: mit einer Tirade gegen das „vom links-rotgrün versifften 68er-Deutschland“. Wenn er nun das Wiedererstarken einer national-konservativen Kraft verheißt, spricht er dann nicht genau für das, was viele Bürgerliche durch die Entwicklungen von 1966 gefährdet sahen: die alte Ordnung? Und spricht Trump in den USA nicht von genau demselben, gegen denselben Gegner, im Sinne desselben Unmuts? War die vor 50 Jahren begonnene Erweiterung der Welt also ein nach heutiger Einsicht zu korrigierender Irrtum? Taugt Freiheit bloß noch für Popspektakel und Spiele auf dem Smartphone?
Tatsächlich ist abzusehen, dass Pokémon Go eine Station auf der Erfüllung zu dem sein wird, was LSDPropheten vor 50 Jahren propagierten. Wenn erst jene Kontaktlinsen, an denen heute geforscht wird, marktreif sind, jene Kontaktlinsen, die im Sehen virtuelle mit wirklicher Welt verbinden – dann wird sich auch das Bewusstsein verändern.
Der erste digitale Popstar geht auf Welttournee