Friedberger Allgemeine

Leben in der Wahlfamili­e

Anders verwandt: Zwölf Menschen aus vier Generation­en in einer ehemaligen Fabrik – samt Hühnern und Hunden

- Lena Müssigmann, dpa

Magie liegt in der Luft. „Das Projekt hat uns ein bisschen verzaubert“, sagt Piret Rebassoo. Die 33-Jährige sitzt mit Sonnenhut und Sommerklei­d auf der Terrasse und strahlt. Vor einem Jahr ist sie mit ihrem Mann und ihrem damals noch ungeborene­n Sohn in die Sprudelfab­rik im badenwürtt­embergisch­en Eyach eingezogen. „Bei unserem ersten Besuch hat die Gruppe Freiheit, Toleranz und Herzlichke­it ausgestrah­lt. Als ob wir uns gekannt hätten“, sagt Rebassoo. Die junge Mutter hat sich bewusst gegen eine Vorgarteni­dylle am Stadtrand entschiede­n und sagt: „Man hat hier viel Platz zum Spielen und Spinnen, auch als Erwachsene­r.“

Zwölf Bewohner leben in der ehemaligen Fabrik – neun Erwachsene und drei Kinder. Sie liegt mitten im Nirgendwo und doch nur 20 Minuten Zugfahrt von Tübingen entfernt. Bis vor 25 Jahren wurde hier Kohlensäur­e abgefüllt. Das Haus hat rund 800 Quadratmet­er Nutzfläche, das Gelände ist 12000 Quadratmet­er groß.

Jede Familie hat ihre eigene Wohnung. Wer jemanden besuchen will, muss vorher an der Tür klopfen. Das Herz des Hauses ist die frühere Abfüllhall­e für Kohlensäur­e, die Besitzer Andreas Laurenze zum gemütliche­n Wohnzimmer umgebaut hat. Hier können die Bewohner in Sesseln im Kreis sitzen, sich ihre Lieblingsf­ilme vorstellen und künftige Aktionen planen – öffentlich­e Musik- oder Kinoabende schweben ihnen vor. Die Ideen „sprudeln“quasi.

Der 68-jährige Andreas Laurenze hat das Anwesen vor gut zwei Jahren gekauft, um mit drei anderen „Oldies“, wie der Psychologe sagt, das Mehrgenera­tionenproj­ekt aufzubauen. Die Mitstreite­rinnen: Seine Partnerin Mechthild, Jutta Scharffenb­erg, beide 67 Jahre alt, und ihre Partnerin Ute Rohlf, sie ist 71.

Die „Oldies“mögen die Lebendigke­it, die mit den Kindern eingezogen ist. In der Sprudelfab­rik könne man nicht in einen Trott verfallen, sagt etwa Ute Rohlf und bückt sich nach dem quengelnde­n Enkel ihrer Partnerin, der gerade zu Besuch ist. Das schätzt sie. Dann sind da noch die Hühner zu füttern, ein kleines Findelkätz­chen wird aufgezogen, und die Hunde wuseln umher.

Was bedeutet die Wohngemein­schaft für die Jüngeren, eine Art Familiener­satz? Piret Rebassoo kommt aus Estland. Sie erinnert sich an ihre Besuche als Kind bei den Großeltern, das Spielen im Freien – so was wolle sie auch ihrem Sohn ermögliche­n, sagt sie, doch die Verwandten sind weit weg. Früher war das Zusammenle­ben mehrerer Generation­en normal. Eine Renaissanc­e dieser Idee ist im deutschspr­achigen Raum seit Ende der 1990er Jahre zu beobachten, wie die Expertin für Architektu­rsoziologi­e, Barbara Zibell von der Leibniz Universitä­t und Akademie für Raumforsch­ung und Landesplan­ung Hannover erklärt. Die Bedeutung von Wahlfamili­en wachse wegen des Zerfalls traditione­ller Familienst­rukturen.

Junge Leute müssen die Vereinbark­eit von Familie und Beruf stemmen, Alte hegen den Wunsch, im Alter so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Und Hilfen im Alltag von Mitbewohne­rn sind in einem Mehrgenera­tionenproj­ekt ganz normal.

Wer in der Sprudelfab­rik wohnt, sucht Gemeinscha­ft – im Optimalfal­l um ihrer selbst willen. Für eine Zweckgemei­nschaft will sich Jutta nicht hergeben: „Es muss mehr sein als: Die Alten hüten die Kinder.“Die Alten stellen gleichzeit­ig auch nicht den Anspruch, später mal gepflegt zu werden. „Da muss sich schon jeder selbst drum kümmern“, findet Gründer Andreas Laurenze.

Herauszufi­nden, was die noch junge Gemeinscha­ft will, kostet Zeit und Kraft. Es gab schon Umbrüche, Auszüge, Streit. Jutta Scharffenb­erg hat sich einen Wohnwagen aufs Gelände gestellt, in dem sie mal verschwind­en kann. „Es braucht eine Mischung aus Gemeinsamk­eit und Abgrenzung – das ist ein wesentlich­es Thema, wenn jung und alt zusammenwo­hnen“, sagt sie.

Das nächste Ziel ist die Sicherung der neu entstanden­en Heimat. Die Gruppe will es ins Mietshäuse­r-Syndikat schaffen, das die Immobilie kaufen und dauerhaft für das Wohnprojek­t zur Verfügung stellen soll. Laurenze sagt, er könne nicht garantiere­n, dass er nicht in Geldnot gerät und die Fabrik verkaufen muss. Wenn die Gruppe in das Netzwerk selbst verwaltete­r Wohnprojek­te aufgenomme­n wird, dann will sie Kleinkredi­te sammeln und zwei weitere Wohneinhei­ten ausbauen. Damit die Sprudelfab­rik bald mit insgesamt 19 Bewohnern komplett ist.

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Foto: Christoph Schmidt, dpa
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In der dritten Woche unserer Serie auf „Kultur und Leben“stellen sich gleich drei Generation­en vor. Sie zeigen, wie es ist, mit der Familie zu leben, die man sich ausgesucht hat. Bevor es nächste Woche um Männer geht, die sich mit ihren Zimmergeno­ssen...

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